TNS-Opfer in Fredenbeck: Getötete Kinder sind nicht mehr anonym

Die Tafel steht: Debbie Bülau mit Ernst-Wilhelm Cordes, Wolfgang Weh, Frank Bartels, Michael Quelle, Reiner Klintworth, Hans-Ulrich Schumacher und Frank Hoferichter am Gedenkort. Foto: Bisping
Auf dem Friedhof in Klein Fredenbeck steht neben dem Gedenkstein jetzt eine große Tafel. Sie erinnert an einige der jüngsten Opfer in Fredenbeck zu NS-Zeiten.
Fredenbeck. Der Erste, der an diesem Nachmittag das Aufstellen der Geschichts- und Erinnerungstafel auf dem Friedhof in Fredenbeck begleiten möchte, ist Wolfgang Weh. Der Grünen-Politiker hatte am 8. Mai zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges vor Schülerinnen und Schülern der Geestlandschule gesprochen (das TAGEBLATT berichtet). Gemeinsam hatten sie der Opfer der NS-Zeit gedacht. An einem Gedenkstein, für dessen Errichtung er sich fünf Jahre lang eingesetzt hatte.

Die Ziegelei in Klein Fredenbeck um 1935: In den Mannschaftsräumen mussten später Zwangsarbeiterinnen entbinden. Foto: privat
Weh resümiert: „Das war eine harte Zeit, mit Anfeindungen und Ähnlichem, das war nicht feierlich.“ Heute wird zur Vervollständigung und Ergänzung der Vornamen, die auf dem Gedenkstein zu lesen sind, ein große Tafel aufgestellt. „Sie erzählt auch die Geschichte des Steins“, erklärt Debbie Bülau. Die Heimatforscherin aus Kutenholz-Aspe setzt sich seit Langem für die Aufarbeitung und die Geschichte des Landkreises während der NS-Zeit ein.
Sie wurden schwanger - trotz ihrer prekären Lage
Circa 3500 überwiegend aus Polen oder der Sowjetunion verschleppte Zwangsarbeiterinnen mussten während des Krieges im Landkreis anpacken - auf Höfen, in Fabriken, Kleinbetrieben, Privathaushalten und in der Landwirtschaft. Trotz ihrer prekären Lebensumstände und der harten Arbeit wurden Zwangsarbeiterinnen schwanger. Die Tafel listet Namen und Daten der verschwiegenen Kinder des „fremdvölkischen Kinderheims“ in Fredenbeck auf.
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„Ihre Kinder waren in Deutschland unerwünscht“, steht auf der Tafel. Sie galten als minderwertig und schränkten die Arbeitsleistungen ihrer Mütter ein. Bis 1943 wurden schwangere Zwangsarbeiterinnen in der Regel in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Später wurden sie meist zur Abtreibung genötigt.

Die Gedenktafel wird von Reiner Klintworth (von links), Frank Bartels, Wolfgang Weh und Ernst-Wilhelm Cordes aufgestellt. Foto: Bisping
Nach der Geburt kamen die Kinder in eine „Ausländerkinderpflegestätte einfachster Art“. Im Landkreis Stade gab es vier solcher Heime: in Balje, Klein Fredenbeck, Jork-Borstel und Drochtersen-Nindorf. Ab August 1944 mussten Zwangsarbeiterinnen, die ihr Kind in Klein Fredenbeck bekamen, in den ehemaligen Mannschaftsräumen der Ziegelei Pickenpack entbinden und das Kind der Obhut der Einrichtung überlassen.
Die Kinder wurden schlecht ernährt und vernachlässigt
In der Regel starben die Kinder an Mangelernährung, bewusster Vernachlässigung. Wolfgang Weh hatte eine der Hebammen aus dieser Zeit kennengelernt. „Die Kinder bekamen schlechte Milch, es gab keine Hygiene“, sagt Weh. Nach ihrem Tod wurden sie am Randes des Fredenbecker Friedhofs vergraben.
Damals seien Gerüchte verbreitet worden, es habe sich bei den Müttern um „minderwertige Frauen“ gehandelt, berichtet Weh. Angeblich, so hieß es, seien sie froh darüber gewesen, die Kinder loszuwerden.

Ein kleiner Gedenkstein erinnert an die Schwester des Belgiers Jean Dupont. Foto: Bisping
Eines der Kinder war Maria Kocinbko, ein kleiner Stein neben dem großen Gedenkstein erinnert an das kaum zehn Tage alte Mädchen. An diesem Tag steckt eine frische Blume vor dem Stein. Wolfgang Weh vermutet, dass sie von ihrem Bruder Jean Dupont stammt. Der Belgier hatte unter anderem über Weh seine Schwester in Fredenbeck gefunden. Wie berichtet, besucht er seit 2014 ihr Grab und war erst kürzlich wieder da.
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Inzwischen sind die Helfer mit der großen Tafel auf dem Friedhof eingetroffen. Es sind der Stader Steinmetz Frank Bartels, Fredenbecks Bürgermeister Hans-Ulrich Schumacher, der Vorsitzende des Fredenbecker Friedhofsausschusses Ernst-Wilhelm Cordes (beide SPD) sowie Michael Quelle, Reiner Klintworth und Frank Hoferichter.
Frank Bartels sorgt mit einem Erdbohrer für zwei tiefe Löcher. Die Männer tragen die fertigverschraubte Tafel dorthin, die Ständer befestigen sie mit Schnellbeton in der Erde. Torsten Henneken aus der Kutenholzer Werbeschmiede hat die Tafel hergestellt. Wie auch alle anderen Gedenkorte wurde sie von einem anonymen Spender finanziert.
Blicke in die Geburtenregister sind wohl nicht gestattet
Die Texte für die Tafel hat Debbie Bülau zusammengestellt, unterstützt von Jan Effinger, dem Geschäftsführer des Vereins Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Die Namen hatten Michael Quelle und Dr. Heike Schlichting vom Landschaftsverband Stade zuvor recherchiert.
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„Wir konnten 22 Geburten nachweisen, 17 Namen stehen darauf“, sagt sie. Und Michael Quelle berichtet: „Ich wollte in den Geburtenregistern nachschauen.“ Einblick erhielt der Stader nicht: „Sie liegen beim Standesamt und sind auf 100 Jahre geschützt.“
Quelle weiß, dass damals mehr als 220 Schwangerschaftsabbrüche im Stader Krankenhaus vorgenommen wurden. Sämtliche Dokumente seien dort vorhanden. Er weiß auch, dass es einen Sondertopf für Entschädigungen gab. „Kaum ein Antrag ist eingegangen“, sagt er.
Jetzt organisiert das Team um Debbie Bülau den Umzug der Ausstellung „Erinnert Euch! Das sind wir - Opfer des Zweiten Weltkrieges in der Samtgemeinde Fredenbeck und ihre Geschichten“ nach Edinburgh, Schottland. Sie war zuvor im Schwedenspeicher zu sehen und wird am 11. November in an der Napier Universität in Edinburgh eröffnet.
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