TBegegnung mit dem Serienmörder? Staderin ausspioniert und verfolgt
Alexandra Schade aus Stade mit dem Privatermittler Reinhard Chedor. Hier, in Soltau im damaligen Hotel und Restaurant „Zur Post“, hat Schade damals gearbeitet. Foto: Carlo Eggeling
Sie wagen sich zurück an den Ort des Schreckens - und sind ganz sicher: Es war der „Göhrde-Mörder“ Kurt-Werner Wichmann, der sie beobachtete. Zwei Frauen erinnern sich an angsteinflößende Momente, die ihr Leben prägten.
Landkreis/Cuxhaven. Es hat Teresa Schmidt-Freier keine Ruhe gelassen, was ihr vor vier Jahrzehnten passierte. Es hat ihr Leben verändert: „Ich bin ängstlicher geworden, ich habe überlegt, ob ich eine Mitschuld hatte, weil ich mein Fenster offengelassen hatte, das hatte mir damals jemand bei der Polizei gesagt. Es ist nicht weg.“
Die gebürtige Lüneburgerin, die in Wirklichkeit anders heißt, ist in ihrer Wohnung überfallen worden, der Täter würgte sie, sie konnte sich befreien. Sie glaubt zu wissen, wer ihr das angetan hat: Kurt-Werner Wichmann, wahrscheinlich verantwortlich für die „Göhrde-Morde“, bei denen zwei Paare starben, und den Tod Birgit Meiers, alles im Sommer 1989.
Ehemaliger Spitzenpolizist spendet Angehörigen Hoffnung
Wenn sich das Puzzle zusammenfügt, an dem Reinhard Chedor arbeitet, dürfte Wichmann für mehr als diese fünf Morde verantwortlich sein. Deutschlandweit. Auch zwischen Cuxhaven und Bremerhaven. Das TAGEBLATT hat über die „Disco-Morde“ berichtet, über die jungen Frauen, die zwischen 1977 und 1986 verschwanden. Sieben Frauen. Nur in einem Fall wurde eine Leiche gefunden.
Chedor, ehemaliger Chef des Landeskriminalamtes in Hamburg, recherchiert seit Langem diese sogenannten Cold Cases. Was für ein Begriff. Es ist nichts kalt, wenn er mit Angehörigen spricht, es tut wieder weh. Aber es hilft, weil Chedor schafft, ein bisschen Hoffnung zu spenden, das Schicksal des Kindes, der Schwester, der Mutter ist eben nicht vergessen.
Chedor, 71 Jahre alt, lange weiße Haare, setzt auf die Medien. Gezielt. Erscheint ein Bericht, melden sich oft Menschen, die meinen, mit Wichmann zu tun gehabt zu haben. So wie Teresa Schmidt-Freier. Im Lüneburger Stadtmagazin „Quadrat“ las sie über Wichmann und meldete sich. Sie sitzt im April 2023 mit Reinhard Chedor im „Capitol“, einem Restaurant in Lüneburg. Nach dem Artikel im Stadtmagazin entstand der Kontakt.

Der mutmaßliche Serienmörder Kurt-Werner Wichmann. Foto: privat/Eggeling
Wichmann hat offensichtlich Frauen beobachtet - Akten verschwunden
Chedor ist gespannt, denn er vermutet, es könne einen Zusammenhang geben zu Wichmann, der sich 1993 das Leben nahm: In dessen Nachlass wurden Dossiers gefunden, die nahelegen, dass Wichmann Frauen und ihre Lebensverhältnisse ausspionierte. Doch wo Fotos und Notizen entstanden, konnte die Polizei nicht entschlüsseln. Inzwischen sind diese Akten nicht mehr auffindbar.
Teresa Schmidt-Freier erinnert sich sehr genau. „Ich weiß, es war ein Freitag, weil ich eine Sitzung in Hamburg vorbereiten musste, um 10 Uhr sollte es losgehen.“ Der erste Freitag im Mai 1982 oder 1983, sie sei 24 Jahre alt gewesen. Es sei bereits hell gewesen. Die Sonne ging, das kann man im Wetterbericht nachvollziehen, kurz nach halb sechs auf.
„Ich bin damals zwischen fünf und halb sechs aufgestanden“, schildert sie. „Ich hatte die Angewohnheit, das Schlafzimmerfenster weit aufzumachen, bin in die Küche, Frühstück, Küchentür zu, dann zurück, Fenster zu, unter die Dusche. Ich habe mit meinem Vater telefoniert. Wir haben beide in Hamburg gearbeitet und haben uns gegenseitig angerufen, damit wir nicht verschlafen.“ Im April, Mai habe sie das Gefühl gehabt, „ich werde beobachtet“. Die Wohnung an der Lossiusstraße liegt an einer Sackgasse, von dort geht ein Fußweg zu einer Hauptstraße. Von diesem Weg könne jemand in ihre Richtung gesehen haben.
