TUrteil lautet Mord: Clan-Prozess endet mit brutaler Gewalt im Gerichtssaal

Mustafa M. wird in Handschellen vorgeführt. Foto: Sina Schuldt/dpa-Pool/dpa
Am Ende bricht die Hölle los. Die Opferfamilie ist sauer, dass Mustafa M. für den Mord an Khaled R. vielleicht nur 15 Jahre einsitzt. Protokoll eines Ausnahmezustands.
Stade. Den ganzen Tag über herrschte im und vor dem Landgericht in Stade gespenstische Stille. Polizei und Justiz sicherten den Schwurgerichtssaal mit einem Großaufgebot. Sogar Kräfte aus dem Strafprozess gegen die frühere Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette waren vor Ort. Die Großfamilien Al-Zein und Miri verfolgten die Urteilsverkündung ab 13.30 Uhr ohne Zwischenrufe. Doch am Ende der Urteilsverkündung brach die Hölle los.

Polizisten sichern das Landgericht in Stade. Foto: Vasel
Mit Fäusten schlugen die Männer urplötzlich aufeinander ein, sie traktierten sich mit Tritten. Beleidigungen und Drohungen fielen, vor allem auf Arabisch. Einige versuchten, über die mehr als mannshohe Panzerglasscheibe zu klettern, die Zuschauer vom Gericht trennt. Ihr Ziel war klar: Sie wollten Mustafa M. angreifen.
Justizwachtmeister versuchten, den Verurteilten in Sicherheit zu bringen. Doch einen der Brüder des getöteten Khaled R. hatten sie einige Sekunden lang nicht auf der Rechnung. Er setze Mustafa M. nach - und versuchte, noch im Flur auf den Mörder seines Bruders einzuschlagen.

Der Angeklagte im Gespräch mit seinen Anwälten Dinah Busse und Dirk Meinicke. Foto: Sina Schuldt/dpa-Pool/dpa
Währenddessen tobte die Saalschlacht weiter. Den Justizwachtmeistern gelang es schließlich mit vereinten Kräften, die zwei Familien unter Kontrolle zu bringen und letztlich zu trennen - unter Einsatz von Gewalt und Pfefferspray.
Ein muskelbepackter Mann konnte in letzter Sekunde von der Wandverstrebung über der Panzerglasscheibe gezogen werden. Mindestens ein Justizangestellter wurde durch den Pfefferspray-Einsatz verletzt.
Blankes Entsetzen stand vielen ins Gesicht geschrieben. Kammer, Verteidigung, Nebenklage-Anwalt, Staatsanwältin und Gerichtsreporter von TAGEBLATT, NDR und dpa mussten im Besprechungsraum der Richter warten, bis sich die Lage beruhigt hatte.
Ob es den Justizwachtmeistern gelang, den Angriff des Nebenklägers auf den Verurteilten zu verhindern, ist noch offen. Polizei und Justiz konnten diese Frage am Freitagabend nicht beantworten.
Schwer bewaffnete Kräfte der Stader Verfügungseinheit - ausgerüstet wie ein SEK - brachten Mustafa M. (35) in einem Konvoi unter Blaulicht und Vollgas zurück in die U-Haft. Offenbar bestand die Sorge, dass einige Al-Zeins doch noch Selbstjustiz üben könnten.
Mustafa M. spricht Opferfamilie sein Beileid aus
Der Morgen des 34. Prozesstags hatte noch nach Plan begonnen. Ein letzter Zeuge wurde per Video vernommen, damit war die Beweisaufnahme beendet. Kurz vor der Mittagspause erteilte der Vorsitzende Richter Erik Paarmann dem Angeklagten das Wort. Mustafa M. brach sein Schweigen.
In seinem letzten Wort sprach er der Familie von Khaled R. sein „herzliches Beileid“ aus. Aus Respekt vor dem Leid der Opferfamilien habe er den Angehörigen während der 34 Prozesstage nicht in die Augen geschaut. Es sei nicht seine Absicht gewesen, Khaled R. mit dem Messerstich zu töten.
„Ich habe aus Sorge um meinen Bruder gehandelt. Mir tut es leid“, sagte der 35-Jährige - ohne ein Anzeichen menschlicher Regung in seiner Aussprache. Danach wandte sich der Angeklagte seinen Anwälten Dinah Busse und Dr. Dirk Meinicke zu und dankte ihnen, dass sie trotz der Bedrohungen standhaft geblieben seien. Das quittierten einige Angehörige der Familie Rachid-Al-Zein mit Raunen.
Mustafa M. ist laut Gericht ein Mörder
Um 13.30 Uhr verkündete der Vorsitzende Richter Erik Paarmann im Namen der 1. Großen Strafkammer schließlich das Urteil: „Der Angeklagte ist des Mordes schuldig.“ Die Kammer verurteilte Mustafa M. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Was heißt das? Er wird für mindestens 15 Jahre hinter Gittern landen. Eine besondere Schwere der Tat sah die Kammer - im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft - nicht. In diesem Fall hätte Mustafa M. mindestens 20 bis 25 Jahre oder länger hinter Gittern warten müssen, bevor eine Prüfung der Haftentlassung stattfindet.
„Das ist eine schwere Tat. Was glaubt ihr?“, warf der offenbar zutiefst enttäuschte Bruder des Getöteten den Richtern mehrfach an den Kopf, während Angehörige ihn beruhigen wollten.

