TAlzheimer mit 53: „Habe mir oft gewünscht, dass mein Mann stirbt“

Die Hamburger Schriftstellerin Katrin Seyfert beschreibt in ihrem Buch "Lückenleben" das Leben mit ihrem an Alzheimer erkrankten Mann, dem das Spazierengehen mit dem Hund Trost und Stabilität gibt. Foto: Georg Wendt/dpa
Als ihr Mann die Diagnose Alzheimer erhält, war er Anfang 50. Katrin Seyfert begleitet ihn bis zum Schluss und schildert ihre Erfahrungen.
Hamburg. Katrin Seyfert war 45 Jahre alt, als bei ihrem erst 53 Jahre alten Mann Alzheimer diagnostiziert wurde. Ein extrem seltener Fall. Zwei Drittel der Erkrankten haben bereits das 80. Lebensjahr vollendet. Nur etwa 0,1 Prozent der Betroffenen sind zwischen 45 und 64 Jahre alt.
Über die Krankheit, das Sterben und den Tod ihres Mannes hat sie das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“ geschrieben. Im Interview spricht Katrin Seyfert über Liebe in Zeiten des Alzheimers, ihre Ehe zu dritt, warum sie ihren Mann nicht als Möbelstück betrachten wollte und warum sie sich gewünscht hätte, dass er früher stirbt.
Frau Seyfert, Sie waren 45 Jahre alt, als bei Ihrem erst 53 Jahre alten Mann Alzheimer diagnostiziert wurde. Ein extrem seltener Fall. Als die Krankheit schnell voranschritt, riet Ihnen ein Arzt, Ihren Mann wie ein Möbelstück zu betrachten. Haben Sie diesen Rat befolgt?
Katrin Seyfert: Nein. Aber jetzt, eineinhalb Jahre nach dem Tod meines Mannes, verstehe ich, was der wohlwollende Arzt meinte. Er meinte, dass ich lernen müsse, mich auch ein Stück weit zu separieren und auf mich selbst zu achten.
Wie ändert sich eine Liebesbeziehung, wenn ein Partner an Alzheimer erkrankt?
Wenn ein Partner an Alzheimer erkrankt, wird aus einer Liebesbeziehung eine Betreuungssituation. Sobald die Krankheit ein gewisses Stadium erreicht hat, begegnet man sich als Paar nicht mehr auf Augenhöhe. Ich habe meinen Mann bis zum Ende geliebt, aber es war eine andere Liebe als früher. Wenn man den Partner nicht mehr um Rat fragen kann, wird aus der Augenhöhen-Liebe eine fürsorgliche Liebe.
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Eine ähnliche Liebe, wie Eltern sie für ihre Kinder empfinden?
Nein, denn bei Kindern sieht man stets einen Fortschritt. Nachdem man ihnen 37-mal die Schnürsenkel gebunden hat, machen sie es beim 38. Mal selbst – und man freut sich. Bei Alzheimer ist es genau andersrum. Man kann dabei zugucken, wie der Partner immer weniger kann.
Hat Ihr Mann irgendwann vergessen, dass er Sie liebt?
Nein. Nein. (Lächelt) Zum Glück hat er mir und den Kindern das Geschenk gemacht, dass er uns bis zu seinem Schluss erkannt hat.
Erkennen heißt nicht lieben …
Ich weiß, dass er mich bis zuletzt geliebt hat. Dafür habe ich sogar einen Videobeweis. Wenige Tage vor seinem Tod hat meine Tochter meinen Mann mit dem Handy gefilmt und ihn gefragt: „Papa, hast du Mama lieb?“ Und er hat geantwortet: „Ganz doll, ganz doll!“ (Lächelt). Es ist das letzte Video, das ich von meinem Mann habe.
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Über die Liebe zu Ihrem an Alzheimer verstorbenen Mann haben Sie das Buch „Lückenleben“ geschrieben. Darin heißt es, dass Sie wie Prinzessin Diana und Prinz Charles eine Ehe zu dritt geführt haben.
