TTödlicher Unfall in Mulsum: Unbeschrankte Bahnübergänge in der Kritik

An diesem unbeschrankten Bahnübergang in Mulsum verunglückte am 26. Oktober eine Mutter mit zwei Kindern. Die 35-Jährige starb bei dem tragischen Unfall. Foto: Seelbach
Entlang der Bahnstrecke Richtung Bremerhaven gibt es eine große Zahl „nicht technisch gesicherter“ Bahnübergänge - ändert sich das künftig?
Nachbarkreise. Am 26. Oktober kollidierte eine 35 Jahre alte Autofahrerin am unbeschrankten Bahnübergang Lewinger Specken in Mulsum mit einem Personenzug. Die Mutter von drei Kindern starb; zwei ihrer Kinder (3 und 7) saßen mit im Fahrzeug und wurden schwer oder lebensgefährlich verletzt.
Der tragische Unfall an der Bahn in Mulsum lähmt das Leben im Dorf, sagt Ortsvorsteher Udo Skeraitis. Um ihre Anteilnahme auszudrücken, haben viele Menschen weit über Mulsum hinaus die Spendenaktion einer Freundin der Verstorbenen unterstützt. Bis Dienstagmittag waren bereits 20.000 Euro für die Hinterbliebenen zusammengekommen.
Statement der Deutschen Bahn
Als Netzbetreiberin äußerte sich die Deutsche Bahn tief betroffen angesichts des Unfalls, der sich aus derzeit ungeklärten Gründen am Bahnübergang in der Straße Lewinger Specken ereignet hatte. „Unsere Gedanken sind bei den Verstorbenen, Verletzten und ihren Angehörigen“: Diesen Satz stellte eine Bahnsprecherin in einer Antwort auf eine Presseanfrage der CN/NEZ-Redaktion voran.
In besagter Antwort stellte die DB dar, dass die Entscheidung, einen bestehenden Bahnübergang zu entfernen und ihn durch ein mehr Sicherheit versprechendes Kreuzungsbauwerk zu ersetzen keineswegs im Alleingang getroffen wird.
Neben der Bahn seien auch die übrigen Beteiligten einzubeziehen, etwa der Straßenbaulastträger. „Länder und Gemeinden können grundsätzlich Einfluss auf die technische Ausstattung eines Bahnübergangs - im Sinne einer höherwertigen Technik - nehmen“, fuhr die Sprecherin fort. Und sprach auch davon, dass die Finanzierung einer solchen Maßnahme abgestimmt werden müsse.
Es geht um möglichst reibungslosen Verkehrsfluss
Generell sei man bestrebt, Bahnübergänge jeglicher Art zu beseitigen und den Bau neuer zu vermeiden: So äußert sich in dieser Frage der Gesetzgeber, genauer gesagt das Bundesministerium für Digitales und Verkehr, das in seiner im April dieses Jahres veröffentlichten Ankündigung allerdings nicht zwischen beschrankten und unbeschrankten Übergängen differenziert.
Auch geht es in der Stellungnahme weniger um Unfallrisiken als um den möglichst reibungslosen Verkehrsfluss: Wartezeiten an Übergängen, so heißt es dort, seien geeignet, den Stresspegel unter Verkehrsteilnehmern zu erhöhen. Aber auch Bahnreisende würden möglicherweise „ausgebremst“ - dann nämlich, wenn Störungen an Bahnübergangsanlagen aufträten.
Auftreten können solche Defekte an 62 Prozent der im DB-Netz befindlichen Bahnübergänge: So viele der Kreuzungspunkte nämlich sind technisch gesichert, das heißt, mit Voll- oder Halbschranken, Lichtzeichen, Blinklichtern oder (im Falle von „Anrufschranken“) mit einer Sprechanlage ausgestattet.