Strumpfhose über dem Kopf - Von Mann gewürgt und betatscht
Eine weitere Besonderheit: Zum Haus gehörte ein kleines Gartenbeet, das die Mieter sauber halten und harken mussten. Das sei am Mittwoch vor der Tat passiert. Sie habe Fußstapfen in der Erde gesehen, gedacht, ihr Vater sei noch einmal gekommen. Sie fragte ihn, doch der war nicht dagewesen. Das war am Donnerstagabend.
Am nächsten Morgen saß sie in der Küche, wunderte sich, weil die Dielen des Holzbodens im Flur knarzten. „Ich habe mich noch gefragt, ist jemand eingestiegen, aber der Gedanke war gleich wieder weg.“ Sie sei duschen gegangen, habe die Haare geföhnt. Ein Ablauf wie immer. Doch als sie wieder in ihr Schlafzimmer kam und sich die am Abend zuvor zurechtgelegte Strumpfhose anziehen wollte, sei die weg gewesen: „Warum liegt die da nicht mehr? Plötzlich kommt ein Typ hinter der Tür raus, der hatte meine Strumpfhose über dem Kopf. Er hat keinen Ton von sich gegeben. Er hat mich gewürgt, betatscht. Er war groß, blond. Wie ich mich befreit habe, weiß ich nicht mehr. Ich habe geschrien und gezappelt. Er hat mich kurz losgelassen, ich bin zur Wohnungstür. Habe bei den Nachbarn gegen die Tür getrommelt. Er kam hinterher. Als er merkte, da tut sich was, ist er raus aus dem Haus.“
Später ist ihr klar: Der Mann muss einige Zeit in der Wohnung verbracht haben, hereingekommen sein, bevor sie das Fenster schloss. Er hätte sie viel früher angreifen können. Warum er das nicht tat? Unklar. Es habe auch nichts gefehlt, kein Diebstahl. Die Polizei nahm Spuren auf, fand die Strumpfhose auf einem Weg. Sie habe geschildert, wie furchtbar das für sie gewesen sei. „Der eine Polizist sagte: ,Sie können von Glück sagen, dass Sie nicht auf dem Friedhof liegen; das hätte schlimmer ausgehen können.‘“ Sie könne sich noch daran erinnern, dass der Eindringling „grünes Zeug“ getragen habe. Nicht so wie bei der Bundeswehr, eher wie ein Gärtner. Wichmann arbeitete als Gärtner. Zufall?

Teresa Schmidt-Freier* (Name geändert) ist in diesem Haus überfallen worden. Foto: Carlo Eggeling
Frau fühlt sich von Polizei nicht ernst genommen
Die Geschichte geht weiter. „Monate später sah ich morgens immer einen roten Passat mit Uelzener Kennzeichen im Wendehammer. Ich bekam Schiss, weil ich auch jemanden zwischen den Häusern rumschleichen sehen habe.“ Schließlich sei sie aus dem Haus gelaufen, zwei Straßen weiter, um von der Telefonzelle aus die Polizei anzurufen. Sie erzählte, was ihr passiert war, dass sie sich wegen des Autos Sorgen mache: „Tut der Ihnen was? Solange nichts passiert, können wir nichts machen.“ Sie fühlte sich nicht ernst genommen.
Jahre später habe sie in der Zeitung das Bild Wichmanns gesehen: „Das gibt‘s nicht, das ist der Typ, der bei mir drin war.“ Sie habe sich weitere Bilder besorgt, alles gelesen, was sie finden konnte. Dann der Artikel im Magazin „Quadrat“, sie habe einen Tag überlegt, ob sie sich melden solle, doch dann die Entscheidung: „Es könnte helfen.“
Haben weitere Frauen ungebetenen Besuch bekommen?
Es hilft, glaubt Chedor, der sich mit Teresa Schmidt-Freier alles vor Ort ansieht. Ein bisschen hat sich was verändert, aber der alte Polizist hat einen Eindruck. Er schließt nicht aus, dass weitere Frauen ungebetenen Besuch in ihren Wohnungen hatten. Vielleicht nicht nur in Lüneburg? Es würde in das Profil Wichmanns passen, der schon als Jugendlicher eine Frau überfiel, einer Radlerin an die Brust fasste, der 1970 wegen Vergewaltigung verurteilt wurde.
