TOpfer des NS-Regimes: Die Geschichten von Heinrich Spreckelsen und Eberhard Stunkel

Stelen für die Opfer des NS-Unrechtsregimes an der St.-Wilhaldi-Kirche in Stade. Foto: Vasel
Mehr als 500 Namen von NS-Opfern stehen auf den Stelen im Schatten der St.-Wilhadi-Kirche in Stade - unter ihnen Heinrich Spreckelsen und Eberhard Stunkel. Das sind ihre Geschichten.
Stade. Der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee jährt sich am Sonnabend, 27. Januar, zum 79. Mal. Für den Lokalhistoriker Michael Quelle ist die Erinnerung und die aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte die beste Versicherung gegen ein Wiedererstarken des Faschismus.
Der Stader Quelle hat - unter anderem mit der Hilfe der Akten in den Arolsen Archives und des Landgerichts - die Biografien unzähliger Opfer nachgezeichnet. Für ihn ist das KZ Auschwitz das Synonym für den Massenmord der Nazis an Juden, Sinti und Roma und - beispielsweise aus politischen oder aus religiösen Gründen - anderen Verfolgten. Auch die Stader Stunkel (1878-1943) und Heinrich Spreckelsen (1914-1940) steckten die Nationalsozialisten ins Konzentrationslager.
Eberhard Stunkel war Dentist in Stade. Der Zahntechniker wohnte in der Eisenbahnstraße, die im Dritten Reich den Namen von Admiral Reinhard Scheer trug, dem Befehlshaber der deutschen Hochseeflotte in der Skagerrakschlacht von 1916. Der Dentist wurde 1943 im Landgericht Stade inhaftiert, am 7. Oktober 1943 steckten ihn die Nazis ins Konzentrationslager Dachau. Schutzhaft hieß das in der NS-Terminologie. Seit dem 13. April 1944 galt er als vermisst - seine Leiche wurde nie gefunden.
Tochter erhält im Mai 1943 eine Vermissten-Mitteilung
Stunkel war einem Arbeitskommando im KZ-Außenlager Haunstetten überstellt worden und war, so die Angaben der Tochter, in den Messerschmitt-Flugzeugwerken beschäftigt - wie weitere 2700 KZ-Häftlinge. Viele kamen infolge der unmenschlichen Behandlung durch die SS-Wachmannschaften ums Leben - unter anderem durch Hunger und Gewalt. Im März hatte Stunkel laut einem „heimlichen Brief“ seine Sachen gepackt, die Tochter hoffte auf Flucht oder Freilassung. Im Mai 1943 erhielt sie eine Vermissten-Mitteilung.

Effekten-Verzeichnis von Eberhard Stunkel aus dem KZ Dachau. Foto: Arolsen Archives
Holocaust-Gedenktag
Stader Mahnwache gegen Menschenhass wird wohl größer als gedacht
Witwe kämpft um ihre Ansprüche
Stunkel, so heißt es in Unterlagen des Sonderhilfsausschusses des Landkreises Stade von 1951, „habe kein Blatt vor den Mund genommen“ und sich „gegen den Nationalsozialismus“ ausgesprochen. Seine Frau hatte nach dem Krieg große Schwierigkeiten, ihre Ansprüche auf die „ererbte Haftentschädigung“ bei der Entschädigungskammer am Landgericht Stade durchzusetzen. Ein Grund: Er galt als vermisst, außerdem war er Mitglied des Stahlhelms gewesen. Dieser war in die NSDAP überführt worden. Im April 1934 soll der Stader aus der Partei ausgetreten sein. Deshalb unterstrich seine Frau, dass er die „verwerflichen Ziele des Nationalsozialismus als einer der wenigen schnell erkannt“ habe und sich - trotz möglicher Folgen für ihn und sein Geschäft - den „Mut“ zu einer „krassen Gegnerschaft zur NSDAP aufbrachte“.
Deshalb, so die Witwe, sei der Vorwurf einer möglichen Vorschubleistung hanebüchen. Die Rentenerhöhung müsse deshalb gewährt werden. Aus den Akten von 1954 geht hervor, dass der Dentist am 30. Juni 1943 wegen Abhörens „feindlicher Sender“ von der Gestapo verhaftet und inhaftiert worden sei. Zehn Monate vor der Überstellung ins KZ Dachau verbrachte Stunkel in Gefängnissen in Stade, Bremen und Frankfurt. Zeugen bestätigten übereinstimmend Stunkels Gegnerschaft zur Partei. Viele gaben zu, ihm aus Angst vor Verfolgung in der Nazi-Zeit aus dem Weg gegangen zu sein - insbesondere im Jahr 1943, als sich die Niederlage abzeichnete. Dass der Konservative ein „Nazi-Gegner“ war, sei stadtbekannt gewesen. Er habe in seinen Sprechstunden und auf offener Straße scharfe Kritik geäußert. Im Juni 1955 wurde die Hinterbliebenenrente der Witwe erhöht. Ihr vermisster Mann wurde als „politisch Verfolgter“ eingestuft.
Lesen Sie auch
- Die Verbrechen von drei strammen Stader Nazis
- Nazis in Stade: Schüler verfolgen Spuren von Tätern und Opfern
- Wenig später starben zwei von diesen Soldaten im Sherman-Panzer in Kutenholz

