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Kirchenskandal

TNach 15 Jahren: Missbrauchsvorwürfe erschüttern Buxtehuder St.-Petri-Gemeinde

Die St.-Petri-Kirche in Buxtehude. Nach dem zögerlichen Umgang mit alten Missbrauchsvorwürfen stehen das Pfarramt und die Superintendentur in der Kritik.

Die St.-Petri-Kirche in Buxtehude. Nach dem zögerlichen Umgang mit alten Missbrauchsvorwürfen stehen das Pfarramt und die Superintendentur in der Kritik. Foto: Wisser

Die St.- Petri-Gemeinde in Buxtehude wird von einem Skandal erschüttert. Die Vorwürfe lauten: psychische und körperliche Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Die Anschuldigungen von Betroffenen gehen gegen Personen, die Gruppen bei Jugendfreizeiten begleitet haben.

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Von Karsten Wisser
Freitag, 15.03.2024, 19:20 Uhr

Buxtehude. Ausgelöst hat die Affäre ein Nachruf auf ein Mitglied der St.-Petri-Gemeinde in Buxtehude. Darin wurde die Verstorbene für fast drei Jahrzehnte Jugendarbeit gelobt. Erschienen ist der Text im Gemeindebrief im Dezember. Die Reaktionen haben St. Petri in eine tiefe Krise gestürzt. Mehrere Personen erheben gegen die Verstorbene und eine weitere Person Vorwürfe, die nach bisherigen Erkenntnissen aus den Jahren von 2006 bis 2009 stammen. Es geht um kirchliche Jugendfreizeiten, vermeintliche Übergriffe und um harte Erziehungsmethoden. Dunkle Pädagogik wird das oft genannt. Darunter werden allgemein solche Erziehungsmethoden verstanden, die mit Strafen, Kontrolle, Gewalt, Demütigungen oder Einschüchterungen verbunden sind.

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden eingestellt

Sexuellen Missbrauch soll es bis auf einen Grenzfall nicht gegeben haben. Dieser befindet sich nach TAGEBLATT-Informationen zur Prüfung bei der Fachstelle der Landeskirche. Nach allem was bisher bekannt ist, spielt sich dieser Fall und auch die anderen Fälle einige Größenordnungen unter dem ab, was an Missbrauchsfällen im Zusammenhang mit Kirchen immer wieder deutschlandweit für Schlagzeilen sorgt. Das ändert aber natürlich nichts an der Betroffenheit Einzelner. Die Vorwürfe gegen die St.-Petri-Gemeinde wiegen schwer, sie sind aber unbewiesen und bis heute nie aufgearbeitet worden.

Eine Anzeige aus dem Jahr 2020 bei der Polizei in Zeven und die Ermittlung der Staatsanwaltschaft Stade führten zu einer Einstellung gemäß Paragraf 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung. Das heißt, die Staatsanwaltschaft kam nach Prüfung der Beweis- und Rechtslage zu dem Ergebnis, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinne einer überwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht besteht. Deshalb nennt das TAGEBLATT auch keine Namen der Opfer und der vermeintlichen Täterinnen.

Kirchen-Nachruf für eine langjährige Leiterin löst Proteste aus

Betroffene von damals haben sich auf den Nachruf gemeldet und die Vorwürfe, die die St.-Petri-Gemeinde seit 2009 kennt, wiederholt und diesmal auch öffentlich gemacht. Dazu gibt es ein schriftliches Protokoll von 2002, das dem TAGEBLATT vorliegt. Mit größtem Entsetzen habe sie im aktuellen Gemeindebrief den Nachruf gelesen, heißt es in einer E-Mail eines der vermeintlichen Opfer an die St.-Petri-Gemeinde. „Die Worte sind ein Hohn gegenüber all denjenigen, die - teils jahrelang - unter dem emotionalen Missbrauch und der psychischen und physischen Gewalt“ gelitten hätten.

„Ich berichte zuerst von einer zweiwöchigen Sommerferienfreizeit im Jahr 2006, ich war damals gerade sieben Jahre alt geworden“, schildert eine der Betroffenen das Geschehen aus ihrer Sicht. Heimweh sei auf allen Freizeiten ein verbotenes Wort gewesen. Als sie dennoch äußerte, Heimweh zu haben, hätten die verantwortlichen ehrenamtlichen Betreuerinnen erklärt, dass das Wort Heimweh bedeute, dass einem etwas wehtue. Und wenn einem etwas wehtue, müsse man ins Krankenhaus gebracht werden. Als sie daraufhin anfing zu weinen, sei sie grob am Oberarm gepackt und zum Gemeindebus gezerrt worden – mit der Androhung, sie ins Krankenhaus zu bringen. Solche Vorfälle habe es öfter gegeben.

