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Orange Days

TSexuelle Gewalt: Eine Betroffene erzählt von Trauma und Stärke

 Die Silhouette einer Frau zeichnet sich vor einer hellen Fensterfront ab.

Elisabeth wurde mehrfach missbraucht (Symbolbild; gestellte Szene). Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Elisabeth wurde missbraucht - als Kind, als Jugendliche und als junge Frau. Die Kunst wurde ihr Rettungsanker. Hier erzählt sie ihre Geschichte.

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Von Fenna Weselmann
Mittwoch, 03.12.2025, 05:50 Uhr

Buxtehude. Als sie beginnt, muss sie kurz innehalten und weinen. „Die Tränen kommen nicht aus Trauer oder Schmerz“, sagt sie. Es ist die Erleichterung, damit ein Stück loszulassen. Loszulassen von den Schatten, sagt Elisabeth*, wie sie in diesem Artikel heißen soll.

Anlässlich der Orange Days hat Elisabeth dem TAGEBLATT von ihren schlimmen Erlebnissen erzählt. Jedes Jahr greifen die Orange Days das Thema Gewalt gegen Frauen auf. Die Anlaufstelle für Betroffene im Landkreis Stade ist die Beratungsstelle Lichtblick.

Dort zeigt die Frankfurter Künstlerin und Galeristin Nina Hurnÿ Pimenta Lima gerade ihre Werke unter dem Namen „ME.Ninas“. Die Frauenbilder, die Nina Hurnÿ Pimenta Lima aus dem Pinsel getanzt sind wurden nach dem portugiesischen Kosewort für Frauen mit Verve benannt. Sie sprühen vor Lebensmut, tragen aber auch die Verletzlichkeit in sich. So wie hinter jedem lauten Lachen ein tiefer Seufzer steckt, liegt eine Schwere hinter der zarten Bewegung, als würden sich diese starken, fröhlichen Frauen aus dem Schatten erheben. Sie zeigen, wie man sich aus der inneren Lähmung freitanzen kann, stehen für den Lichtblick im Dunkel.

Und diese starken Frauenbilder sind im Fall von Elisabeth besonders passend, weil sie selbst ihrem Trauma mit Hilfe der Kunst immer etwas entgegensetzen konnte.

Mit sechs Jahren erlebt sie den ersten Übergriff

Den ersten Übergriff erlebt Elisabeth mit sechs Jahren. In einer Stadt, die nur wenig größer als Buxtehude ist. An jenem Tag trägt sie ihr Einschulungskleid. Sie will noch ein bisschen draußen spielen.

Die Gewohnheit führt sie zur Oma. Die lebt unweit vom Reihenhaus der Eltern. Im Vorraum des Hochhauses steht eine Bande von vier Jungs aus dem benachbarten Wohnblock und verstellt den Weg. „Du musst jetzt mitkommen. Wir wollen was sehen“, sagen die. „Ich möchte aber nicht“, wehrt Elisabeth ab.

Die Scham wiegt viel schwerer als der Schmerz

Doch ihr Nein hilft nicht. „Dann habe ich versucht zu schlagen, und ich konnte nicht schlagen, und ich habe versucht zu schreien, aber meine Stimme wurde nicht laut. Ich bin mitgegangen und habe das einfach über mich passieren lassen.“

Wie damals schaut sie auf das kleine Mädchen in den Büschen unter dem Fenster des Hausmeisters - von oben, wie losgelöst vom eigenen Körper. „Ich habe alles vor Augen, jedes Blatt, wie es da lag“, erzählt Elisabeth. Die Namen der vier fliegen ihr wieder durchs Ohr. „Aber ich kann sie nicht festhalten und will sie auch loslassen.“