Nach Artikeln in der „Zeit“, die Chedor seit Jahren begleitet, und in der „Nordsee-Zeitung“ haben sich Frauen gemeldet, die ebenfalls glauben, unheimliche Begegnungen mit Wichmann erlebt zu haben. Er dürfte Verbindungen ins Cuxland gehabt haben. Ein enger Verwandter hatte mit seiner damaligen Partnerin immer wieder Ausflüge an die Nordsee unternommen. Der Mann, der laut Zeitzeugen ein Abhängigkeitsverhältnis zu Wichmann hatte, sei nach solchen Fahrten immer zu Wichmann gefahren - war für Stunden bei ihm, erzählt die ehemalige Freundin. Worüber haben sie gesprochen?
Frauen erkennen Wichmann auf Bildern in Zeitung
Frauen schildern, wie sie als Anhalterinnen im Auto von zwei Männern im Bereich von Altenwalde mitgenommen wurden, in einem Waldstück landeten - Angst vor einer Vergewaltigung. Sie konnten sich „rausquatschen“. Auch andere haben sich auf die Artikel hin gemeldet. Die Frauen sind sich unabhängig voneinander sicher: „Es war Wichmann.“ Sie wollen ihn auf Fotos erkannt haben.
Eine Verfolgung spielt im Sommer 1990 im Bereich Soltau zwischen Hamburg und Hannover. Lange hat Alexandra Schade die unheimliche Begegnung vor mehr als drei Jahrzehnten zur Seite geschoben. Doch dann las sie in einer Zeitung von Reinhard Chedor. Sie sagt, was andere sagen: „Vielleicht hilft mein Schicksal, Sachen aufzuklären.“
Frau aus Stade erinnert sich an Vorfall 1990 im Bereich Soltau
Ende August 2022 treffen sich die beiden das erste Mal bei Alexandra Schade im Landkreis Stade, es gibt weitere Treffen, dann ist klar, die beiden fahren die Tour von damals gemeinsam ab. Mitte Oktober 2022. Es geht über Land nach Soltau. Dort im damaligen Hotel und Restaurant „Zur Post“ arbeitete die damals 39-Jährige. „Das Lokal war immer gut besucht“, erzählt sie. „Nach Feierabend haben wir mit den Kollegen noch etwas getrunken, ich aber keinen Alkohol, denn ich musste noch fahren.“ Ihr damaliger Mann bewirtschaftete ein Lokal in Lünzen, 20 Kilometer entfernt.
Zeitreise. Alexandra Schade arbeitet trotz der eigenen Gastronomie in Soltau. Das Geld können sie gut gebrauchen.
Chedor und die ehemalige Kellnerin stehen auf dem Parkplatz der „Post“, heute heißt das Haus „Postillon“. Sie zeigt auf einen Hinterausgang: „Von da bin ich zu meinem Auto gegangen, einem VW.“ Sie fährt los. „Ich habe immer darauf geachtet, ob jemand hinter mir war“, sagt sie. „Wenn man in der Gastronomie arbeitet und nachts unterwegs ist, ist man sensibel.“ Sie habe erlebt, wie ihr Auto auf dem Parkplatz blockiert wurde, nicht nur einmal - doch diese Männer konnte sie bändigen. So wie sie erzählt, ist es selbstverständlich, dass sie ihr Leben lang resolut und klar war.
Scheinwerfer im Rückspiegel bemerkt
Nicht weit hinter Soltau in Richtung Neuenkirchen beginnen Wiesen, Felder und Wald. Sie erzählt, wie sie Scheinwerfer im Rückspiegel bemerkt. Ungewöhnlich, denn nachts, irgendwann zwischen eins und drei, seien kaum Autos unterwegs. „Ich dachte, der überholt irgendwann.“ Bei einem Wildwechsel wird sie deutlich langsamer. Doch der Wagen bleibt zurück: „Ich dachte, der ist besoffen und will nicht auffallen. Man denkt tausend Sachen.“ Aber das Licht bleibt. „Mir ist mulmig geworden. Hier ist überall Wald.“
Neuenkirchen. Sie sieht das Auto nicht mehr. „Der ist abgebogen.“ Doch plötzlich ist der Verfolger wieder da. „Es ist gewissermaßen ein Spiel.“ Ein paar Kilometer weiter. In Tewel biegt sie rechts ab, hält unter einer Laterne. Vor dem Haus einer Bekannten, sie überlegt zu klingeln. Der Verfolger ist plötzlich da. „Er hat mich angeguckt, mit einem irren Blick.“ Der Wagen „schießt“ dann vorbei.
