THat der Göhrde-Mörder auch die Disco-Morde im Cuxland begangen?

Blond, schön, smart: Kurt-Werner Wichmann war ein Frauentyp - aber wohl auch ein Serienmörder. Er gilt bislang als der Täter bei fünf Morden im östlichen Niedersachsen. Jetzt werfen neue Spuren die Frage auf, ob Wichmann auch eine Serie ungeklärter Morde im Cuxland begangen hat. Foto: privat/Eggeling
Kurt-Werner Wichmann hat vor Jahrzehnten wohl fünf Menschen getötet. Mindestens. Eine Frau ist heute überzeugt: Als junge Anhalterin ist sie ihm nahe Cuxhaven nur knapp entkommen. Hat der „Göhrde-Mörder“ auch die „Disco-Morde“ im Cuxland begangen?
Landkreis Cuxhaven. Es ist schummrig, es wird immer dunkler, es holpert und stolpert auf dem Feldweg, bis der Sportwagen auf einmal anhält. Ingrid Peters befürchtet Schlimmes: „Ach du Scheiße, jetzt werden wir vergewaltigt.“ Und heute, fast 50 Jahre später, ist sie sicher, wer der Mann im Auto war: Der mutmaßliche Serienmörder Kurt-Werner Wichmann.
Die „Göhrde-Morde“ wurden auch von Netflix verfilmt
Über Kurt-Werner Wichmann, den „Göhrde-Mörder“, der sich 1993 in Untersuchungshaft das Leben genommen hat, gibt es einen dreiteiligen Spielfilm und mehrere Dokumentationen. Auch Netflix hat das Leben und Töten des Lüneburgers als True-Crime-Krimi verfilmt.
Ingrid Peters‘ Tochter hört im Oktober 2022 einen Podcast der „Zeit“ über die Göhrde-Morde, ihre Mutter sieht danach die ARD-Dokumentation „Eiskalte Spur“, die im Anschluss an den dreiteiligen Fernsehfilm „Das Geheimnis des Totenwaldes“ gezeigt wird. Erstmals liefen die Filme über die Morde im Göhrde-Wald im Landkreis Lüchow-Dannenberg 2019.
Mädchen wollen in den „Goldenen Drachen“ nach Altenwalde
Das damals junge Mädchen Ingrid ist Mitte der 70er Jahre häufig freitags und samstags zum Feiern in einer Discothek in Altenwalde bei Cuxhaven, dem „Goldenen Drachen“. Ingrid erkennt in der Doku den Täter: Kurt-Werner Wichmann, der „Blonde mit der Brille“. Die Gesichtszüge versetzen sie schnell ins Jahr 1974 - oder 75, so genau kann sich die 1957 geborene Frau nicht erinnern. „Ich war 16 oder 17.“
Begleitet wird Ingrid Peters damals von ihrer Freundin, die ein Jahr älter gewesen ist. Die Frau heißt nicht wirklich Ingrid Peters, sie möchte mit ihrer Aussage helfen, aber nicht erkannt werden. Ihre Freundin bestätigt die Angaben von Peters.
Freundinnen wollen in der Disco Hasch kaufen
Die beiden Frauen wollen sich Hasch in der Disco besorgen, für zehn oder zwanzig Mark. Von der Discothek „Goldener Drache“ mitten in Altenwalde soll es nach Cuxhaven gehen - und dann am kommenden Tag mit dem Zug zurück nach Hause in Richtung Hamburg. Sie wohnt in einem Ort im Elbe-Weser-Dreieck.
Die Mädchen sind öfter am Wochenende in Altenwalde, rauchen gerne Hasch. Im „Drachen“, das ist ihre Musik. Sie wollen trampen. So wie es damals zur Jugendkultur gehörte. Jeder musste sehen, wie er nach Hause kam. Daumen raus und warten. In Cuxhaven hat ihre Freundin einen Bekannten.

In der Discothek „Goldener Drache“ in Altenwalde besorgten sich die Mädchen Haschisch.Foto: privat/Eggeling Foto: privat/Eggeling
Tramperinnen steigen in einen Sportwagen ein
Neben ihnen hält auf der Hauptstraße in Altenwalde ein Sportwagen. Es war unüblich, dass so ein Auto bei ihnen stoppt, „denn meistens hat uns einer der Hippies mitgenommen, mit denen wir verkehrten“. Sie erinnert sich an den „Flitzer“ und einen Mann darin, den sie als „Angeber“ beschreibt. In einem Auto in einer „auffälligen Farbe“, ob er rot war, kann sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Eine Signalfarbe. Ein „Angeber-Auto“. Kurt-Werner Wichmann fuhr immer wieder verschiedene Autos, so auch einen roten Sportwagen.

