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Reportage

TDer letzte Backtag in Agathenburg: Die Kunst, ein Höllenfeuer zu zähmen

Der Herr des Höllenfeuers hat den Backofen genauestens im Blick.

Der Herr des Höllenfeuers hat den Backofen genauestens im Blick. Foto: Buchmann

Brot und Butterkuchen wie vor 100 Jahren: Diese Tradition erhält der Agathenburger Backofenverein am Leben. Ein Blick in das Backhaus, wenn alle noch schlafen.

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Von Steffen Buchmann
Sonntag, 26.10.2025, 19:00 Uhr

Agathenburg. 5 Uhr morgens. Die Nacht liegt still und kühl über Agathenburg. Am Ende der Schulstraße ragt die Kontur der Mehrzweckhalle empor, den Rasenplatz direkt daneben hat die Dunkelheit verschluckt. Von irgendwo ruft ein Käuzchen, die Luft duftet nach feuchtem Nadelwald.

In einem kleinen Unterstand entzündet Michael Hinrichs ein Streichholz. Trotz Handschuhen klappt es beim ersten Mal. Behutsam legt er das flackernde Hölzchen in einen Stapel aus Ästen und Backpapier - und erweckt das Herz des Backofens zum Leben.

Michael Hinrichs entzündet das erste Streichholz, um den Backofen anzufeuern.

Michael Hinrichs entzündet das erste Streichholz, um den Backofen anzufeuern. Foto: Buchmann

Der letzte Sonnabend im September ist ein besonderer für den Agathenburger Backofenverein: Es ist der letzte Backtag des Jahres. Während Michael Hinrichs draußen bereits die erste Schubkarre mit Holzscheiten bereitstellt, versammeln sich im Backhaus gegenüber Maren Hinrichs und ein Dutzend Backfrauen um die Kücheninsel.

Ein fester Zeitplan für Brote und Kuchen

Hinter ihnen hängt ein handgeschriebener Plan an der Wand: „5 Uhr Anheizen, 8 Uhr Dinkelbrot, 8.45 Uhr Obstkuchen, 9.15 Uhr Butterkuchen“. Bis zum Nachmittag ist alles exakt durchgetaktet.

Der Teig für die Dinkelbrote ist bereit zum Kneten.

Der Teig für die Dinkelbrote ist bereit zum Kneten. Foto: Buchmann

Auf einem Rollwagen stehen 23 Plastikschüsseln mit den abgewogenen Zutaten für die Obstkuchen bereit. Heute gibt es Apfel- und Pflaumenkuchen. Maren Hinrichs hebt eine lila Decke mit Blumenmuster von einer Wäschewanne, darunter glänzt ein Teigberg voller Dinkelkerne.

Noch haben die Backfrauen Zeit für einen kurzen Schnack und eine Tasse Kaffee. Trotz der frühen Uhrzeit wirkt keine müde. Sie stellen sich bereits Eier, Zuckerpäckchen und Handrührer auf der Kücheninsel bereit. Denn schon bald beginnt das große Surren.

Das Surren der Handrührer klingt durch das Backhaus.

Das Surren der Handrührer klingt durch das Backhaus. Foto: Buchmann

5.30 Uhr: Scheit für Scheit füttert Michael Hinrichs sein Feuer. Er hockt eine Armlänge entfernt vor dem Ofen, in dessen Innerem die roten Flammen schon bis zur gemauerten Decke emporschlagen. Bei jedem Scheit wirbelt die Glut auf, Funken fliegen Hinrichs entgegen.

Der Herr des Höllenfeuers

Doch er ist vorbereitet. Er trägt eine Schildkappe, seine schulterlangen grauen Haare hat er zu einem Zopf nach hinten gebunden. Drei Schubkarren mit Buchen- und Eichenholz verfüttert Hinrichs heute an den Ofen. Das Ziel des Heizers: 400 Grad Celsius. „Zum Backen brauchen wir später etwa 270 Grad“, erklärt Hinrichs.

Mit einer Forke sorgt der Heizer für Ordnung im Ofen.

Mit einer Forke sorgt der Heizer für Ordnung im Ofen. Foto: Buchmann

Der 50-jährige Diplom-Ingenieur arbeitet für das Airbuswerk in Finkenwerder; „Mäuse schubsen“, wie er die Büroarbeit augenzwinkernd nennt. Doch am heutigen Backtag ist Michael Hinrichs der „Herr des Höllenfeuers“. Vor fünf Jahren kamen er und seine Frau erstmals bei einem Backtag zu Besuch und waren „direkt angefixt“.

Akkordarbeit: Irmgard Frankenfeld, Bärbel Martens, Mandy Manthei und Linda Lensch (von links) belegen die Obstböden mit frischen Pflaumen.

