TTrotz Gesetzesänderung: Was behinderten Menschen beim Wählen Probleme macht

Philipp von Busch, Dominique Kielmann, Lars Leschner und Inka Böttjer wollen bei der Europawahl ihr Wahlrecht wahrnehmen. Foto: Buchmann
2019 stellte das Bundesverfassungsgericht fest: Teile des Bundeswahlgesetzes sind verfassungswidrig. Durch eine Gesetzesänderung dürfen seitdem auch vollbetreute Menschen ihre Stimme abgeben. Doch barrierefrei ist das Wahlsystem noch lange nicht.
Stade. 161.853 Menschen im Landkreis Stade sind an diesem Sonntag aufgerufen, ihre Stimme bei der Europawahl abzugeben, davon knapp 4000 Erstwähler zwischen 16 und 18 Jahren. Eine Wählergruppe war bis 2019 jedoch vollends von Wahlen ausgeschlossen: behinderte Menschen in Vollbetreuung.
Erst durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, dass diese Ausschlüsse verfassungswidrig sind, besserte der Bundestag nach und ließ etwa Hilfspersonen in der Wahlkabine zu. Doch trotz der Gesetzesänderung ist das deutsche Wahlsystem noch lange nicht barrierefrei.
Inka Böttjer arbeitet im Blumensalon der Hanse Werkstätten Stade, einer Einrichtung der Lebenshilfe Stade-Buxtehude für Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Am 9. Juni will sie ihr Kreuz in ihrem Wahllokal in Drochtersen machen. „Jeder hat ein Recht, seine Meinung abzugeben“, sagt die 33-Jährige. Dass behinderte Menschen seit der Wahlgesetzänderung 2019 auch mit Hilfspersonen wählen dürfen, findet sie gut. „Es gibt Leute, die nicht gut lesen können“, sagt sie. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband schickt Sehbeeinträchtigten kostenfrei Wahlschablonen oder CDs zum Vorlesen des Wahlzettels zu.
Probleme mit dem Wahl-O-Mat
Auch Lars Leschner will von seinem Wahlrecht Gebrauch machen. Im Vorfeld hat der 28-Jährige sich mit dem Wahl-O-Mat über die Parteien informiert, den die Bundeszentrale für politische Bildung bereitstellt.
Jedoch stößt Leschner beim digitalen Hilfsmittel auf Probleme. „Die Fragen im Wahl-O-Mat waren teilweise schwierig zu verstehen“, sagt Lars Leschner. In leichter Sprache wird nämlich nur die Funktionsweise des Wahl-O-Mats erklärt, nicht jedoch die Thesen. Eine Fachkraft der Hanse Werkstätten habe ihn dabei unterstützt.. „Ich finde es wichtig, dass Informationen zur Wahl leicht verständlich sind“, sagt Leschner.

Aus ihren Wahlbenachrichtigungen erfahren Wähler, in welchem Wahllokal sie ihre Stimme abgeben können. Foto: Buchmann
Philipp von Busch aus Assel und Dominique Kielmann aus Stade bereiten sich unterschiedlich auf die Europawahl vor. Während von Busch jetzt schon weiß, wen er wählen will, informiert sich Kielmann regelmäßig über die Zeitung oder das Fernsehen zu politischen Themen. Wählen wollen sie auf jeden Fall, sehen jedoch Verbesserungsbedarf. „Der Wahlzettel ist viel zu groß und unübersichtlich bedruckt“, kritisiert Philipp von Busch. Eine kleinere Variante mit doppelseitigem Druck fände Dominique Kielmann hilfreich.
Warum Menschen aus Enttäuschung nicht wählen gehen, kann Lars Leschner verstehen. „Ich habe es auch schon erlebt, dass Politiker ihre Wahlversprechen nicht eingehalten haben“, sagt der 28-Jährige. „Da fühlt man sich verarscht.“ Die Leute seien alt genug, um selbst zu bestimmen, ob sie ihre Stimme nutzen. Doch die Konsequenzen müssten ihnen dann bewusst sein, findet Leschner. „Wer nicht wählt, muss auch damit klarkommen, was gewählt wird“, sagt er deutlich.
Bewilligungsbescheid
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Werkstattleiter Arne Laß sieht in der Sprache weiterhin eine große Hemmschwelle für behinderte Menschen. „Informationsbeschaffung ist in unserer Gesellschaft immer noch eine Holschuld“, sagt Laß. Wer etwa Wahlprogramme verstehen wolle, müsse selbst dafür sorgen, dass er sie versteht. „Das funktioniert jedoch nicht für Bürger mit einem begrenzten Wortschatz“, kritisiert der Werkstattleiter. Das führe dazu, dass viele behinderte Menschen sich immer noch ausgeschlossen fühlen.
Vollbetreute Menschen bis 2019 von Wahlen ausgeschlossen
Daher sei es immens wichtig, ihnen etwa durch die Bereitstellung verständlicher Informationen Teilhabe zu ermöglichen. „Es ist ein Lernprozess für behinderte Menschen, dass ihre Meinung einen Wert hat“, sagt Laß. In den Hanse Werkstätten gebe es deshalb wöchentlich Gruppengespräche zwischen den Mitarbeitern und Fachkräften, um sich über relevante Themen auszutauschen und Fragen zu stellen.

Rund 250 Wahlschablonen verschickte der Blindenverband Niedersachsen an Menschen in der Region Elbe-Weser (inklusive dem Landkreis Stade). Foto: BVN
Ein barrierefreier Zugang zum Wahllokal sowie die Nutzung von Hilfsmitteln ist für viele Menschen mit Behinderung unerlässlich. Einen Anspruch auf behindertengerechten Zugang zum Wahlraum gebe es jedoch nicht, teilt die niedersächsische Landeswahlleiterin auf Anfrage mit. Betroffene könnten per Briefwahl oder durch eine Hilfsperson wählen.
In Stade bevorzugen die meisten behinderten Menschen die Briefwahl, bestätigt der städtische Behindertenbeauftragte Horst Mau. Er wisse von einigen, die ihr Kreuz gerne vor Ort machen würden. Zum Beispiel Rollstuhlfahrern bleibe dann oft nur die Briefwahl. Denn in Stade gebe es keine Fahrdienste zu den Wahllokalen.