Bei Ihnen war nicht Camilla, sondern Alzheimer die Nebenbuhlerin. Hat die Krankheit in dieser Dreierbeziehung irgendwann die Oberhand gewonnen?
Ja. Spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem ich Entscheidungen über den Kopf meines Mannes hinweg fällen musste, hatte die Krankheit mich komplett zur Seite gedrängt. Irgendwann musste ich entscheiden, dass mein Mann nicht mehr Autofahren darf. Irgendwann musste ich entscheiden, dass ich die EC-Karte meines Mannes verwalte. Und irgendwann habe nicht nur ich über meinen Mann entschieden, sondern die Krankheit auch über mich.
Wie hat die Krankheit über Sie bestimmt?
Wenige Wochen vor dem Tod meines Mannes sagte meine damals zwölfjährige Tochter zu mir: „Mama, Papa hat immer gesagt, er geht ins Heim, wenn er uns Kindern nicht mehr guttut. Jetzt tut er uns nicht mehr gut.“ Weder meine Tochter noch ich haben entschieden, meinen Mann ins Heim zu geben. Die Krankheit hat über uns alle hinweg entschieden.
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Sie haben Ihren Mann fünf Jahre lang gepflegt, sich währenddessen um Ihre drei Kinder gekümmert und waren voll berufstätig. Viele Menschen haben Sie deshalb bemitleidet. Hat Ihnen das geholfen?
Nein! Nein! Wobei? Vielleicht doch! Denn Mitleid hat mich wütend gemacht. Und Wut kann eine gute Kraftquelle sein. Außerdem war ich wütend wahrscheinlich sozialverträglicher. Ich habe während der Krankheit meines Mannes viel gepöbelt. Pöbeln kann man leichter ertragen als Wehleidigkeit.
Warum hat Mitleid Sie wütend gemacht?
Mitleid ist demütigend, weil es immer von oben nach unten geht. Man sagt ja nie: „Ach, Heiliger Vater, Sie haben aber ein Tagespensum. Sie tun mir leid.“ Und der Chefarzt bemitleidet die Krankenschwester, nicht umgekehrt.
Sie schreiben, dass es hochmütig machen kann, jemanden zu pflegen. Hat Alzheimer Sie hochmütig gemacht?
Ja, Alzheimer hat mich hochmütig gemacht. Wenn andere mir von ihren scheinbaren Pillepalle-Problemen wie einem eingewachsenen Zehennagel erzählen, muss ich mich erst mal zurücknehmen und mir klarmachen, dass für jeden Menschen erst mal das eigene Problem das größte ist.

Katrin Seyfert hat das Buch „Lückenleben. Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich” geschrieben. In diesem geht es um die Krankheit, das Sterben und den Tod ihres Mannes. Foto: Moosherr
Aber ich merke, dass dieser Hochmut zum Glück mit der Deadrinalisierung, die sich bei mir seit dem Tod meines Mannes langsam einstellt, abnimmt und ich gnädiger werde. Aber es wäre hochmütig zu sagen, dass ich nicht hochmütig sei.
Sie und Ihre Kinder haben sich lange dagegen gewehrt, Ihren Mann in ein Heim zu bringen. Was gab letztendlich den Ausschlag, es doch zu tun?
Schon ein Jahr vor unserer Entscheidung, hatte mein Mann sich auf einem seiner Spaziergänge verlaufen und wurde 37 Stunden vermisst. Die Polizei hat mit einer Hundestaffel und Drohnen gesucht, wir haben ihn unter anderem über Facebook gesucht.
Überall in der Hamburger U-Bahn wurde seine Vermisstenanzeige gezeigt. Schließlich wurde er wohlbehalten an einem Ort gefunden, 25 Kilometer von unserem Haus entfernt.
Weil Ihr Mann weglief, musste er ins Heim?
