TZeitzeugen warnen vor Rechtsextremismus und fordern Haltung von Harsefelder Schülern

Manfred Hüllen, Frauke Petershagen und Rolf Schultz-Süchting von den Hamburger Zeitzeugen. Foto: Fehlbus
Es ist eine Mahnung, das zu erhalten, was das Leben junger Menschen glücklich und friedlich macht: Demokratie. Zeitzeugen erinnern im Harsefelder Aue-Geest-Gymnasium an Krieg und Nationalsozialismus - und sie schlagen immer wieder die Brücke in die Gegenwart.
Harsefeld. Manfred Hüllen wurde in dem Jahr geboren, in dem der Zweite Weltkrieg begann. Frauke Petershagen schon drei Jahre früher, 1936. Sie in Hamburg, er in Düsseldorf. Beide haben als damals Fünf- bis Neunjährige Erinnerungen an die Zeit des Krieges, schildern sie eindringlich.
Die 15- und 16-Jährigen, die in der Aula des Aue-Geest-Gymnasiums in Harsefeld sitzen und den beiden über 80-jährigen Zeitzeugen sowie dem 79 Jahre alten Rolf Schultz-Süchting zuhören, bekommen einen Einblick in eine vergangene Zeit.
Haben sie Hitler persönlich gesehen? Was haben sie von ihm gehalten? Das wollen die Schüler der Geschichtskurse von den Gästen wissen. Es ist die Chance, das Geschichtsbuch zum Leben zu erwecken. „Ich habe jetzt das Gefühl, Ort und Zeit besser einordnen zu können“, sagt Carlotta (15) am Ende. Das war das eine Ziel der Veranstaltung.
Seine Schwester starb bei einem Tieffliegerangriff in Thüringen
Die zweite Botschaft der Zeitzeugen: „Zeigt Haltung, schaut hin, hört nicht auf Rechtsradikale und Populisten“, sagt Manfred Hüllen. „Geht auf die Straße, protestiert, wenn AfD-Politiker Nicht-Herkunftsdeutsche in Anatolien oder sonst wo entsorgen wollen und passt auf, dass ihr nicht irgendwo reingezogen werdet“, sagt Rolf Schultz-Süchting. 50 Jahre hat er als Rechtsanwalt gearbeitet. „Ich habe vor Gericht meine Meinung gesagt, andere Meinungen vertreten. Ich durfte das. Und ich bin dankbar, dass ich in der Bundesrepublik groß geworden bin“, sagt er.

Schüler Jarik hält den Bombensplitter in den Händen. Er gibt den jungen Menschen ein Gefühl dafür, wie gefährlich die scharfen Kanten bei der Explosion waren. Foto: Miriam Fehlbus
Manfred Hüllen bezeichnet sich selbst als Pazifist. Kurz darauf gibt der 84-Jährige einen Bombensplitter durch die Reihen. Metall. Messerscharf. Tödlich. Alle drei Besucher von der Zeitzeugenbörse Hamburg haben Menschen im Krieg verloren, die zu ihrer Familie gehörten.
Manfred Hüllen hat 1944 den Tod seiner Schwester bei einem Tieffliegerangriff in Thüringen miterlebt. Rolf Schultz-Süchtings Vater starb als Wehrmachts-Soldat an der Front vor Leningrad. Er sollte ihn nie kennenlernen.
Nationalsozialismus
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Sie verliert Familienangehörige im Hamburger Feuersturm
Frauke Petershagens Erinnerungen liegen örtlich am dichtesten an Harsefeld. Sie war am ersten Tag der Operation Gomorrha, dem Luftangriff von Briten und US-Amerikanern auf Hamburg, bei ihrer Tante und ihrem Großvater in Hammerbrook.
Sie erzählt von einem Sirren in der Luft, einem Pfeifen und dann den Explosionen. In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 saß sie mit Mutter, Tante, Opa im Keller. „Vorher haben wir den Krieg eigentlich nicht gespürt“, sagt sie. Am nächsten Morgen war es still, erzählt die heute 87-Jährige. Ihre Mutter habe gesagt, sie müssten hier weg. Die Ahnung der Mutter sollte sich bestätigen.
So war Frauke Petershagen am 27. Juli, als das Inferno des Feuersturms nach dem Abwurf von Brandbomben den Osten Hamburgs überrollte, am Deich in den Vierlanden, nicht in Hammerbrook.
„Ich habe auf dem Deich gestanden und den Himmel gesehen, der feuerrot über Hamburg glühte. Und ich weiß nicht, warum es an diesem Tag so zu sehen war, aber da waren auch die Gerippe von Gebäuden am Horizont“, sagt sie.
Wenig später kamen einige der Überlebenden in Kirchwerder an. Zum Teil mit schwersten Verbrennungen. „Meine Tante und meinen Großvater haben wir nie wieder gesehen“, sagt sie tonlos. 30.000 Menschen starben damals. Auch Hammerbrook war im Feuersturm völlig zerstört worden.
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Die Bilder von damals erinnern an den Ukraine-Krieg
„Ich habe auf Trümmern gespielt, so wie ihr es heute auf Bildern aus der Ukraine seht“, sagt Rolf Schultz-Süchting. Die Ukraine, Waffenlieferungen - ein Dilemma. „Die Ukraine kämpft verzweifelt um das, was wir hier haben - Demokratie“, sagt Manfred Hüllen: „Ich wollte nie wieder Waffen irgendwohin liefern, ich bin Pazifist, aber soll ich sagen, kämpft nicht dafür?“ Warum es immer wieder Krieg gibt, die Frage steht im Raum.
„Die menschlichen Urinstinkte scheinen gegen das Fremde ausgerichtet zu sein und darauf abzuzielen, Macht auszuüben“, sagt Rolf Schultz-Süchting. „Aber wir müssen es überwinden, mit rationalem Denken!“
Morgens wurde das Horst-Wessel-Lied gesungen
„Damals hatten wir nicht die Möglichkeiten, uns auf so viele Arten zu informieren wie ihr heute“, sagt Frauke Petershagen. „Natürlich habe ich als Kind viel von Hitler gehalten. Ich wollte in den Bund Deutscher Mädchen. Wir haben nur tolle Sachen über ihn gehört, im Kindergarten schon auf Landkarten geschaut und jeden Morgen das Horst-Wessel-Lied und die Nationalhymne gesungen. Wir waren indoktriniert.“

Jarik und Carlotta gehörten zu den Schülerinnen und Schülern aus vier Geschichtskursen, die den Zeitzeugen ihre Fragen stellten. Foto: Miriam Fehlbus
Umso wichtiger ist für sie und die anderen Zeitzeugen heute die Aufarbeitung der Geschichte. Noch gibt es die Erinnerungen von lebenden Menschen. „Mich hat besonders beeindruckt, wie Manfred Hüllen vom Tod seiner Schwester erzählt hat“, sagt Jarik (15). „Und es hat mir Mut gemacht, bewusst gegen Rechtsextremismus zu opponieren.“