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24-Stunden-Reportage

TWie ein Dorf mit dem Festival-Wahnsinn beim Deichbrand lebt

Gut 60.000 Festivalbesucher kommen zum Deichbrand.

Gut 60.000 Festivalbesucher kommen zum Deichbrand. Foto: dpa (Archiv)

Die Ruhe vor dem Rausch gibt es nicht. Beim Deichbrand ist das Partyvolk schon am Tag vor den ersten Auftritten on fire und hat das Festivalgelände lautstark und bunt in Beschlag genommen. Es gibt aber auch Oasen für weniger Feierwütige. Im Dorf.

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Von Jan Bröhan
Freitag, 19.07.2024, 17:50 Uhr

Landkreis. Es ist teils wie eine Art Wettbewerb. Ausgerüstet mit Generatoren bauen sich Gruppen von Festivalbesuchern ihre Lager für fünf Tage. Wer hat den größten Kühlschrank am Start, wer die dicksten Boxen, wer das bequemste Sofa. Der Alkohol fließt durch Trichter an Schläuchen in die Kehlen und schmiert die gegen die Bässe anlachenden Stimmbänder. Die Tanzbewegungen werden durch Ausfallschritte kreativ.

Die Festivalbesucher haben das etwa zehn Hektar große Camp Womo Central 1, eines von zehn verschiedenen Camps rund um das Festivalgelände, schon am Mittwoch fest im Griff. Sie feiern sich selbst. Und haben Ausdauer. Die Bands treten dann von Donnerstag bis Sonntag auf vier verschiedenen Bühnen auf. Das Deichbrand findet gerade zum 19. Mal statt und ist stark gewachsen. Bei der Erstauflage 2005 waren keine 1000 Besucher da, jetzt sind es 60.000.

Die Einheimischen profitieren von dem Partyvolk

Der kleine Ort Wanhöden liegt direkt unterhalb des Deichbrand-Festivals. Das Camp Womo Central 1 hat einen direkten Eingang zum Festivalgelände. Der Landwirt Bernd Schütt-Benthin verpachtet die Fläche an die Organisatoren. Er selbst bietet auf seinem angrenzenden Hof auch Stellplätze an. Inmitten von Stallgeruch gibt es zudem Döner-, Pizza- und Bierbuden.

Wie der Hof Schütt-Benthin bieten auch wenige andere Bewohner von Wanhöden Dienstleistungen an, werben an der Dorfstraße mit selbst gemachten Schildern, locken mit Duschen und Toiletten, bieten Frühstück oder Herzhaftes an oder Stellplätze etwas ab vom Trubel.

Schon seit 2010 mischt die Familie Kerkow ordentlich mit. Das Elternhaus liegt nur wenige Meter entfernt vom Womo Central 1 und damit in bester Lage für Festivalgänger.

Daniel (links) und Dirk Kerkow haben während des Deichbrand-Festivals lange Tage und kurze Nächte. Im Hintergrund nehmen die Altländer Stephan und John noch einen letzten Absacker.

Daniel (links) und Dirk Kerkow haben während des Deichbrand-Festivals lange Tage und kurze Nächte. Im Hintergrund nehmen die Altländer Stephan und John noch einen letzten Absacker. Foto: Bröhan

Gegen 23 Uhr genehmigen sich die beiden Altländer John und Stephan an der Wurstbude bei den Kerkows noch Currywurst und Pommes. Danach gibt es noch kurz am Getränkestand im Vorgarten des großen Grundstücks einen Absacker.

Der Privatgarten verwandelt sich in einen Campingplatz.

Der Privatgarten verwandelt sich in einen Campingplatz. Foto: Bröhan

Dann schlendern sie zurück zu ihrem kleinen aufgeschlagenen Lager im großen, zugewachsenen Gartenstück seitlich des Einfamilienhauses der Kerkows. Hier haben Festivalbesucher einen Rückzugsort, während auf den ausgewiesenen Partygeländen des Festivals auch mal die Überdosis an Gewusel und Geräuschkulisse droht.

Das Konzept der Kerkows geht auf

Biggi‘s Rauchergarten nennt Familie Kerkow ihr Grundstück während des Deichbrand-Festivals. Selbstredend: Biggi‘s Raucherkneipe war schließlich einst die ortsansässige Gastwirtschaft von Mutter Birgit.

Alle sind voll eingespannt, Vater Hartmut, Mutter Birgit und die Söhne Jens, Daniel und Dirk, deren Frauen und Kinder auch immer mal aushelfen. „Angefangen haben wir mit einem Grill, einem kleinen Zelt und einem Pavillon mit Getränken“, sagt Daniel.

