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Prozess

TRaubopfer im Zeugenschutz liefert in Stade Einblicke ins Drogenmilieu

Das Landgericht in Stade (Niedersachsen).

Das Landgericht in Stade (Niedersachsen). Foto: dpa

Angriff vor dem Modehaus: In Stade muss sich eine 45-Jährige wegen schweren Raubes verantworten. Ein Zeuge berichtet freimütig – dann ist die Frau spurlos verschwunden.

Von Stefan Algermissen und Theo Bick Montag, 30.09.2024, 05:30 Uhr

Stade. Am zweiten Verhandlungstag vor der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts standen sechs Zeugenaussagen an, unter denen eine herausragte. Denn vorgeladen war auch der heute 30-jährige Bremervörder, der in der Nacht zum 31. Juli 2023 auf dem Parkplatz des Modehauses Burfeind überfallen, mit einem Baseballschläger verletzt und ausgeraubt worden sein soll.

Der Vorsitzende Richter Marc-Sebastian Hase wies den Zeugen darauf hin, dass er nicht zur Aussage verpflichtet sei, wenn er sich durch seine Eingaben selber belasten würde. Er wolle nichtsdestotrotz Angaben machen, sagte der Bremervörder und berichtete offen, dass er seit März 2024 im Zeugenschutz lebe.

Zeuge liefert Einblicke in Gelderwerb als Drogendealer

Der Richter frage nicht nach dem Grund für den Zeugenschutz, und der 30-Jährige sagte auch nichts. So konnten sich die Zuhörer ihren Teil denken, als der Zeuge berichtete, dass er zum Zeitpunkt der Tat für einen ihm übergeordneten Lieferanten im großen Stil mit Betäubungsmitteln gedealt habe. Cannabis, Speed, Kokain. Die ganze Palette.

Der Zeuge nannte den Nachnamen des übergeordneten Drogenhändlers und dessen Spitznamen, unter dem wohl viele den Mann kennen. „Ich habe ihm eine hohe Summe geschuldet“, meinte der Zeuge, der angab, bis Februar selbst Drogen konsumiert zu haben, seitdem jedoch abstinent sei. Entsprechend groß sei zum Tatzeitpunkt seine Motivation zum Verkauf gewesen, betonte das Raubopfer.

Der 30-Jährige, der von zwei Polizeibeamten in Zivil begleitet wurde, berichtete von einem „Dealer-Handy“, das ihm von seinem Lieferanten zur Verfügung gestellt worden sei. „Ich habe es nur für die Drogengeschäfte genutzt“, sagte er aus. Sein Lieferant habe ihm monatlich neue SIM-Karten gegeben. Richter Hase ließ durchblicken, dass eine Ermittlung zum Kartenbesitzer in eine Berliner Kleingartenkolonie geführt habe, wohl zu einer Fake-Identität.

Auch über die Nacht im Juli 2023 packte der Zeuge umfassend aus. Die Angeklagte hätte ihn schon tagsüber mehrfach angerufen, weil sie Drogen habe kaufen wollen. Sie sei eine Stammkundin gewesen, habe insgesamt „so 15- bis 20-mal“ bei ihm gekauft.

„Ich hatte aber tagsüber keine Zeit, weil ich zu viele andere Kunden hatte.“ Er habe die 45-Jährige immer wieder vertröstet. Schließlich habe man sich „für 24 oder ein Uhr nachts“ verabredet. 2,5 Gramm Kokain sollten auf dem Parkplatz den Besitzer wechseln. An die am ersten Verhandlungstag erwähnten 30 Euro, die ihm die Angeklagte noch geschuldet haben will, konnte sich der Zeuge nicht erinnern.

Opfer des Raubüberfalls: Habe Gesicht nicht gesehen

Er sei mit dem E-Scooter auf den Parkplatz gefahren und habe angehalten, weil er die Angeklagte gleich erkannt habe. Plötzlich sei ein Mann, aus dem Dunkeln auf ihn zugesprungen. Eher dünn, etwa 1,85 Meter groß, im Kapuzenpullover. Das Gesicht habe er wegen der Dunkelheit und der Kapuze nicht erkennen können. Er habe noch versucht, sich zu wehren, aber schließlich aufgegeben. „Der Angreifer hat etwa 15 Mal zugeschlagen“, gab das Raubopfer vor Gericht an. Später im Krankenhaus sei eine Wunde mit sechs Stichen genäht worden.