Im Kreis Stade sind Übergänge gesichert - auf der Südachse viele nicht
Aufgerüstet wurde in dieser Hinsicht unter anderem auf der Bahnstrecke zwischen Cuxhaven und Stade: Wie die Deutsche Bahn AG am Dienstag auf Nachfrage mitteilte, sind die in diesem Streckenabschnitt befindlichen Bahnübergänge - 56 an der Zahl - technisch gesichert.
Anders verhält es sich auf der „Südachse“ zwischen Cuxhaven und Bremerhaven. 15 technisch gesicherten Gleisüberfahrten stehen dort 22 nicht technisch gesicherte Bahnübergänge gegenüber. Letztere sind lediglich mit einem Andreaskreuz gekennzeichnet, 17 davon gibt es allein in der Gemeinde Wurster Nordseeküste, wo sich vergangene Woche der Unfall ereignete.

"Achtung Bahnübergang": Dieses Verkehrszeichen weist auf einen Bahnübergang (ganz gleich, ob beschrankt oder unbeschrankt) hin. Ab diesem Zeichen, das laut Deutscher Bahn circa 240 Meter vor einem Übergang aufgestellt werden sollte, müssen Verkehrsteilnehmer eine "angemessene Geschwindigkeit" wahren. Überholen ist außerdem verboten. Foto: Schröder
So sollten sich Autofahrer verhalten
Wie ein Bahnübergang ausgestattet wird, ist keine Frage von Willkür. Maßgeblich für die verbaute Sicherungstechnik ist die im jeweiligen Abschnitt gefahrene Zuggeschwindigkeit. Auf technisch gesicherte Bahnübergänge, also auf Schranken und/oder Lichtzeichen zu verzichten, ist nur an eingleisigen Nebenstrecken zulässig, auf denen Züge maximal auf 80 Kilometer pro Stunde beschleunigen.
An diesen Stellen ist es Sache des Verkehrsteilnehmers, sich vor dem Überqueren des Gleises zu vergewissern, ob nicht ein Zug herannaht. In der Regel hat das „auf Sicht“ zu geschehen, laut DB ist aber auch auf Warnsignale zu achten, die Loks oder Triebwagen abgeben. Vielfach, auch das gehört zur Wahrheit dazu, kommt es zu Unfällen, weil Auto-, Radfahrer oder Fußgänger Umsicht vermissen lassen, leichtsinnig oder sogar riskant agieren.
Müssen die Sicherheitsvorkehrungen nicht trotzdem erhöht werden?
Diese Frage kann ein Thema im Rahmen der sogenannten Bahnübergangsschauen sein, die in der Regel turnusmäßig stattfinden. Eisenbahn-Bundesamt, Bahn, Straßenbehörde und Polizei stellen eine Querungssituation aber auch dann auf den Prüfstand, wenn sich an einem Übergang ein Unfall ereignet hat.
So wie etwa 2009 als bei einem Unfall zwischen Auto und Bahn in Nordholz zwei Menschen getötet wurden oder 2010, als ein Mensch bei einem Bahnunglück in Cappel starb. Beide Bahnübergänge wurden in den Folgejahren beschrankt.
Bahnübergänge in Mulsum seit Jahren ein Thema
Die Diskussion über beschrankte Bahnübergänge führen die Gemeinde und der Ort Mulsum schon einmal über Jahre. 2016 ploppte die Debatte nach einem Antrag der Sozialdemokraten auf. Anlass war seinerzeit aber kein Unfall.
Vielmehr hatten Anlieger an der Strecke den Lärm im Zusammenhang mit Personen- und Güterzügen beklagt, der durch Fahr- und Bremsgeräusche sowie die schrillen Pfeifgeräusche entsteht, die Lokführer vor unbeschrankten Bahnübergängen aus Sicherheitsgründen auslösen müssen.