Obwohl es kalt und dunkel ist: Jugendliche werden ausgesperrt

Eine weitere Schilderung der Frau: Auf einer zweiwöchigen Sommerferienfreizeit sei ein Teil der Gruppe - sie eingeschlossen - am Abend aus der Herberge ausgesperrt worden. „Es wurde dunkel, es war kalt, viele von uns bekamen Angst und fingen an zu weinen, wir wurden aber auch auf vielfaches Bitten hin nicht hereingelassen“, so die Schilderung. Eine Betreuerin, die schließlich versucht habe, die Gruppe durch einen Seiteneingang hereinzulassen, sei ins Bett geschickt worden. „Wieder ins Haus gelassen wurden wir erst, als einige von uns versuchten, bei der benachbarten Feuerwache um Hilfe zu bitten“, so die Betroffene.

Eine andere Betroffene schildert: Bei einer Freizeit 2009 soll ein fieberndes Mädchen weinend im Bikini unter eine heiß-kalte Wechseldusche gestellt worden sein. Ihre Schwester habe das Geschehen mit angesehen und habe versucht einzuschreiten. Das sei ihr jedoch nicht gelungen. Dieser Vorfall soll zehn Jahre später zu der beschriebenen Anzeige geführt haben.

Zwei Schreiben von Betroffenen liegen der Redaktion vor

Sie habe jahrelang unter dem missbräuchlichen Verhalten von damals gelitten. „Ich bin mehr als entsetzt, dass die Kirchengemeinde es bis heute nicht geschafft hat, den jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch, der Kindern und Jugendlichen unter ihrem Dach angetan wurde, auch nur ansatzweise angemessen zu verurteilen“, so die Betroffene. Stattdessen erkläre der Kirchenvorstand gegenüber allen Gemeindemitgliedern, man habe den genannten Ehrenamtlichen sehr viel zu verdanken. Viele andere Kinder und Jugendliche hätten gelitten wie sie selbst.

2009 gab es laut der St.-Petri-Gemeinde wohl drei oder vier Betroffene, die sich über die ehrenamtlichen Mitarbeitenden beschwert haben sollen. Zwei Schreiben von Betroffenen liegen der Redaktion vor. Beide beschreiben, dass sie auch heute noch unter den damaligen Geschehnissen litten.

Kirchenleitung: „Wir halten diese Schilderungen für glaubwürdig“

Der Kirchenvorstand reagierte sehr betroffen auf die Schilderungen und veröffentlichte einen Text im nächsten Gemeindebrief, der die Thematik das erste Mal öffentlich machte. „Nach Kinderfreizeitmaßnahmen der Petri-Kirchengemeinde, die in der Zeit vor 2012 stattfanden, haben wiederholt Teilnehmende von psychischen und körperlichen Übergriffen durch Leitende berichtet“, heißt es in dem Text. Und weiter: „Wir halten diese Schilderungen für glaubwürdig. 2015 endete die Zusammenarbeit. Und dennoch hat aus unserer Sicht das erlittene Leid bisher keine angemessene Beachtung gefunden. Wir bitten die Betroffenen um Entschuldigung.“

Kirchenvorstand und Pfarramt wollen jetzt einen selbstkritischen Aufarbeitungsprozess beginnen. Als ersten Schritt hat die St.-Petri-Gemeinde das Kinderschutzzentrum Nord-Ost-Niedersachsen um professionelle Unterstützung bei der Beratung derjenigen gebeten, die psychische und körperliche Übergriffe erlitten haben. Diejenigen, die dies in Anspruch nehmen wollen, können sich an die zuständige Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Stade wenden. Diese ist telefonisch unter 04141/52140 oder per Mail an erziehungsberatung-stade@evlka.de zu erreichen.

Fehlende Aufarbeitung der Vorwürfe: Kirche gesteht Fehler

Nach dem Text im Gemeindebrief ist die Zahl der Betroffenen laut Superintendent Martin Krarup von vier auf fünf gestiegen. „Wir haben als Kirche Fehler gemacht“, sagt er. Er will jetzt auf Transparenz setzen. Krarup ist seit 2014 im Amt. Als die Vorwürfe aufkamen, war auch das Petri-Pfarramt anders besetzt. „Wir haben aus der Reaktion auf den Nachruf gelernt, dass die Vergangenheit für die Betroffenen nicht vorbei ist“, sagt Krarup. Er hat gemeinsam mit Joachim Freund vom Kirchenvorstand dem TAGEBLATT Fragen zu dem Thema beantwortet.