Auszug aus der Akte von Heinrich Spreckelsen zur Erfassung von „Kriegsopfern“. Foto: Arolsen Archives
Vortrag von Quelle und Kogge im Schwedenspeicher
Auch an Heinrich Spreckelsen (1914-1940) wird am Sonnabend erinnert. Nach der Niederlegung vom Blumen um 15.15 Uhr folgt um 16 Uhr ein Vortrag im Schwedenspeicher unter dem Namen „Die Namen auf den Stelen“ vom Rosa Luxemburg Club Niederelbe über die NS-Opfergruppen von Michael Quelle und Oliver Kogge.
Der kaufmännische Angestellte Spreckelsen starb am 5. Februar 1940 im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg. Angebliche Todesursache: Grippöser Infekt. Spreckelsen - Mitglied der Bündischen Jugend und Katholik - hatte sich früh gegen das Regime gestellt. Er versuchte sich dem Wehrdienst als Marine-Artillerist zu entziehen. Das Feldgraue sei ihm „als Zwangskleid“ verhasst. 1937 schrieb er aus dem Lazarett in Cuxhaven an seine Kompanie: „Nieder mit dem Militarismus. Es lebe die Freiheit.“ Wieder zurück in seiner Kaserne in Wilhelmshaven wurde er verhaftet, doch er beugte sich nicht. 1938 verurteilte ihn ein Marinerichter wegen Fahnenflucht und erschwerter Gehorsamsverweigerung zu sieben Monaten Gefängnis. Weil seine geistige Entwicklung noch nicht abgeschlossen sei, stufte ihn das Gericht des 2. Admirals der Nordseestation „trotz seiner unfassbaren, staatsfeindlichen Absichten“ noch nicht als „unverbesserlichen Volksschädling“ ein. Er, der von Mai 1933 bis Oktober 1934 auch in der NSDAP war, kam nach Torgau und Altenwalde - und nach der Festungshaft ins KZ.
Auch sein Bruder Otto geriet nach der Verurteilung seines Bruders in das Visier der Gestapo. Sein Arbeitgeber lieferte ihn ans Messer. Wegen des Abhörens und Verbreiten ausländischer Nachrichten kam er ins Zuchthaus. Sein Vergehen: Er hatte gegenüber seinem Bäckermeister („einem guten Arbeitgeber, aber großen Nationalsozialisten, der mit allen Beamten der Gestapo auf Du und Du war“) und drei Gesellen die Wahrheit über deutsche Verluste ausgesprochen. Um einer weiteren Verhaftung zu entkommen, meldete sich der Kriegsdienstuntaugliche „freiwillig“ zur Wehrmacht. Er überlebte.