Sie sieht den Mann wieder - und gibt Gas
Sie wartet. Eine Minute, zwei, drei. Vielleicht so gar zehn. Minuten können sich unendlich dehnen. Beruhigt sich. Überlegt zurückzufahren, einen anderen Weg zu nehmen. Entscheidet sich dagegen. Weiter. In Richtung Grauen. Ohne Licht. Es geht vorbei an einer Abfahrt zu einer Kieskuhle: „Da kam er dann raus. Mit Licht. Ich habe Gas gegeben.“
Chedor hält an. Die Kies-Ära ist zu Ende, die Natur überwuchert die Wunden, die ihr Bagger gerissen haben. Für Alexandra Schade ist alles wieder da. Sie ist überzeugt, dass ihr Verfolger Wichmann war. „Als ich ihn unter der Laterne gesehen habe, habe ich an meinen Onkel Willi gedacht. Die Ähnlichkeit ist groß.“ Daran habe sie gedacht, als sie Dokumentationen über Wichmann im Fernsehen und in der Zeitung gesehen habe. „Er muss das hier gekannt haben“, sagt sie. „Er hat ja regelrecht auf mich gelauert. Ich hätte anders fahren können.“
Freund begleitet Schade auf dem Weg nach Hause
Sie rast los. In Grauen hält sie bei Freunden, Brigitte und Klaus. Klingelt sie nachts aus dem Bett. Die lassen sie rein. Vom Verfolger ist nichts zu sehen. Sie hat es nur noch zwei Kilometer nach Lünzen, dort wohnt sie. Sie beratschlagen sich. Die Entscheidung: „Klaus begleitet mich auf dem Weg nach Hause.“
Los geht‘s. Angekommen. Sie erzählen alles Schades damaligem Mann. Das Telefon klingelt. Brigitte! „Sie sagte, da tanzt einer ums Haus und heult wie ein Wolf.“ Klaus rast zurück. Als er ankommt, ist niemand mehr da. Später reden sie darüber. Es bleibt rätselhaft. Bis heute.
Unklar, ob Wichmann vorher im Lokal Gast war
Sie hat keine Erinnerung daran, dass Wichmann an diesem Abend im Lokal war. An jemand Angenehmen oder Unangenehmen würde sie sich erinnern, sagt sie. Sie geht davon aus, dass der mysteriöse Fahrer sie vorher beobachtet habe und jagte.
Alexandra Schade sagt: „Mir ist das hochgekommen, als es die Filme um die Göhrde gab. Alles war wieder da. Als ich das Gesicht gesehen habe, wusste ich, den kennst du, der sieht aus wie Onkel Willi, diese verdammte Ähnlichkeit.“ Sie ist sich sehr sicher, dass sie in dieser Nacht Wichmann entkommen ist. Und sie weiß nicht, ob sie überlebt hätte, wenn sie das nicht geschafft hätte.
Wichmann kannte sich in der Gegend um Soltau aus
Aber hatte Wichmann mit dieser Ecke zu tun? Er war 50, 60 Kilometer entfernt zu Hause. Wichmann war viel unterwegs. Das weiß die Polizei aus ihren Ermittlungen. 20 000 Kilometer im Jahr. Monate später arbeitete er für einen Lüneburger Baustoffhändler, der Sand- und Kieskuhlen ausbeutet. Ein ehemaliger Kollege berichtet, dass das Unternehmen dort zwar keine eigenen Gruben betrieben habe, aber Wichmann den Bereich Soltau als Verkaufsgebiet betreute: „Der kannte sich da aus und war da auch unterwegs.“
Die Polizei hat eine Liste mit zwei Dutzend Fällen erstellt, für die Wichmann als Täter infrage kommen könnte. Einige hat sie aussortiert, das haben auch Chedor und seine Mitstreiter getan. Die Gruppe hatte sich gefunden, als es um Birgit Meier ging. Sie war die Schwester Wolfgang Sielaffs, vor Chedor Leiter des LKA in Hamburg. Birgit verschwand 1989. Sielaff ließ das nicht ruhen. Als er in Pension ging, recherchierte er. Der Leiter der Hamburger Rechtsmedizin, Klaus Püschel, die Kriminalpsychologin Claudia Brockmann, andere und eben Chedor unterstützten ihn. Sie fanden die Überreste Birgits im Herbst 2017 auf Wichmanns Grundstück am Lüneburger Stadtrand - nachdem die Polizei es abgesucht hatte.
Chedor macht weiter, für ihn liegt auf der Hand, jemand mit der Mordlust Wichmanns will immer wieder Herr über Leben und Tod sein, absolute Kontrolle verspüren.
Chedor und die Polizei liegen bei Einschätzungen auseinander
Viele Puzzleteile. In anderen Fällen fügen sie sich nicht ein. Zwei Taten im Wendland, zunächst Wichmann zugeordnet, passen aus verschiedenen Gründen nicht in das Raster. Das sehen Polizei und Chedor ähnlich. Allerdings liegen sie bei anderen Einschätzungen deutlich auseinander. Es geht um Indizien, daraus müssen Beweise werden. Daran arbeitet Chedor. Auch zwischen Cuxhaven und Bremerhaven.