Um Mitternacht ist es am Getränkestand im Vorgarten noch gut gefüllt.

Um Mitternacht ist es am Getränkestand im Vorgarten noch gut gefüllt. Foto: Bröhan

Heute bringt er, fest zuständig für den Campingbereich, bis zu 30 kleine Gruppen, die mit Wohnmobilen, Bussen oder Zelten kommen, in dem Garten unter. „Das ist wie Tetris.“ 35 Anfragen hat er dieses Jahr an einen Freund im Dorf weitervermittelt.

Es gibt auch Stammgäste, die während des Deichbrands kommen, aber gar keine Festivalgänger sind. Die nehmen nur die Atmosphäre mit. 35 Euro kostet der Stellplatz pro Person bei den Kerkows, wesentlich weniger als die Stellplätze auf dem Deichbrand-Gelände.

Dirk bewirtschaftet den Getränkestand. Die Mutter bietet schon ab 6 Uhr Frühstück an. Sie haben Duschmöglichkeiten und ein mobiles WC-Häuschen, das für Festivalgänger geradezu luxuriös ist. „Keramik“, betont John und meint die richtigen Toiletten und Waschbecken. Herren mittleren Alters meiden Dixis auf Großveranstaltungen lieber.

Die beiden Altländer schlagen ihr Camp auf und hoffen, nach anstrengenden Festivaltagen hier genügend Ruhe zu haben.

Die beiden Altländer schlagen ihr Camp auf und hoffen, nach anstrengenden Festivaltagen hier genügend Ruhe zu haben. Foto: Bröhan

Während John und Stephan den Abend bei leiser Musik und einem letzten Getränk in ihrem Camp ausklingen lassen, hat Dirk kurz vor Mitternacht noch gut 50 Gäste rund um den Bierstand stehen und sitzen. Aus der Box dröhnt „Ich bin Bier-, Bier-Aktivist.“ Über den Tresen gehen ordentlich Mischgetränke. Bis 3 Uhr wird er geöffnet haben.

Die vier Partytage sind arbeitsintensiv

Die Gäste am Getränkestand kommen aus der Nachbarschaft und von anderen Festival-Camps. Der Anreisetag sei immer eher harmlos, sagt Dirk. Es wird mehr die nächsten Tage. „Es ist immer schön, wenn es losgeht, aber auch, wenn es vorbei ist“, sagt Dirk. Er hat während des Deichbrand-Festivals drei, vier Stunden Schlaf am Tag. „Ab Freitag bin ich eigentlich kaputt.“ Aber das Ganze ist schließlich „auch ein bisschen Dorffest“.

Daniel findet, dass sich ruhig noch mehr Bewohner und Nachbarn mit Ideen und Angeboten einbringen sollten. „Dann haben wir auch mehr Leute im Dorf.“ Einfach so mitzumachen, ist natürlich nicht so einfach. Gewerbeschein, Gesundheitszeugnis, Kontrollen vom Zoll, Ordnungsamt, Abwasserverband. „Muss alles angemeldet sein, muss alles seine Ordnung haben“, so Daniel mit dem dazugehörenden Unterton und einem Lächeln.

Daniel wuselt an dem Anreisetag, wenn das Dorf in den Ausnahmezustand versetzt wird, permanent auf dem Grundstück herum. Er macht Meter und hat dabei genügend Zeit für einen Plausch da und ein Getränk hier. Kurz nach 23 Uhr fragt Dirk seine Frau, ob sie seinen Bruder mal kurz suchen könnte. Der sucht da noch einen Schraubendreher in der richtigen Größe. Irgendwas ist immer, sagt er.

Wenn sein Telefon klingelt, ertönt Metallica. Die Band ist oft von irgendwoher zu hören.

Einige Dorfbewohner locken Festivalbesucher mit Dienstleistungen und Angeboten.

Einige Dorfbewohner locken Festivalbesucher mit Dienstleistungen und Angeboten. Foto: Bröhan

Feierabend definiert Daniel so: „Entweder ist der Erschöpfungszustand erreicht oder es ist nix mehr los.“ Es sei aber auch schon mal vorgekommen, dass die Bar im Garten 24 Stunden auf war. Die Kerkows leben das Deichbrand. Sind ja nur fünf Tage im Jahr. Und um Mitternacht ist dann halt noch keine Bettzeit.

Die beiden Altländer freuen sich derweil, dass sie am Anreisetag schon vor Mitternacht eine ruhige Nacht einleiten können. Die vier Festivaltage werden sie konditionell noch fordern. Zumindest können sie dann abseits des Festivalgeländes besser ausschlafen. „Ganz wichtig“, sagt John.

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