TMachtmissbrauch? „Einen schlimmen Fall habe ich bisher nicht erlebt“

Schauspielerin Linn Reusse. Foto: Julia Windischbauer
Theater und Schauspiel steckt ihr quasi in den Genen: Linn Reusse wurde erst vor kurzem als Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet, schon mit 14 stand sie in „Die Rote Zora“ vor der Kamera.
Hamburg. TAGEBLATT: Sie wurden kürzlich mit dem Ulrich-Wildgruber-Preis für Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen das?
Linn Reusse: Als der Anruf kam, dass ich den Preis erhalten würde, war ich völlig überrascht. Dank dieser Auszeichnung gehöre ich jetzt in eine Reihe von unheimlich tollen Kollegen, die diesen Preis bekommen haben. Zugleich ist der Schauspieler Ulrich Wildgruber für mich ein wichtiges Vorbild. Da ich erst 1992 geboren wurde, konnte ich ihn leider nie live auf der Bühne erleben. Aber ich habe mir viele Aufzeichnungen von Theaterinszenierungen mit ihm angeschaut.
Zu den Preisträgern gehören Sandra Hüller oder Caroline Peters, die beachtliche Karrieren hingelegt haben. Setzt Sie das unter Druck?
Eigentlich nicht. Ich denke eher: Mit diesen gestandenen Schauspielerinnen möchte ich mich nicht vergleichen. Natürlich hoffe ich, dass ich ähnliche Möglichkeiten bekomme und eine spannende Laufbahn vor mir habe.
Eine weitere Preisträgerin ist Lina Beckmann, mit der Sie gerade das Stück „Die Abweichlerin“ von Tove Ditlevsen proben. Wie ist Ihre Zusammenarbeit?
Ich bin begeistert von Lina. Als Zuschauerin kenne ich sie schon länger, ich fand sie von Anfang an beeindruckend. Und jetzt merke ich, dass sie als Kollegin mindestens genauso wunderbar ist. So wertschätzend, so geduldig, so humorvoll. Trotz ihres großen Arbeitspensums beansprucht sie keine Extrawürste, sondern ist auf der Probe immer konzentriert und engagiert dabei.
„Ich suche nach Brüchen“
Lina Beckmann spielt die Hauptrolle Lise. Wie würden Sie Ihre Figur Mille beschreiben?
Mille ist die Geliebte von Lises Noch-Ehemann. Sie wirkt ein bisschen verhuscht. Wie eine Frau, die im Leben nie so richtig zum Zug gekommen ist und sich deshalb nicht traut, aus sich herauszugehen. Innerhalb des Stücks gelangt sie aber an einen Punkt, an dem sie doch mal auf den Tisch haut. Auch wenn das kein hundertprozentiger Erfolg ist: Mille hat zumindest versucht, sich aufzulehnen.
Reizen Sie solche Charaktere mehr als diejenigen, bei denen alles rund läuft?
Selbst wenn jemand komplett, gesund und fröhlich zu sein scheint, suche ich nach Brüchen: Wo braucht diese Figur ihre Freiheit? Wo möchte sie Grenzen sprengen? Solchen Dingen nachzuspüren, ist mein automatischer Impuls.
Linn Reusse kommt aus einer Schauspieler-Familie
Vielleicht liegt das in Ihren Genen. War Ihr Weg vorgezeichnet, weil in Ihrer Familie fast alle Schauspieler sind?
Meine Angehörigen haben mir einen sehr realistischen Einblick in den Beruf gegeben. Neben den Höhen vermittelten sie mir auch die Tiefen. Deswegen habe ich mir genau überlegt, ob ich tatsächlich Schauspielerin werden wollte. Es gab eine Phase, in der ich über ein Medizinstudium nachgedacht habe. Doch immer, wenn ich auf der Bühne oder vor einer Kamera gestanden habe, spürte ich einfach diese Leidenschaft, das konnte ich nicht ausblenden. Darum habe ich dann an der Schauspielschule vorgesprochen.
Zuvor hatten Sie schon den Kinofilm „Die Rote Zora“ gedreht. Wie war es für Sie, mit 14 eine Hauptrolle zu bekommen?
Als die Casting-Einladung kam, wusste ich: Ich muss die Rote Zora spielen, das ist meine Figur. Dabei war ich selbst gar kein so extrovertiertes Mädchen. An der Roten Zora hat mir aber gefallen, dass sie oft mit Jungs unterwegs war. Ich habe mich nämlich auch wahnsinnig gut mit Jungs verstanden. Zudem hat mir ihr Gerechtigkeitssinn imponiert. Sie hat eine klare Überzeugung, was richtig und falsch ist. Wie andere sie finden, interessiert sie überhaupt nicht.
Wie waren Sie denn, wenn Sie nicht so wild wie die Rote Zora waren?
Ich hatte eine ganz enge Verbindung zu meiner Mama. In der Schule war ich eher nachdenklich. In den Pausen habe ich auf dem Schulhof lieber für mich Musik gehört. Als Außenseiterin habe ich mich aber nie empfunden, schließlich habe ich selbst entschieden, für mich zu sein. Und ich habe viel gebastelt und gemalt.
„Benachteiligung habe ich kam erlebt“
Nun malen Sie manchmal auf der Bühne. Was bedeutet Ihnen die Malerei?
Sie ist für mich ein ganz eigener künstlerischer Ausdruck. Mittlerweile habe ich ein Atelier und auch schon erste Bilder verkauft.
