TRechtsmedizin: Crime-Experte Püschel will Cold Cases in der Region lösen

Mit Schädeln und Knochen kennt er sich aus: Klaus Püschel, hier auf einem Foto von 2017, betrachtete im Anthropologischen Labor des Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg auch solche Funde. Foto: Christian Charisius
Kaum jemand in Deutschland ist mit dem Tod so vertraut wie der er: Prof. Klaus Püschel leitete fast 30 Jahre das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg. Er weiß, wie und warum ein Mensch gestorben ist. Jetzt, im Ruhestand, hat er noch ein großes Ziel.
Redaktion: Herr Püschel, wann und wie sind Sie erstmals mit dem Tod in Berührung gekommen?
Prof. Klaus Püschel: Beim Angeln. Damals war ich etwa zehn Jahre alt und habe die Fische ausgenommen, die mein Vater gefangen hat.
Ihr eigentliches Berufsziel war Sportarzt. Wie sind Sie dann zu diesem speziellen Beruf Gerichtsmediziner gekommen?
Durch die faszinierenden Vorlesungen im Medizinstudium. Als ich am Ende meines Studiums war, kam als eines der letzten Fächer Gerichtsmedizin dran. Dafür kam der leitende Oberarzt des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin nach Hannover. Er hat die Themen der Rechtsmedizin didaktisch sehr lehrreich dargestellt und auch noch extrem spannende Fälle vorgestellt. Ich hatte das Gefühl, dass es ein hochinteressanter und wichtiger Beruf ist, der mir Freude bereiten könnte.

Seine Expertise ist weltweit gefragt. Bei ungezählten Gewalt- und Todesfällen hat Prof. Klaus Püschel zur Aufklärung beigetragen. Foto: Döscher
Zudem haben wir eine Exkursion ins Hamburger Kriminalmuseum gemacht, wo dann auch sehr interessante Exponate ausgestellt wurden. Der leitende Oberarzt hat uns dann besondere Fälle vorgestellt und auch interessante Tote gezeigt. Er konnte uns sehr gut nahebringen, wie wichtig es ist, dass man die Toten sehr genau untersucht. In diesem Augenblick wusste ich: Das ist genau das, was ich unbedingt machen möchte.
Was hat Sie an diesem Beruf so fasziniert?
Rechtsmedizin ist das mit Abstand spannendste Fach der Medizin, und ich habe den interessantesten Beruf als Arzt.
Was ist die wichtigste Eigenschaft, die ein Rechtsmediziner braucht?
Kalte Vernunft. In der Rechtsmedizin geht es darum, genau hinzuschauen, Verletzungsmuster zu erkennen und zu interpretieren und dann zu rekonstruieren, was geschah. Es geht um naturwissenschaftliche Sachverhalte und logisches Denken. Ich bin meilenweit entfernt von Glauben, Meinen, Hoffen. Ich kann etwas beweisen.
Für die Tätigkeit eines Gerichtsmediziners sind alle Sinne gefragt. Einige Fälle verbreiten einen spezifischen Geruch oder haben eine charakteristische Farbe...
Wie sah Ihr typischer Arbeitsalltag aus und welche besonderen Herausforderungen und Belastungen brachte der Beruf mit sich?
Lehre, Forschung, Praxis, Begutachtung. Das Großartige an der Gerichtsmedizin ist, dass man alle Bereiche des Faches in einer Institution vereinigt. Ich habe Studenten ausgebildet, aber auch geforscht. Man ist auch für sämtliche praktische Fälle in seinem Bereich zuständig, bei lebenden und bei Toten, seien sie Opfer oder Täter. Und letztlich bin ich auch als Gutachter vor Gericht in all den Fällen zuständig, die ich vorher untersucht habe.
Wie haben Sie es geschafft, die belastenden Aspekte Ihres Berufs zu verarbeiten?
Durch Routine und Ratio.
Bis zu welchem Punkt verfolgen sie die Fälle?
Ich habe immer versucht, jeden Fall zumindest bis zum Abschluss der Hauptverhandlung im Blick zu behalten, bis dahin schwelt der Fall auch in mir weiter. Ich habe stets den Ehrgeiz einer Klärung; auch für die Angehörigen. Natürlich treten die älteren Fälle irgendwann gegenüber aktuellen Fällen in den Hintergrund. Aber man nimmt sie sich immer mal wieder vor.