Akkordarbeit: Irmgard Frankenfeld, Bärbel Martens, Mandy Manthei und Linda Lensch (von links) belegen die Obstböden mit frischen Pflaumen. Foto: Buchmann

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts buken die Menschen ihre Brote und Kuchen üblicherweise abseits der Wohnhäuser in Steinbacköfen, auch in Agathenburg. Ende der 1960er Jahre erlosch in der Bahnhofstraße das Feuer des letzten Backofens, der Elektroherd hatte die Küchen übernommen. 1999 ließen die Agathenburger die Tradition wiederaufleben, bauten einen neuen Backofen und gründeten die Gothenbörger Backobenfrünn.

Genau wissen, was das Feuer gerade braucht

Hinrichs hat die Schildkappe abgelegt und sitzt auf einer Holzbank mit buntem Sitzpolster, gerade breit genug für zwei Erwachsene. Zum Aufwärmen trinkt er seine erste Tasse Kaffee, während er erzählt und in die Flammen starrt. Die Aufgaben an den Backtagen sind klar verteilt: Drinnen bereiten die Backfrauen die Teige vor, draußen halten die Heizer Feuerwache. „Das sieht für Außenstehende immer entspannt aus“, sagt Michael Hinrichs.

Die Formen für die Brote sind vorgefettet und bereit für die Teiglinge.

Die Formen für die Brote sind vorgefettet und bereit für die Teiglinge. Foto: Buchmann

Plötzlich steht er auf. Schnell zieht er Handschuhe und Kappe über und greift sich eine mannshohe Forke, die mit der Spitze in einem Wassereimer steht. Hinrichs schlägt die sengende Hitze ins Gesicht, während er behutsam mit der Forke die Glut auseinanderkratzt.

Die Glut muss aus dem Ofen, sonst verbrennen die Brote und Kuchen von unten.

Die Glut muss aus dem Ofen, sonst verbrennen die Brote und Kuchen von unten. Foto: Buchmann

„Die Asche darf nicht zu dick werden, sonst kühlt der Boden aus“, sagt er. Paradox angesichts der Feuersbrunst, die gerade im Ofeninneren tobt. Doch Hinrichs hat Erfahrung, erkennt mit geschultem Blick, was sein Feuer gerade braucht.

Die Zeit wird knapp

7.30 Uhr. Die Nacht ist einem blassgrauen Morgen gewichen. Im Backhaus sind jetzt alle hoch konzentriert, in einer halben Stunde müssen die Dinkelbrote in den Ofen. Es riecht nach gegorener Backhefe. Kerstin Kübek legt die Dinkelteiglinge in vorgefettete Brotkästen, ein halbes Dutzend Backfrauen belegt die ausgerollten Kuchenteige mit Pflaumen und Butterstreuseln.

Priya Mugular stellt schon die Pflaumenkuchen bereit. Die sind nach den Dinkelbroten mit dem Backen an der Reihe.

Priya Mugular stellt schon die Pflaumenkuchen bereit. Die sind nach den Dinkelbroten mit dem Backen an der Reihe. Foto: Buchmann

8 Uhr: Michael Hinrichs schwingt einen Stab mit einem nassen Jutesack wie eine Fahne durch den Ofen, um die letzten Aschereste hinauszufegen. Eigentlich müssten jetzt die Dinkelbrote hinein. Das Thermostat zeigt 315 Grad - „zu heiß“. Jetzt hilft nur Warten.

Die ersten Dinkelbrote kommen heiß aus dem Backofen.

Die ersten Dinkelbrote kommen heiß aus dem Backofen. Foto: Buchmann

Um 8.15 Uhr greift Hinrichs zum Ofenschieber. „Längs!“, ruft er seinen eingetroffenen Kollegen zu. Schon steht eine Brotform auf dem Schieber und verschwindet im dunklen Ofen. Quer, längs, quer - der Ofenboden füllt sich. Dann hakt Hinrichs die Ofenluke ein. Als er sie 25 Minuten später wieder öffnet, duftet es herrlich nach frisch gebackenem Brot.

Mhhhhm, lecker: Es gibt doch nichts Besseres als den Duft von frisch gebackenem Brot am Morgen.

Mhhhhm, lecker: Es gibt doch nichts Besseres als den Duft von frisch gebackenem Brot am Morgen. Foto: Buchmann

Ein Heizer klopft die Laibe aus ihren Formen. Maren Hinrichs kommt aus dem Backhaus, sie wirkt erschöpft. Sie nimmt eines der Brote in die Hand und klopft sanft auf die Unterseite. „Sieht gut aus“, stellt sie lächelnd fest und atmet den Brotduft tief ein. Die erste Backrunde ist geschafft, aber der Plan drängt: Jetzt sind die Obstkuchen dran.

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