„Als Ortsvorsteher würde ich es am besten finden, wenn wir alle vier Übergänge beschranken. Mir geht es um die Menschen, die die Übergänge vor Ort benötigen.“ (Udo Skeraitis (SPD), Ortsvorsteher Mulsum) Foto: NZ
Debatte bekommt mit Sicherheitsaspekt neuen Schwerpunkt
Anfang der 2020er-Jahre ließ das Interesse an dem Thema nach. „Und ist bis zum Unfall aus Mulsumer Sicht mit Blick auf den Bahnlärm auch nicht wieder aufgekommen“, sagt Udo Skeraitis (SPD). Der langjährige Mulsumer Ortsvorsteher führt das darauf zurück, dass Züge zwischenzeitlich leiser geworden seien und der nächtliche Güterzugverkehr abgenommen habe.
Doch nach dem schweren Unfall am 26. Oktober hat die erlahmte Debatte einen neuen Schwerpunkt bekommen: Sicherheit. „Wir werden die Debatte jetzt, mit diesem neuen Aspekt, natürlich wieder aufnehmen müssen“, sind sich Gemeindebürgermeister Jörg-Andreas Sagemühl (CDU) und Skeraitis einig. Beide betonen auch, dass selbst Schrankenanlagen keine absolute Sicherheit bringen.
Bürgermeister: Müssen alle unbeschrankten Bahnübergänge betrachten
Sagemühl spricht von einem schwierigen und langwierigen Thema. Die Gemeinde müsse sich unter dem Aspekt Sicherheit nicht nur die Mulsumer Bahnübergänge anschauen, sondern auch alle weiteren 13 Übergänge in der Gemeinde, die bislang lediglich mit einem Andreaskreuz gekennzeichnet sind. Außerdem sei es mit zusätzlichen Sicherungsanlagen an Bahnübergängen nicht getan.

Wenn ich einen Übergang unter dem Sicherheitsaspekt betrachte, muss ich vielleicht noch einmal ganz anders abwägen als unter Lärmgesichtspunkten. Foto: Leuschner
„Für uns als Gemeinde geht es auch um die Frage: Müssen wir Straßen baulich verändern, etwa weil einzelne Übergänge im Gegenzug für eine Schrankenanlage geschlossen werden? Bildet sich dadurch eine Sackgasse und müssen wir Wendemöglichkeiten schaffen?“, gibt der Gemeindebürgermeister zu bedenken. Doch vor allem benötige die Gemeinde eine Zusage von der Bahn, dass überhaupt Übergänge zusätzlich gesichert werden.
Ploppt die Diskussion um die Schließung von Übergängen wieder auf?
Ein weiterer Punkt, der im Kontext der Lärmdebatte an unbeschrankten Bahnübergängen in Mulsum schon einmal aufgeworfen wurde, ist die Frage, ob die Gemeinde bereit ist, im Gegenzug von zusätzlichen Sicherungen an Bahnübergängen andere Übergänge zu schließen.
Skeraitis erinnert sich an eine kontroverse und schwierige Diskussion. Zwar werde nicht jeder der vier Übergänge in Mulsum gleich oft frequentiert. Einige Übergänge dafür aber von schweren landwirtschaftlichen Fahrzeugen, die bei der Schließung einzelner Übergänge lange Umwege zu ihren Flächen in Kauf nehmen und verstärkt Siedlungsbereiche mitbenutzen müssten.
Fragt man Skeraitis nach Prioritäten, muss der Ortsvorsteher nicht lange überlegen: „Als Ortsvorsteher würde ich es am besten finden, wenn wir alle vier Übergänge beschranken. Mir geht es um die Menschen, die die Übergänge vor Ort benötigen.“
Bürgerversammlung in Mulsum auf November vertagt
Bevor das Thema auf die politische Agenda kommt, planen Skeraitis und Sagemühl, die eigentlich für den 26. Oktober geplante Bürgerversammlung in Mulsum nachzuholen. Beide gehen davon aus, dass der Unfall und die Sicherung von Bahnanlagen dort Thema sein werden. Die Sitzung soll nun im November stattfinden; einen Termin gibt es bisher nicht.