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24-Stunden-Reportage

T„Da simmer dabei“: Wenn die Schützen auf den Tischen tanzen

Um Mitternacht tanzen die Schützen zur Musik von Udos Tanzband auf den Tischen im Hüller Dorfgemeinschaftshaus.

Um Mitternacht tanzen die Schützen zur Musik von Udos Tanzband auf den Tischen im Hüller Dorfgemeinschaftshaus. Foto: Berlin

Udo Zielke ist am Keyboard ein alter Hase. Beim Schützenfest in Hüll reicht ein Akkord, um 450 Menschen in Feierlaune zu versetzen. Zielke ist Kult im Kehdinger Land. Die Geschichte beginnt um Mitternacht.

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Von Daniel Berlin
Sonntag, 23.06.2024, 19:00 Uhr

Hüll. Vermutlich kein Mensch im Saal denkt an den Kalten Krieg in den 1980er Jahren, an den NATO-Doppelbeschluss oder Pershing-II-Raketen. Heute springen die Feierbiester auf Tische und Bänke und tanzen zu Nenas Anti-Kriegs-Song „99 Luftballons“. Es ist Mitternacht im Dorfgemeinschaftshaus in Hüll. Udos Tanzband geht in die nächste Runde - und die Schützen rasten aus.

Udos Tanzband (von links): Julia Rathjens, Udo Zielke, Maik Führer und Frank Hollmann.

Udos Tanzband (von links): Julia Rathjens, Udo Zielke, Maik Führer und Frank Hollmann. Foto: Berlin

Udo Zielke ist ein alter Hase. Der Mann ist 69 Jahre alt, betreibt im Hauptjob ein Fotogeschäft und ist Hausmeister in einem Hotel. Mit zwölf Jahren nahm er die ersten Unterrichtsstunden auf dem Akkordeon. Mit 17 entdeckte er die Tanzmusik für sich. Sein Schwiegervater holte ihn in die Szene. Udo Zielkes Bands hießen Galaxis und Combo Espresso. Seit 1984 gibt es Udos Tanzband. Schon acht Jahre zuvor feierte Zielke seine Musikerpremiere beim Schützenfest in Krummendeich. Knapp 50 Jahre später gehören Zielke mit seinem Keyboard und seine Combo bei Schützenfesten in Kehdingen zum Inventar.

Jeder zweite Dorfbewohner feiert mit

450 Eintrittskarten hat der Schützenverein Hüll für den Ball verkauft. Rein statistisch tanzt hier jeder zweite Dorfbewohner. Im Saal herrscht eine Luftfeuchtigkeit wie in einem Gewächshaus. Auf den Gesichtern der Tanzenden schimmern die Schweißperlen. Auf so manchem Wangenknochen reflektiert roter, grüner oder blauer Glitzer das Partylicht.

An der Kasse herrscht gute Laune. 450 Menschen sind beim Schützenball in Hüll.

An der Kasse herrscht gute Laune. 450 Menschen sind beim Schützenball in Hüll. Foto: Berlin

Die meisten, die da auf den papierbedeckten Tischen Polonaise tanzen und dabei gekonnt den Schnapsgläsern ausweichen, haben morgens um 9 Uhr schon auf dem Festplatz in Hüll gestanden. Sie schossen tagsüber um Preise und Würden und zogen am frühen Vormittag uniformiert durchs Dorf. Und sie werden nach dieser Nacht erneut um 9 Uhr wach sein und der Königsproklamation entgegenfiebern. „Für solch ein Schützenfest braucht man Kondition“, sagt die Präsidentin des Hüller Schützenvereins, Sabine Schütt.

Sechsjährige schießen mit dem Lichtgewehr

Die Leute mögen das. Sabine Schütt sagt, „die Tradition ist gewollt“, die Organisation sei Routine. 460 Menschen sind im Verein organisiert. Seit der Corona-Pandemie sind die Zahlen stetig gestiegen. Viele junge Menschen treten dem Verein bei. Kinder können ab sechs Jahren mit dem Lichtgewehr schießen. Das und die Tatsache, dass „der Verein sehr unkompliziert“ sei und es „keine Cliquenwirtschaft“ gebe, spricht sich herum.

Sabine Schütt engagiert sich seit acht Jahren als Vorsitzende des Schützenvereins in Hüll.

Sabine Schütt engagiert sich seit acht Jahren als Vorsitzende des Schützenvereins in Hüll. Foto: Berlin

Udo Zielke ist längst Teil dieser Tradition. Am Nachmittag begleitet er den Spielmannszug Eichel Wolfsbruch beim traditionellen Umzug durch das Dorf, in der Nacht steht er hinter seinem Keyboard. In Hüll macht er das seit Jahrzehnten. „Hüll ist wunderbar“, sagt Zielke. Alle und er haben „Bock auf die Feier. Du kannst spielen, was du willst“, sagt er. Kurz vor halb eins stimmt Zielke „Auf St. Pauli brennt noch Licht“ an.

Udo Zielke hat 1300 Songs im Repertoire

In dieser Nacht steht Udo Zielke mit Sängerin Julia Rathjens, Saxofonist und Sänger Frank Hollmann und Schlagzeuger und Sänger Maik Führer auf der Bühne des Dorfgemeinschaftshauses. Zwischen 19 und 3 Uhr werden sie etwa 80 Lieder gespielt haben. Das ist nur ein Bruchteil von dem, was sie spielen könnten. Udo Zielke hat 1300 Songs im Repertoire. Bei der Vielfalt ist längst nicht alles live. Manches Trompetensolo oder manche Schlagzeugeinlage spielt Zielke als Spur ein.