Haben Sie es als Künstlerin heute leichter als Tove Ditlevsen, die im Literaturbetrieb hart um Anerkennung kämpfen musste?
Frauen hatten es in den 60er und 70er Jahren sicher schwerer. Ich selbst hatte eigentlich immer sehr gute Bedingungen, Benachteiligung habe ich kaum erlebt. Im Moment sehe ich allerdings die Gefahr, dass man in alte Muster zurückrutschen könnte. Das bereitet mir manchmal Sorgen.
Hat die #MeToo-Bewegung grundsätzlich die Situation der Frauen verbessert?
Sie hat auf jeden Fall die Tür geöffnet, sich über Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe auszutauschen. Die Dinge werden nicht mehr so schnell abgetan, das finde ich sehr positiv.
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Wurden Sie als junge Schauspielerin am Theater mit Machtmissbrauch konfrontiert?
Ich hatte am Deutschen Theater zum Glück ein Umfeld, das eine große Sensibilität im Umgang damit hatte. Das hat mich als junge Schauspielerin geschützt. Machtmissbrauch äußert sich ja in sehr unterschiedlichen Formen und kann teilweise auch ganz subtil daherkommen. Ein so offener Ort wie das Theater, an dem man immer wieder neu definieren muss, wie man zusammenarbeitet, ist dafür sicher anfälliger. Es gibt Arbeitsweisen, bei denen ich manchmal Momente hatte, in denen ich mich fragte: War das jetzt okay? Aber einen schlimmen Fall von Machtmissbrauch habe ich zum Glück bisher nicht erlebt.
Anfangs haben Sie oft mit Männern gearbeitet. Kriegen Sie nun häufiger mal die Chance, mit Frauen zu kooperieren?
Am Deutschen Schauspielhaus habe ich mit Karin Beier eine Intendantin als Chefin. Und ich hatte in den zwei Jahren allein schon drei Produktionen mit einem fast ausschließlich weiblichen Ensemble. Mit Signa, Claudia Bauer, Katie Mitchell und jetzt Karin Henkel arbeite ich mit starken weiblichen Handschriften zusammen.
In Hamburg angekommen
Warum sind Sie 2023 ans Deutsche Schauspielhaus gegangen?
Weil ich eine Veränderung wollte. 2023 hat auch der Intendant Ulrich Khuon das Deutsche Theater verlassen, dadurch gab es viele Wechsel. Also habe ich mir gesagt: Das sehe ich jetzt als Chance und probiere etwas Neues. Obwohl Berlin meine Heimat ist, habe ich es genossen, mal in eine andere Stadt zu gehen.
Wie fühlen Sie sich als Berlinerin in Hamburg?
Für mich ist das kein so krasser Umbruch, weil ich immer noch in einer Großstadt bin. An Hamburg mag ich besonders das Maritime, das Wasser und den Hafen. Die Außenalster liegt quasi neben dem Theater, das ist toll.
Haben Sie Hamburg mittlerweile gut erkundet?
An einem Tag wie heute, an dem ich zwei Proben habe, schaffe ich es nicht noch, ins Miniaturwunderland oder in die Alsterschwimmhalle zu gehen. Trotzdem habe ich mittlerweile meine Lieblingsorte. Ich mag St. Pauli sehr oder das Schanzenviertel. Es erinnert mich an Berlin.
Auf dem Weg zur Arbeit begegnet Ihnen im Stadtteil St. Georg viel Elend von Drogensucht bis Obdachlosigkeit. Wie gehen Sie damit um?
Ich kann es nicht ausblenden, das ist auch gut so - auch wenn es unbequem ist. Im Theater-Kokon gibt es zwar roten Samt und goldene Lichter, trotzdem darf man das echte Leben nicht vergessen. Die Realität fordert, dass wir uns mit ihr beschäftigen und uns fragen: Wieso sind die Dinge so, wie sie sind? Warum geht es den Menschen gerade nicht gut? Und was können wir selbst tun, um die Situation zu verbessern?
Zur Person
Linn Reusse wurde am 23. September 1992 in Berlin geboren. Sie ist die Enkelin der Schauspieler Sigrid Göhler und Peter Reusse, ihr Onkel ist der Film- und Theaterschauspieler Sebastian Reusse. Sie war Mitglied der Jugendtheatergruppe des Maxim-Gorki-Theaters, mit 14 bekam sie die Hauptrolle in dem Film „Die Rote Zora“. Nach dem Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ gehörte sie zum Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin, seit 2023 ist sie am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Dort feiert „Die Abweichlerin“ am 1. März Premiere.
Neben der Schauspielerei hat Linn Reusse mit der Journalistin Maja Goertz den Mental-Health-Blog Semikolon. Sie singt und begleitet sich auf der Gitarre. Weil Reusse die Musikerin Cat Power bewundert, mag sie es, deren Songs zu covern.
Persönliches
Theater liebe ich ..., weil es von Menschen und Tieren erzählt.
Meine Traumrolle ist ... Hedda Gabler.
An der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Jossi Wieler schätze ich besonders ... seinen Humor, seine Geduld, seine Klugheit.
Einen Film zu drehen ... ist für mich ähnlich wie bei einem Theaterstück eine aufregende Reise.
Mit Jimi Blue Ochsenknecht bei den Nibelungenfestspielen in Worms aufzutreten ..., war für mich eine fröhlich-spaßige Erfahrung.
Lampenfieber ... habe ich immer erst fünf Minuten vor Beginn, nie früher.