Elisabeth geht zur Oma. Die sieht, dass etwas nicht stimmt. Ihre Enkelin sagt, sie wurde verkloppt. Nicht mehr. Aus Scham. Die wiegt viel schlimmer als der Schmerz. „Komm, du zeigst mir die Jungs“, sagt ihre Oma. Aber Elisabeth hat auf einmal Angst, dass die Bande doch einfach behaupten könnte: „Wieso, sie hat doch mitgemacht und sich nicht gewehrt.“

Ab da ist Elisabeths Kindheit vorbei. „Weil ich jedes Mal, wenn ich auf Toilette musste, dachte, dass ich jetzt ein Kind bekomme.“ Weil vier Jungs ausprobieren wollten, was gerade im Sexualkundeunterricht Thema war. So haben es die Jugendlichen vor dem Mädchen gerechtfertigt.

Der Nachbar wird mehrfach übergriffig

„Das war furchtbar, aber damit konnte ich viel besser arbeiten als mit dem späteren Übergriff eines guten Nachbarn“, erzählt sie von der nächsten Missbrauchserfahrung. Ein kurzer Moment, dessen Tragweite Elisabeth da noch gar nicht realisiert.

Die Eltern sitzen draußen in geselliger Runde. Die zwölfjährige Elisabeth hockt drinnen vor dem Fernseher. Im Vorbeigehen zum Klo steckt der Nachbar einfach seine Hand in ihr Shirt und fasst an die Brust. Auf dem Rückweg grinst er sie an. In dem Moment wünscht Elisabeth nichts sehnlicher, als dass die Mutter reinkommt.

„Ich war wie gelähmt und konnte nicht aufstehen“, erinnert sie. Irgendwann kommt die Mutter. Sie bringt ihre Tochter liebevoll ins Bett und fragt, was los ist. Aber von der Tat erfährt sie erst später.

Das Aushalten ist leichter als Hilfe zu holen

Wie die Sechsjährige bleibt auch das jugendliche Mädchen stumm. Sie verschließt das schlimme Erlebnis in ihrem Keller der dunklen Gefühle. Hilfe holen ist viel schwerer als aushalten.

Mit 14 Jahren platzt es aus ihr heraus. Nach und nach wird klar: Elisabeth ist nicht die Einzige. Erst öffnet sich die große Schwester und später der jüngere Bruder. Sie hatten ebenso unter dem Nachbarn zu leiden. Eine Anlaufstelle wie Lichtblick hatte die Familie nicht.

Als junge Frau im Zug kommt Elisabeth erneut in die Situation. Wieder wird sie angefasst und erträgt den Übergriff, bis der Mann endlich aussteigt. Elisabeth handelt auch das für sich ab. So wie sie allein ihre Bulimie überwindet.

Die Kunst löst die Fesseln der Verzweiflung

Trotz der schlimmen Missbrauchserfahrung wehrt sie sich dagegen, Männer zu dämonisieren. Ihren Blick richtet sie lieber darauf, dass alle ein Opfer sein könnten, statt in jedem den Täter zu wähnen. Elisabeths Leben ist getragen von einem unerschütterlichen Glauben ans Gute. Sie umarmt die Welt.

Wie sie sich ihre Offenheit und Nahbarkeit bewahrt hat? „Ich weiß nicht, was mir immer wieder die Kraft gab. Wahrscheinlich die Liebe meiner Familie, meiner Geschwister und meiner Eltern. Und ich habe Halt in mir selbst gefunden“, ist Elisabeth überzeugt. Die Kunst hat für sie eine Schlüsselrolle.

„Ich konnte nur durch die Kunst überleben“, sagt sie rückblickend. „Mit ihr konnte ich die Fesseln lösen und den inneren Raum zu mir selbst finden“, ist sie sicher.

Jedes Bild ist ein Spazierengehen in der Seele

Elisabeths Selbstbewusstsein dagegen wurde zerstört. „Lange Zeit fand ich nichts Schönes oder Liebenswertes an mir, und im Spiegel sehe ich mein Gesicht nie ganz und mich immer nur in Facetten“, erklärt sie. Nur im gemalten Bild gelingt ihr das.