Weil er auf dem Boden lag, habe er die Angeklagte nach der kurzen Begrüßung nicht mehr gesehen. Er habe zwei Autotüren zuklappen hören und ein Auto wegfahren sehen. „Vermutlich ein Mini-Van.“ Die Angeklagte hatte ausgesagt, per Fahrrad gekommen zu sein. „Ein Fahrrad war da nicht“, war sich der Zeuge sicher.

Er gehe davon aus, dass die Angeklagte ihn in eine Falle gelockt habe, meinte der 30-Jährige. Gefehlt hätten ihm im Anschluss die Drogen und 30 Euro. Am nächsten Tag sei er mit seinem Lieferanten und einer weiteren Person zur Obdachlosenunterkunft Bremervörde gefahren. „Sie sollten Strafe zahlen für ihre Tat“, begründete der 30-Jährige auf Nachfrage des Richters. Sein Lieferant habe womöglich zugeschlagen. Der Zeuge nannte den Namen eines Mannes, der seiner Meinung nach der Räuber in der besagten Nacht gewesen sein könnte. Seine Begründung: Dessen „Sohn oder Stiefsohn“ habe den Verdacht geäußert.

Zeuge wegen Psychose in Rotenburger Klinik

Der Zeuge berichtete, dass er Anfang 2024 wegen psychischer Probleme acht Wochen in stationärer Behandlung war. Er habe damals Stimmen gehört, leide unter einer „drogeninduzierten Psychose“. Seit er Medikamente nehme, sei das mit den Stimmen vorbei.

Der 30-Jährige willigte schriftlich ein, die Ärzte der behandelnden Klinik von ihrer Schweigepflicht zu befreien. Diese Akten, so betonte der Verteidiger der Angeklagten, seien für die Bewertung der Glaubwürdigkeit des Angeklagten „unerlässlich“.

Rätselhaft: Angeklagte fehlt am Tag der Urteilsverkündung

Der Prozess gegen die 45-jährige Bremervörderin hätte am Freitagvormittag mit den Plädoyers und der anschließenden Urteilsverkündung beendet werden sollen. Doch die Angeklagte war nicht da und sorgte damit bei den Anwesenden für sehr große Verwunderung.

Denn der mehrfach vorbestraften Bremervörderin, die im Falle einer Verurteilung mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe hätte rechnen müssen, war nach den Zeugenbefragungen am Donnerstagnachmittag deutlich signalisiert worden, dass sie am Folgetag mit einem Freispruch rechnen könne, wie der Richter Hase erläuterte.

Auf Veranlassung des Richters suchte die Polizei die Wohnung der Angeklagten auf, traf diese jedoch nicht an, ihr Mobiltelefon war ausgeschaltet. Ein Nachbar der Frau konnte den Beamten indes berichten, dass die 45-Jährige früh am Morgen aufgebrochen sei und diese angegeben habe, rechtzeitig vor Gericht erscheinen zu wollen. Eine Suchaktion bei mehreren Kontaktadressen der 45-Jährigen sowie die Nachfrage in den Krankenhäusern der Region konnten den Verbleib der Frau zunächst nicht aufklären.

Ist der 45-Jährigen etwas zugestoßen?

Wegen der Verbindungen zum Drogenmilieu wies insbesondere ihr Rechtsanwalt auf die Möglichkeit hin, dass seine Mandantin dem Prozess womöglich unfreiwillig ferngeblieben sei.

Als nächster Verhandlungstag ist der 18. Oktober, 9 Uhr, angesetzt. Sollte die Angeklagte bis dahin nicht wieder aufgetaucht sein und der Termin ausfallen, müsste der Prozess aufgrund des Verstoßes gegen die Strafprozessordnung komplett neu aufgerollt werden.

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