Die Discothek "Goldener Drachen" in Altenwalde von innen. Foto: privat/Eggeling
Diesen Kurt-Werner Wichmann glaubt die junge Frau jetzt nach fast 50 Jahren wiederzuerkennen. „Glaubt“? Die Krankenschwester ist sich hundertprozentig sicher. Ein junger Mann, blond, von Bekannten als gut aussehend beschrieben. Ingrid hält ihn für einen Spießer. Die Haare „ganz akkurat“. Damit sie einsteigen können, muss Wichmann, der Beifahrer, aussteigen und sie hinten reinlassen.
Wichmann soll mindestens fünf Menschen getötet haben
Kurt-Werner Wichmann. Den Mann, den sie in der ARD-Doku wiedererkennt. Wichmann steht im Verdacht, mindestens fünf Menschen getötet zu haben. So wird im Herbst 2017 die Leiche von Birgit Meier unter Wichmanns Garage gefunden. Sie war 1989 verschwunden.
Im selben Jahr wurden zwei Paare in der Göhrde, einem Waldgebiet bei Lüneburg, getötet, per Kopfschuss. Wichmanns DNA findet sich auf dem Fahrersitz eines Autos der Göhrde-Opfer.
Privatermittler geben im Fall Birgit Meier nicht auf
Dass die Taten überhaupt aufgeklärt wurden, ist der Beharrlichkeit des Bruders von Birgit Meier zu verdanken. Wolfgang Sielaff war Leiter des Hamburger Landeskriminalamtes und wollte sich nicht damit zufriedengeben, dass der Tod seiner Schwester über Jahrzehnte ungeklärt blieb.
Als er 2002 in Pension geht, beschließt er, das Verschwinden seiner Schwester aufzuklären. Er kann weitere Fachleute für sich gewinnen, wie den damaligen Leiter der Hamburger Rechtsmedizin, Klaus Püschel, den renommierten Strafverteidiger Gerhard Strate und die Kriminalpsychologin Claudia Brockmann.
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Mit dabei ist auch Reinhard Chedor, wie Sielaff damals selbst LKA-Chef in Hamburg. Chedor lässt der Fall Wichmann nicht los, auch nicht, als der Fall Birgit Meier aufgeklärt ist - und auch nicht, als er selbst in den Ruhestand geht. Der heute 71-Jährige glaubt, dass es noch mehrere Morde gibt, noch mehr Opfer und Familien, „die wissen wollen, was passiert ist“.
Gemeinsam mit der Journalistin Anne Kunze, die über den Fall Wichmann seit längerem recherchiert und mehrere Artikel in der „Zeit“ veröffentlicht hat, ist Chedor auch dabei, als die heute 65-jährige Ingrid Peters im Hamburger Wohnzimmer der Familie ihre Aussage über das Erlebte Mitte der 70er Jahre in Cuxhaven macht. Mit dabei ist auch ihre Tochter.

Reinhard Chedor (rechts) und Eckhard Neupert sind in Altenwalde unterwegs und versuchen, den Weg der beiden Frauen nachzuzeichnen, die im Wagen des mutmaßlichen Serienmörders Kurt-Werner Wichmann gesessen haben. Neupert ist pensionierter Kriminaldirektor und war damals für die Disco-Morde zuständig. Er geht von einem Serienmörder aus. Auch ihn lässt das Schicksal der Frauen nicht in Ruhe. Foto: Eggeling
Immer wieder wird über einen Komplizen gemutmaßt
Ingrid und ihre Freundin steigen damals in den großen Sportwagen ein, neben dem Blonden sitzt der Fahrer, ein „jüngerer, kleiner, eher dunkelblonder Mann“. Gerade im Zusammenhang mit den Göhrde-Morden wird immer wieder auch über einen Komplizen gemutmaßt.
Die beiden Männer würdigen sich kaum eines Blickes, keiner sagt einen Ton. Als die beiden Mädchen ihr Ziel nennen, nicken sie nur. Die Mädchen denken sich nicht viel dabei, „die sind eh eigenartig“. Ob die beiden Männer vorher schon in der Disco gewesen sind, ist unklar. Sie kennen sich aber anscheinend aus, fahren „zielgerichtet“, so nehmen es die beiden Mitfahrerinnen jedenfalls wahr.
Ingrid glaubt heute beim Blick auf eine Karte eine Kreuzung wiederzuerkennen. Nach kurzer Fahrt Richtung Cuxhaven biegt der Wagen links ab. Die Mädchen denken sich noch nichts dabei, vielleicht kennen die Männer eine Abkürzung. Dann fährt das Auto in einen Feldweg, gesäumt von Bäumen, er ist uneben. Ein Schotterweg. Es wird schummriger.

