TSo sehr leiden die Kinder – Mordprozess enthüllt ihre Schicksale

Der Angeklagte steht neben seiner Verteidigerin im Gerichtssaal des Landgerichts Verden. Der Soldat steht unter Verdacht, mit einer Waffe vier Menschen im niedersächsischen Landkreis Rotenburg ermordet zu haben. Am Freitag soll das Urteil verkündet werden. Foto: Sina Schuldt
Traumatisierte Kinder, unerträgliche Bilder: Soldat Florian G. löschte vier Leben aus und machte damit Familien und Freunde ebenfalls zu Opfern. Das Leid hält bis heute.
Scheeßel. Eine Elfjährige musste in Brockel mit ansehen, wie ihre Mutter und die dreijährige Schwester erschossen worden sind. Ein Sechsjähriger hörte, wie in Westervesede sein Vater getötet wurde und sah ihn dann am Boden liegen. Sie sind die jüngsten Opfer des geständigen Soldaten Florian G.. Vielfach ist es die Polizei, die Angehörigen die Todesnachricht so schonend wie möglich überbringt. Doch bei diesen unfassbaren Taten hörten die nächsten Angehörigen selbst die Schüsse und fanden die Getöteten.
Der Mann, der bei der Tat in Westervesede seine Frau und seinen Sohn verloren hat, wohnte mit diesen in einem Haus. Er hatte seinen sechsjährigen Enkel aus der Wohnung des Vaters im Obergeschoss geholt und sich mit dem Jungen bis zum Eintreffen der Polizei aus Todesangst im Keller versteckt.

Ein Sarg wird aus einem Einfamilienhaus in der Gemeinde Scheeßel getragen. In der Nacht zum 1. März 2024 wurden in Brockel und Westervesede insgesamt drei Erwachsene und ein Kind erschossen. Foto: Sina Schuldt
Die Eltern der erschossenen 33-Jährigen wohnten direkt nebenan in dem Doppelhaus und waren sofort hinübergelaufen. Sie fanden im Kinderzimmer der Dreijährigen die Leiche ihrer Enkelin und ihrer Tochter.
Unerträgliche Bilder prägen den Mordprozess
Was auf Fotos zu schrecklich ist, um es in dem Mordprozess am Landgericht Verden öffentlich zu zeigen, haben diese Menschen als Erste am Tatort gesehen. Von „unerträglichen Bildern“ sprach die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Selbst Polizeibeamte hätten schwer damit zu kämpfen gehabt, diese aus dem Kopf zu bekommen.
Ein Jahr später steht der Prozess nach 25 Verhandlungstagen kurz vor dem Abschluss. An diesem Freitag um 11 Uhr will die 1. Große Strafkammer ihr Urteil verkünden. Weil die Verdener Stadthalle nicht zur Verfügung steht, im Schwurgerichtssaal des Landgerichts.
Traumatisierte Kinder und ihre Familien
Die Ex-Frau des getöteten 30-Jährigen aus Brockel war als eine der neun Nebenkläger an jedem Verhandlungstag anwesend. „Sie wollte verstehen, was ihr Sohn erlebt hat, was er gehört hat in dieser Nacht“, sagte die Anwältin dieser Familie in ihrem Plädoyer. Um es selbst zu verstehen und um Fragen ihres Sohnes beantworten zu können. Bis heute sei der Junge „massiv traumatisiert“. Er habe „Todesängste und massive Verlustängste. Dass er noch weitere Angehörige verlieren könnte und alleine auf der Welt ist“, so die Opferanwältin.

Beamte der Spurensicherung gehen nach der Tat im März des vergangenen Jahres zu einem Einfamilienhaus in der Gemeinde Scheeßel. Foto: Sina Schuldt
Sein Opa war wiederholt bei den Verhandlungen anwesend, nachdem er als Zeuge ausgesagt hatte. Vor zwei Wochen hätte er den 31. Geburtstag seines einzigen Sohnes feiern können. Stattdessen hörte er das Geständnis des Angeklagten. Wie er die 55-Jährige und den 30-Jährigen kaltblütig erschossen habe und dass er auch den 56-Jährigen erschossen hätte, wenn er ihn im Haus angetroffen hätte.
Zuschauer und ihre Reaktionen im Gericht
„Wir haben gehört, was die Taten mit den Angehörigen und Freunden gemacht haben“, so die Anwältin. So mancher sei bei dem Prozess als Zuschauer dabei gewesen. „Als Abschluss, weil man sonst nicht damit umgehen kann.“ Dass es auch für die Zuschauer vielfach unerträglich gewesen seien dürfte, was der Angeklagte in dem Prozess und gegenüber einem Sachverständigen gesagt hat, hatte zuvor auch die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer festgestellt.