Ich schreibe ja in meinen Büchern auch über viele Fälle aus früherer Zeit; vor allem über solche, bei denen ich davon ausgehe, dass andere daraus etwas lernen können. Ich möchte all das für die Nachwelt festhalten und zeigen, was wir durch die Untersuchung der Toten lernen können. Mit der Zielvorstellung, dass so etwas in dieser Art und Weise möglichst nicht wieder passieren soll.
Konnten sie abends denn gut abschalten? Oder haben Sie Fälle mit nach Hause genommen?
Natürlich denke ich bei der Arbeit auch an die trauernden Angehörigen. Für mich ist jeder Fall aber in erster Linie eine spannende Fragestellung. Es geht für mich darum, den Fall professionell zu dokumentieren und zur Lösung beizutragen. Das ist eben mein Beruf. Über manches spreche ich auch zu Hause, aber ich nehme keinen Fall mit in den Schlaf. Ich träume nicht davon und es belastet mich persönlich nicht. Ich kann das innerlich gut trennen.
Ihre Expertise ist weltweit gefragt. Welche besonderen Fälle oder Erkenntnisse haben Ihre Karriere geprägt? Welche Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?
Sehr viele. Denn wenn wir die Toten genauer untersuchen, lernen wir für das Leben. In Hamburg hatten wir viele ungewöhnliche und lehrreiche Fälle: Honka, Pinzner, Barschel, Kachelmann.
Mord, Totschlag, Massaker, Unfälle: Welche Fälle sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Es gibt sehr viele. Einige sind interessant, weil sie besondere Aufmerksamkeit erzeugen, wie eine Millionärin, ein Terrorist, ein Voodoo-Mord. Dann gibt es die kleinen Fälle, die kriminalistisch eine große Herausforderung darstellen und die besonders verrückt sind. Etwa die des jungen Mannes, der ein Catering-Unternehmen mit seinen Eltern hatte.
Er saß auf der Rückbank, hatte einen Dönerspieß hinten im Lieferwagen. Es gab einen Auffahrunfall und der Spieß bohrte sich von hinten durchs Herz, kam aber vorne nicht raus. Man zog den Spieß heraus. Er war tot, es waren äußerlich aber keine Verletzungen erkennbar. Oder der autoerotische Unfall eines Mannes, der seinen ganzen Körper mit Scheibletten-Käse dekoriert hatte.
Auch in Bremerhaven haben Sie einige Fälle bearbeitet ...
Ja, traditionell ist die Hamburger Rechtsmedizin auch in Bremerhaven zuständig, weil Bremerhaven eine eigene Ortspolizeibehörde hat, die mit dem Institut für Rechtsmedizin in Hamburg sehr eng kooperiert.
Welche Fälle haben Sie hier denn beschäftigt?
In Bremerhaven gab es viele verschiedene herausragende Fälle. Ein besonderer Fall war der „Oma Mörder“, der fünf Frauen erstickte - eine legendäre Mordserie, geradezu sensationell. Der „Oma-Mörder“ war ein Intensivtäter ohnegleichen; ein Lehrbuchfall. Wir hatten aber auch hoch spannende Einzelfälle; nicht nur Tötungsverbrechen, sondern zum Teil auch ungewöhnliche Selbsttötungen oder Unfallabläufe.
Was machte die Arbeit in Bremerhaven abseits der Fälle so besonders?
Bremerhaven ist ein besonderes Pflaster. Ich bin stets gerne nach Bremerhaven gekommen, weil es eine besonders vertrauensvolle Zusammenarbeit gegeben hat und auch heute noch gibt. Wir alle haben hier mit Herzblut gearbeitet. Die Fälle in Bremerhaven gehörten zu den Highlights in meinem Beruf.
Wir als ,Seniorteam‘ haben jetzt die Zeit, noch mal mehrere Tausend Seiten Akten zu lesen und in Ruhe zu diskutieren. Da kommen einem doch noch mal neue Ideen. Unser Anspruch ist es, dass diese Fälle gelöst werden.
Prof. Dr. med. Klaus Püschel
Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden auch hervorragende Ermittlungsergebnisse erzielt. Und die Cold Cases, die bislang nicht gelöst wurden, versuche ich mit einigen anderen jetzt noch einmal wieder neu aufzurollen.
Was haben Sie durch Ihre Arbeit mit den Toten gelernt?