Nein. Ins Heim kam er erst eineinhalb Jahre später. Es war die große Summe der vielen großen und kleinen Anlässe. Wie viele Sandkörner machen einen Haufen? Zehn oder 15 sicher nicht. Aber irgendwann ist ein Haufen ein Haufen. Irgendwann mussten wir uns eingestehen, dass wir es zu Hause nicht mehr hinkriegen.
Haben Sie sich je gewünscht, dass Ihr Mann früher stirbt?
Ich habe mir ganz oft gewünscht, dass mein Mann stirbt. Alles andere wäre verlogen. Ich hätte meinem Mann gerne vieles erspart und abgenommen, auch wenn ich eine große, große Traurigkeit empfinde, weil er so viel Leben verpasst hat. Er wäre so gerne dabei gewesen, wenn sein Sohn Abi macht oder seine Tochter konfirmiert wird.
Aber ich glaube, dass es wahnsinnig egoistisch wäre, sich zu wünschen, dass jemand, der nicht mehr weiß, was das Braune in der Tasse ist, noch zehn Jahre lebt. Mein Mann hat die Krankheit mit ganz viel Würde, Anstand und Standfestigkeit ertragen. Dennoch habe ich immer wieder gesehen, wie sehr ihn das Leben angestrengt hat.
Ich hätte nicht eine Woche mit ihm tauschen wollen. Darum gab es immer wieder Momente, in denen ich gedacht habe: Könnte ich dir die Anstrengungen abnehmen, ich würde es sofort tun.
Sie waren 51 Jahre alt, als Ihr Mann starb. Wie geht die Gesellschaft mit einer so jungen (Alzheimer-)Witwe um?
Konventioneller und rigider, als es mir guttut. Anfänglich wurde schon erwartet, dass ich Schwarz trage. Früher hatte die schwarze Kleidung den Sinn, dass man die Trauernden in Ruhe ließ, sie nicht bedrängte.
Aber heute kann man doch anders damit umgehen. Oder habe ich mir nur eingebildet, dass diese öffentliche Trauer von mir erwartet wurde? Ich musste mir zunächst einmal selbst die Erlaubnis geben, wieder ins Leben hinauszutreten.
Hatte die Krankheit irgendetwas Gutes?
Oh, ja. Meine Kinder und ich haben seitdem einen sensationellen Zusammenhalt. Wir haben alle eine sehr feinstoffliche Menschenkenntnis entwickelt, die ich meinen Kindern niemals auf rein theoretischer Ebene hätte beibringen können. Die Krankheit hat meine Kinder ganz große Sozialkompetenz, Barmherzigkeit und Pragmatismus gelehrt.
Wir haben den Reichtum des Lebens im Guten wie im Schlechten kennengelernt. Würden wir das alles sofort eintauschen, um meinen Mann noch mal eine Woche gesund bei uns zu haben? Sofort!
Alzheimer-Gesellschaft rechnet mit immer mehr Demenz-Betroffenen
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft geht davon aus, dass mit steigender Lebenserwartung in den kommenden Jahren deutlich mehr Menschen an Demenz erkranken werden. „Je nachdem, wie sich die Altersstruktur der Bevölkerung insgesamt entwickelt, wird sich die Zahl der Menschen mit Demenz über 65 Jahren bis zum Jahr 2050 auf 2,3 bis 2,7 Millionen erhöhen“, teilte die Selbsthilfeorganisation in Berlin auf Grundlage neuer Berechnungen mit.
Demnach leben aktuell etwa 1,84 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Demenzerkrankung. Die meisten von ihnen seien von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Im Laufe des Jahres 2023 seien zwischen 364.000 und 445.000 Menschen neu an einer Demenz erkrankt.
Das Risiko für eine Demenz steige ab dem 80. Lebensjahr deutlich an. Gleichwohl seien fast 6 Prozent der Betroffenen in Deutschland - knapp 106.000 Menschen - jünger als 65 Jahre. Diese Gruppe werde erst seit wenigen Jahren zunehmend wahrgenommen; es fehle vielfach noch an geeigneten Unterstützungsangeboten für sie und ihre Familien.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Nordsee-Zeitung.