Blumen und Kerzen liegen nach der Tatnacht vor einem Einfamilienhaus. Foto: Sina Schuldt
Die Verteidigerin merkte dazu später in ihrem Schlussvortag an, dass die Zuschauer freiwillig den Prozess verfolgt hätten und bei den Worten der Staatsanwältin habe sie gedacht, wenn sie es nicht ertragen könne, dann solle sie nicht fragen. Mitgefühl habe sie ausschließlich mit den Angehörigen.
Es wird dem Angeklagten geglaubt, dass er die Dreijährige nicht töten wollte. Aber er wusste, weil die getötete Mutter die beste Freundin seiner damaligen Ehefrau war, dass sie zwei Töchter hatte. Und dass der neue Partner seiner Frau auch Vater eines Jungen war.
„Es war ihnen völlig egal, drei Kindern den Vater beziehungsweise die Mutter zu nehmen, wo sie selbst ein Kind, vielleicht auch zwei haben“, hielt der Anwalt der zweiten Opferfamilie dem Angeklagten vor. „Sie gehen kaltblütig, eiskalt über diesen Punkt hinweg.“ Die Formulierung „vielleicht“ verwendete er, weil laut dem Angeklagten nicht fest stehe, dass er Vater des Kindes ist, mit dem seine Frau zum Tatzeitpunkt schwanger war. Die Schwiegermutter hatte dies jedoch in ihrer Aussage bestätigt.
Die schwierigen Gespräche der Anwälte
Der Anwalt berichtete von einem Gespräch mit dem Vater des Mädchens, das Mutter und Schwester verloren hat. „Es war ganz schwer erträglich, zu hören, wie es ihr geht. Da hätte manchem hier der Atem gestockt.“
Den Eltern der getöteten 33-Jährigen erklären zu müssen, dass die Tötung der dreijährigen Enkelin nur fahrlässig gewesen sei, was er juristisch genauso bewertet, sei eines seiner schwersten Telefonate gewesen, berichtete der erfahrene Opferanwalt. „Die haben diese schrecklichen Bilder vor Augen. Von den zerschossenen Körpern ihrer Tochter und Enkeltochter.“
Die Beweisaufnahme und ihre Erkenntnisse
Doch wie konnte es dazu kommen, dass ein Mann, der sich als Soldat und Bürger offenbar nie etwas zuschulden hat kommen lassen, dann einen solchen Rachefeldzug scheinbar akribisch vorbereitet und vier Menschen gezielt tötet? Diese Frage spielte in der Beweisaufnahme eine große Rolle.
25 Zeugen und fünf Sachverständige wurden seit dem Prozessauftakt am 21. August 2024 gehört. Unter anderem die Schwiegermutter und Schwägerin des Angeklagten, die ihn in der Trennungsphase unterstützt hatten, weil sie das Verhalten ihrer Tochter beziehungsweise Schwester nicht nachvollziehen konnten. Genauso wie eine Freundin schilderten sie ihr Unverständnis, wie sich die später getötete 33-Jährige und die Ehefrau in dieser Trennungsphase gegenüber Florian G. verhalten haben.
Der Angeklagte wurde als sehr liebevoller Vater beschrieben, der für seine Familie alles getan habe. Verlesen wurden Textnachrichten, die belegen, dass man in der Trennungsphase mit dem 33-Jährigen absolut nicht fair umgegangen ist.

Gegenstände liegen neben einem Auto in der Nähe einer Kaserne. Foto: Sina Schuldt
„Sie wollen mir alles wegnehmen, mir beruflich schaden.“ Man habe versucht, seinen Sohn gegen ihn aufzuhetzen, so die spätere Erklärung des Angeklagten für die Taten. Als er in den Stunden danach noch flüchtig war, wurde unter anderem die Ehefrau geschützt, weil niemand wusste, ob er weitere Menschen auf seinem Rachefeldzug im Visier haben könnte.
Ein außergewöhnlicher und aufwühlender Fall
Die Staatsanwältin sprach von einem „ausgesprochen besonderen Verfahren“. Wegen der Anzahl der Opfer, darunter ein dreijähriges Kind. Weil ein Babyfon zwei Tötungsdelikte gefilmt hatte, dann das Kinderzimmer als Tatort. Und nicht zuletzt der Angeklagte, ein Berufssoldat stationiert in Seedorf, und seine schockierenden Aussagen. Erst bei einem psychiatrischen Sachverständigen und später, sehr spät in dem Prozess. Es war der 20. Verhandlungstag. Er könne besser essen und schlafen, seit diese Menschen nicht mehr da sind, war eine dieser Aussagen.
Die Bundeswehr sei seine zweite Familie gewesen und als ihm klar geworden sei, dass er diese nach einer Anzeige des neuen Freundes seiner Frau auch verlieren würde, habe er nicht mehr leben wollen, argumentierte die Verteidigerin. Selbst sprach er bezogen auf die Bundeswehr von „Schikane“ und Bestrafungen nach Fehlern durch Schläge und Tritte. Einsätze hätten ihn paranoid gemacht. Und die jetzige Untersuchungshaft sei „nicht viel anders als bei der Bundeswehr“.
Bereit ist er allerdings, Schmerzensgeld zu zahlen. Vor den Plädoyers wurde das Schwurgericht über einen Vergleich informiert. Die beiden Kinder sollen jeweils 30.000 Euro erhalten und die Eltern der getöteten 33-Jährigen jeweils 15.000 Euro. Wann, bleibt offen. Aufgrund der Inhaftierung seien derzeit keine Zahlungen möglich, so die Verteidigerin.