„Wir wollen das Geschehen von früher mit den Betroffenen aufarbeiten, wenn sie es wollen“, sagt Joachim Freund. Krarup übernimmt auch Verantwortung für eigene Fehler. Bei der endgültigen Trennung von den ehrenamtlichen Leiterinnen 2015 hätte man die Vorwürfe aus Sicht beider Seiten aufarbeiten müssen. Tatsächlich spielten wohl die Vorwürfe in vielen Gesprächen in den vergangenen Jahren immer wieder eine Rolle.

Anklagende Mutter will sich nicht ein drittes Mal abbügeln lassen

Eine Mutter eines betroffenen Mädchens saß zwischenzeitlich im Kirchenvorstand der Petri-Gemeinde und wollte die Vorwürfe thematisieren. Sie ist nach eigener Aussage nicht damit durchgedrungen und sei auf offener Straße als Nestbeschmutzerin, die die Jugendarbeit kaputtmachen wolle, bezeichnet worden. „Ein drittes Mal lasse ich mich nicht abbügeln“, sagt sie gegenüber dem TAGEBLATT heute. Sie war eine von denen, die die Erlebnisse ihrer Kinder 2009 der Kirche gemeldet hatte. Auch das schlechte Gewissen, ihre Kinder nicht früher aus den Freizeitangeboten herausgenommen zu haben, motiviere sie, sagt sie.

Sie und ihre Tochter kritisieren jetzt auch aktuell den Umgang der St.-Petri-Gemeinde mit den Vorwürfen seit dem umstrittenen Nachruf. Man habe gelogen und ihre Nachrichten nicht an alle Mitglieder des Kirchenvorstands weitergeleitet, wirft die Mutter den handelnden Personen im Pfarramt vor. All die Vorfälle einschließlich der Anzeige seien dem Pfarramt sowie dem Kirchenvorstand nachweislich bekannt gewesen, als der Nachruf entstanden ist. „Ich habe den Kirchenvorstand sowie das Pfarramt bereits 2009 über das missbräuchliche Verhalten (…) in Kenntnis gesetzt, und es hat überdies Beschwerden von weiteren Eltern gegeben“, so die Mutter. Nachgegangen sei man dem nicht. Das Team habe ungehindert weiter in der Jugendarbeit tätig sein dürfen. Der Umgang des Pfarramtes mit den Reaktionen auf diesen Text habe weitere Verletzungen ausgelöst: „Das Pfarramt bedauert dies sehr und bittet insbesondere diese Betroffenen um Entschuldigung“, heißt es dazu von der Kirche.

Die Beschuldigte weist alle Vorwürfe zurück

Aber es gibt auch die andere Seite in der St.-Petri-Gemeinde: Menschen, die viele positive Erlebnisse mit den Jugendfreizeiten verbinden und die sich jetzt auch zu Wort melden. Auch sie kritisieren die Kirchenleitung, weil sie sich geäußert hat, ohne der noch lebenden Beschuldigten eine Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Kirche habe beide Seiten im Stich gelassen, sagt ein Mitglied der Gemeinde. Jeder in der Gemeinde wisse, gegen wen die Vorwürfe gerichtet seien, auch wenn die Namen im zweiten Gemeindebrief nicht genannt wurden.

Die lebende Beschuldigte redet mit dem TAGEBLATT, will aber anonym bleiben. Sie traue sich jetzt schon kaum in die Stadt. Die Vorwürfe weist sie strikt zurück. Dass es zu Fehlern in einzelnen Situationen gekommen sei, wolle sie nicht ausschließen. Bei der geschilderten Aussperrungsszene sei dies der Fall gewesen. Im Gespräch ist deutlich wahrnehmbar, dass sie durch die erneute Diskussion und den Entschuldigungstext im Gemeindebrief tief getroffen ist. Und sie ist selbstkritisch: Sie frage sich jeden Tag, welchen Anteil sie daran habe, dass andere Menschen auch nach so vielen Jahren so verbittert seien. Sie habe das Ziel gehabt, dass die Kinder und Jugendlichen Spaß hätten und wollte den Glauben vermitteln.

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