So manches Mal hat sie mit dem Gedanken gekämpft, einfach nicht mehr sein zu wollen. Aber ihre innere Stärke ist größer. „Ich entscheide mich immer wieder für das Leben. Für meine Kinder, die für mich mein sicheres Zuhause sind.“

Manchmal zieht es Elisabeth in den Keller der dunklen Gefühle. Diese schmerzvollen Bilder gehören ihr allein. Dass sie dem so viel Licht entgegensetzen kann, hat einen Grund: „Es geht nur, weil ich Frieden geschlossen und die Perspektive geändert habe.“

Ihre Werke entstehen nicht aus Traurigkeit. „Wenn ich male oder modelliere, spüre ich keine Schmerzen, nur unglaubliche Tiefe in mir selbst.“ Elisabeth schafft aus der Notwendigkeit heraus. Weil sie sich nur so wirklich zu fassen vermag. „Jedes Bild ist ein Stück Verarbeitung, ein Spazierengehen im Innern meiner Seele.“

Jeder muss seinen eigenen Weg der Verarbeitung finden. Aber ohne einen Lichtblick, wie es für Elisabeth auch die Kunst war und ist, geht es nicht. „Deshalb sind Orte wie die Beratungsstelle so wichtig“, sagt Elisabeth. Diese Hilfe kann der entscheidende Lichtblick sein.

Nina Hurnÿ Pimenta Lima ist es ein besonderes Anliegen, Kunst in andere Räume zu bringen. Zu den Orange Days lässt sie ihre „ME.Ninas“ bei Lichtblick tanzen.

Nina Hurnÿ Pimenta Lima ist es ein besonderes Anliegen, Kunst in andere Räume zu bringen. Zu den Orange Days lässt sie ihre „ME.Ninas“ bei Lichtblick tanzen. Foto: Privat

Nach der viel beachteten Ausstellungseröffnung zum Auftakt der Orange Days bietet Lichtblick weitere Gelegenheit, die lebensbejahenden Exponate unter dem Titel „ME.Ninas“ anzuschauen. Im Rahmen des Workshops „Tanz dich frei“ am 4. Dezember um 14 Uhr gibt es dazu Raum für Bewegung und Gespräche. Wegen der positiven Resonanz wird die Malerin zu einer Finissage nach Buxtehude kommen. Der Termin ist noch in Abstimmung.


*Name von der Redaktion geändert

Hilfe für Betroffene

Lichtblick ist die Beratungsstelle gegen sexuelle und sexualisierte Gewalt für den gesamten Landkreis Stade und die Stadt Buxtehude. Die Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt mit Räumen in der Bertha-von-Suttner-Allee 4 unterstützt Betroffene, ihre Angehörigen, Fachkräfte und andere Bezugspersonen. Das multiprofessionell aufgestellte Team berät unabhängig davon, ob Anzeige erstattet wird.

Lichtblick kümmert sich nicht nur um aktuelle Fälle, sondern auch um alle, die erst nach längerer Zeit den Mut und die Kraft finden, sich Hilfe zu holen. Die Beratung ist kostenfrei und vertraulich. Eine Selbsthilfegruppe für Betroffene von sexualisierter Gewalt trifft sich jeden letzten Donnerstag im Monat um 14 Uhr. Nähere Infos gibt es unter Telefon 04161/ 714715. Oft sind die Beraterinnen im Gespräch. Über einen Anrufbeantworter, der zeitnah abgehört wird, ist Lichtblick aber jederzeit erreichbar.

Lebensbejahende Tänzerinnen gegen das Dunkel in der Seele: Die ME.Ninas passen perfekt in die Räume von Lichtblick.

Lebensbejahende Tänzerinnen gegen das Dunkel in der Seele: Die ME.Ninas passen perfekt in die Räume von Lichtblick. Foto: Weselmann

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