Das Salztor ist abgesperrt: Blick auf einen Tatort der Auseinandersetzung zwischen zwei kriminellen Clans in Stade im März 2024. Foto: Polizei
Für das Gericht ist klar, dass Mustafa M. von Anfang an in den seit 2023 tobenden Streit zwischen den Familien involviert war. Bekanntlich hatten die Al-Zeins in Buchholz einen Shisha-Laden eröffnet. Bis zu dem Zeitpunkt hatten die Miris den Shisha-Markt in der Stadt beherrscht. Die Miris hätten das als Respektlosigkeit empfunden.
Mustafa M. sei durch Gewalt aufgefallen - unter anderem bei einem Angriff auf Al-Zeins vor einem Döner-Laden in Buchholz. Islamische Friedensrichter konnten den Streit der Clans nicht schlichten. Dem folgte - nach Preiskampf und gegenseitigen Beleidigungen - am 22. März 2024 ein Angriff auf das Shisha- und Sportschuh-Geschäft der Miris in der Hökerstraße in Stade. Die wiederum griffen das Wohnhaus der Familie von Khaled R. an. Am Abend eskalierte der Streit.
Mustafa M. habe am Salztor gezielt von hinten mit dem Messer auf Khaled R. eingestochen - mit großer Wucht. Es sei keine Nothilfe gewesen. Der Richter sprach von einer archaischen, brutalen Tat. Polizisten waren nach der Schlägerei zwischen Mustafas Bruder Jalal M. und einem der Nebenkläger längst vor Ort, deshalb sei Mustafas Bruder nicht in Gefahr gewesen.
Der Angeklagte habe Khaled R. „schlicht aus Wut“ verletzen wollen und den Tod billigend in Kauf genommen. Paarmann warf ihm Selbstjustiz vor. Er habe das staatliche Gewaltmonopol missachtet. Das Gericht sprach von Heimtücke. Niedere Beweggründe sah das Gericht allerdings nicht, es sei „kein klassischer Fall von Blutrache“.

Er ist laut Gericht ein Mörder: Der Angeklagte spricht am Tag der Urteilsverkündung mit seinen Anwälten Dinah Busse und Dr. Dirk Meinicke. Foto: Sina Schuldt/dpa-Pool/dpa
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Verteidiger Dr. Meinicke, er hatte auf Freispruch wegen Nothilfe oder allenfalls Totschlag plädiert, kündigte noch im Saal an, in Revision gehen zu wollen.

Überall in der Stader Altstadt war am Freitag die Polizei zu sehen - vor allem in der Nähe des Justizgebäudes. Foto: Vasel
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