Freude am Leben. Ich schätze das Leben. Da ich bei meiner Arbeit viel Negatives gesehen und erfahren habe, ist mir bewusst, wie schnell sich alles von einem Moment auf den anderen ändern kann.
Wer mich anruft und den Anrufbeantworter erwischt, hört die Aufforderung: „Positiv denken“. Durch die vielen negativen Dinge, die ich im Laufe des Lebens zu bearbeiten hatte, bin ich selbst ein besonders positiv denkender Mensch geworden. Ich versuche das auch auf andere zu übertragen, tatsächlich auch auf die Angehörigen der Toten. Es gibt Angehörige, die zum Teil jahrzehntelang unter dem Schicksalsschlag leiden, der sie ereilt hat. Um den Angehörigen das Leben zu erleichtern, ist es wichtig, das Geschehen aufzuklären und ihnen Gewissheit zu geben. Und letztlich auch zu versuchen, Gerechtigkeit herzustellen. Bei allem, was man tut, muss man immer die Belange der „Überlebenden“ berücksichtigen.
Inwiefern kann die Rechtsmedizin dazu beitragen, Gerechtigkeit herzustellen?
Indem festgestellt wird, was wirklich wa(h)r. Mit Tatrekonstruktionen und Gutachten sorgen wir dafür, dass die Opfer Gerechtigkeit erfahren.
Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Mord oder Totschlag heute noch unentdeckt bleiben?
Relativ hoch. Eine Studie besagt: Auf jedes Tötungsdelikt, das bekannt wird, kommt eins, bei dem fälschlich von einem natürlichen Tod ausgegangen wird.
Sie sind jetzt im Ruhestand, nutzen die Zeit, um über zurückliegende spannende Fälle zu schreiben und zusammen mit pensionierten Kriminalbeamten und Gerichtsmedizinern ungeklärte Verbrechen, sogenannte Cold Cases, zu bearbeiten. Was möchten Sie noch erreichen?
Die Mordserie von Kurt-Werner Wichmann aufklären! Ich bin davon überzeugt, dass Wichmann der schlimmste deutsche Serienmörder des vergangenen Jahrhunderts ist.
Warum ist Ihnen das so wichtig?
Zwischen 1977 und 1986 sind zwischen Weser und Elbe sechs junge Frauen verschwunden, deren Angehörige bis heute nicht wissen, was passiert ist. Das beeinflusst ihr Leben seit Jahrzehnten. Sie denken immer wieder an die Vermissten, grübeln darüber nach, was ihnen passiert sein mag – und viele Angehörige werden schlecht oder auch gar nicht damit fertig.
Wir als „Seniorteam“ haben jetzt die Zeit, noch mal mehrere Tausend Seiten Akten zu lesen und in Ruhe zu diskutieren. Da kommen einem doch noch mal neue Ideen. Unser Anspruch ist es, dass diese Fälle gelöst werden.
Sind Sie auch privat in Bremerhaven?
Ja, wir haben uns zu besonderen Gelegenheiten durchaus auch mal privat mit Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft getroffen, um uns über die Besonderheiten dieser Stadt auszutauschen. Ich habe früher auch mal in Bremen gewohnt und bin bekennender Werder-Fan - und jetzt bin ich auch bekennender Fan der Fischtown Pinguins und bin begeistert darüber, dass man in Bremerhaven so gut Eishockey spielt.
Der Tod war Ihr täglicher Wegbegleiter. Haben Sie denn selbst auch Angst vor dem Tod?
Nein. Wer sich mit dem Tod auseinandersetzt, statt ihn zu verdrängen, der lebt freier, intensiver und verschwendet weniger wertvolle Momente.
Zur Person
Prof. Dr. med. Klaus Püschel startete 1978 als Rechtsmediziner in Hamburg. 1989 übernahm er den Lehrstuhl für Rechtsmedizin in Essen und das dortige Institut für Rechtsmedizin. Von 1992 bis 2020 leitete Püschel das Institut für Rechtsmedizin an der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf. Zu seinen Schwerpunkten gehören der plötzliche Tod aus innerer Ursache, Drogentod, Alkohologie und Altersforschung.
Püschel obduzierte mit Kollegen unter anderem die Leiche des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, der 1987 in einem Genfer Hotelzimmer tot gefunden worden war. Püschel half auch bei der Aufklärung des Völkermords an den Tutsi 1994 in Ruanda oder bei Untersuchungen von Opfern des jugoslawischen Bürgerkriegs.