Polonaise durch den Saal: Gegen Mitternacht erreicht die Stimmung ihren Siedepunkt.

Polonaise durch den Saal: Gegen Mitternacht erreicht die Stimmung ihren Siedepunkt. Foto: Berlin

Bei „Skandal im Sperrbezirk“ um zwanzig vor eins klatscht die Meute vor der Bühne taktklar mit. Ein Cover der Spider Murphy Band geht immer. „Wir sind eine Tanzband. Dass die Leute mitgrölen können, ist entscheidend. Spaß ist entscheidend“, sagt Zielke. Tanzbar muss es sein. Udo Zielkes Herz schlägt eigentlich für die Volksmusik. Beim Schützenfest sei aber Après-Ski angesagt, bei einer Goldenen Hochzeit eher die Flippers. Je nach Zielgruppe. „Layla“ ist bei 80-Jährigen weniger angesagt als die Amigos.

Bandchef verfolgt die internationalen Charts

Udo Zielke fragt seine Söhne, allesamt Fußballer bei der SV Drochtersen/Assel, was sie hören. Zielke schaut Youtube-Videos, hört internationale Charts und überlegt, was davon umsetzbar ist. Im Moment beschäftigt er sich mit Funk und Techno. „Du musst mit der Zeit gehen“, sagt Zielke. Er ist Autodidakt an den Instrumenten.

Alles drängelt sich an der Bar. Die Gastronomen bedienen mit viel Routine.

Alles drängelt sich an der Bar. Die Gastronomen bedienen mit viel Routine. Foto: Berlin

Die letzten sieben Menschen der Polonaise sind in Höhe der Bar abgerissen. Dort drängeln sich die Feiernden in Zweierreihen um den Tresen. Gastronomen und Helfer aus dem benachbarten Ort Osten füllen die Gläser und kassieren das Geld. Tablettweise gehen die Gedecke weg. Eine Barkeeperin erzählt, dass an diesem Abend gut zu tun sei. Es herrscht Stress, ja. Mit ihrer Routine ist das aber kein Problem. „An solchen Abenden kann man gut verdienen“, sagt sie.

Nachbar aus Drochtersen ist begeistert

Um kurz vor eins muss Ernst-Theo Nagel an die Luft. Als Vizepräses des Schützenvereins Drochtersen hat er schon viel gesehen. Aber Hüll ist auch für ihn besonders. „Hier herrscht eine Atmosphäre, die alle zusammenführt“, sagt Nagel. Er fahre gern nach Hüll. Hier herrsche schöner Dorfcharakter. „Die Musik ist seit Jahren Kult“, sagt Nagel.

Grönemeyers „Mambo“ aus dem Saal ist draußen kaum zu hören. Der Song ist noch so ein Klassiker. Die Crêpes-Bude hat weit nach Mitternacht noch geöffnet. Vis-à-vis gibt es Pommes und Bratwurst. An der Schießbude zieht ein Schützenbruder gerade sein Jackett aus und legt es links neben sich sachte ab. Der Mann, der ihm die Waffe gibt, ahnt schon Böses. „Schützen sind an der Schießbude nicht unbedingt besser als die anderen“, sagt er. So wird es kommen. Der Mann verfehlt das weiße Plastikröhrchen, das die Kunstblume ummantelt.

Udos Tanzband spielt 20-mal im Jahr

Die weißen Hemden der Schützenbrüder stecken weit nach Mitternacht längst nicht mehr in den Hosen, als Udo Zielke „Viva Colonia“ anstimmt. Die Krawatten sind gelockert. Früher, erzählt Zielke später, waren er und seine Band drei- bis viermal pro Woche unterwegs. „Ich hätte allein von der Musik leben können.“ Heute treten sie 20-mal im Jahr auf. Die wenigen Stunden auf der Bühne sind dabei nur der kleinste Teil der Arbeit - aber der mit dem größten Spaßfaktor.

Die Partygäste tanzen auf den Tischen und müssen dabei so manchem Glas ausweichen.

Die Partygäste tanzen auf den Tischen und müssen dabei so manchem Glas ausweichen. Foto: Berlin

Als Bandchef ist Udo Zielke verantwortlich für die Vorbereitung, für die Setlist, wie es im Fachjargon heißt. Zielke klärt alle Fragen rund um die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte. Hinter dem komplizierten Namen steckt die GEMA, die dafür sorgt, dass die Urheber von Musik Geld bekommen, wenn ihre Lieder genutzt werden. Zielke schließt die Verträge mit seinen Auftraggebern.

Bis 3 Uhr morgens werden Udo Zielke und seine Band in dieser Nacht noch spielen. „Es wird für viele Vereine immer schwieriger, Musiker oder Spielmannszüge zu finden“, sagt Vereinschefin Sabine Schütt. Sie ist sich aber sicher, dass Udo im nächsten Jahr wiederkommt. „Er ist eine feste Institution“, sagt sie. So war es gefühlt schon immer. Eine beliebte Tradition, bis im Saal das Licht angeht.

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