Nicht auf direktem Wege fuhr Kurt-Werner Wichmann mit den beiden Anhalterinnen nach Cuxhaven. Erst ging es geht über einen von Bäumen gesäumten Feldweg wie diesen. Zwischen Altenwalde und Cuxhaven gibt es davon einige. Foto: Döscher
Jetzt wird den Freundinnen klar, wie brenzlig die Situation ist. Plötzlich hält der Wagen, aber keiner sagt etwas. „Da war absolute Kälte in dem Wagen.“ Es passiert lange nichts, es kommt Ingrid wie eine Stunde vor. Sie befürchtet, dass die Männer sie und ihre Freundin vergewaltigen wollen.

Das Foto zeigt den mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann auf einem Mercedes, mit dem er viel unterwegs war.Foto: privat/Eggeling Foto: privat/Eggeling
Wichmann dominiert den kleinen Blonden am Steuer
Während ihre Freundin nichts sagt, wie versteinert ist, tritt Ingrid die Flucht nach vorne an, quatscht den „Kleinen“ auf dem Fahrersitz an: „Du bist doch nicht so einer. Fahr uns doch wieder zurück. Was soll das hier? Das machst du doch nicht. Und das wäre doch blöd.“ Doch der kleine Dunkelblonde sagt weiterhin kein Wort. Er blickt zu dem Blonden, so als wenn er sich vergewissern will, was er tun soll.
Als Kurt-Werner Wichmann sich dann nach vorne beugt, sieht die Frau von der Rückbank aus eine Pistole, eine Waffe an dessen rechter Seite. „Zivilpolizei“, schießt es ihr durch den Kopf.
Sie bekommt ein Gefühl von Panik und gleichzeitig denkt sie, „kann so schlimm ja nicht sein, wenn es Polizisten sind“. Sie ändert ihre Strategie und versucht jetzt, auf den Blonden einzuquatschen, da der offensichtlich entscheidet, was gemacht wird. „Hör mal, du bist doch Polizist, irgendwie.“
Die junge Frau sieht Wichmanns Waffe
Wichmann realisiert offenbar, dass die Frau seine Waffe gesehen hat. „Wir sind doch kleine Fische. Wir haben doch hier Hasch.“ Erstmals reagiert Wichmann „ohne Kälte“. Er fragt, was sie denn so an Drogen dabeihabe. „Wir haben doch gar nicht viel.“ Aber sie könne mehr besorgen, man könne ihm auch zeigen, wo man das Zeug in Cuxhaven kauft.
Ingrid verweist auf einen Großdealer. Dass sie sich den nur ausgedacht hat, weiß Wichmann nicht. Er zeigt sich interessiert, als wenn er jetzt die Rolle eines Polizisten einnimmt. Lässt sich das Haschisch zeigen. Vielleicht hat sie ihm sogar einen Joint gedreht, so genau weiß sie das nicht mehr. Aber mit der Polizei wolle sie nichts zu tun haben, sagt sie zum Blonden. Und sie gingen ja auch noch zur Schule.
Plötzlich setzt sich der Wagen in Bewegung
Und auf einmal springt der Wagen an. Ohne dass die Männer es angekündigt haben. Der Blonde lacht. Sie wollen zum Dealer, denken die Mädchen. „Und dann sind wir losgefahren, rückwärts. Und da wusste ich: Es wird alles gut.“
In Cuxhaven wollen die beiden Mädchen den Männern zeigen, wo der Dealer wohnt. Die beiden Männer sollen warten. Und dann rennen die Mädchen los. „Wie die Irren.“ Sie verschanzen sich in einem Rohbau, schlafen dort. Und trampen nach Hause. Die beiden reden nie wieder über die Geschichte. Sie glaubten, auf zwei Irre gestoßen zu sein. Erst mit den Bildern im Fernsehen kommt alles wieder hoch - Jahrzehnte später.
„Wie kann man mit solch einem abartigen Mann verheiratet sein?“
„Ja, wir haben Glück gehabt.“ Ingrid hat in der Dokumentation gesehen, das andere nicht so viel Glück hatten. Vieles geht ihr durch den Kopf: „Haben die jemals... Hat er jemals... Haben Sie jemals zwei Mädchen auf einmal?“ Sie fragt sich auch, wie eine Frau mit so einem Mann verheiratet sein kann, „ohne zu merken, dass der abartig ist“.
Kurt-Werner Wichmann, 1949 geboren, hat selbst früh Gewalt erlebt. Nachzulesen in Gutachten und auch aus Erzählungen ehemaliger Bekannter. Carlo Eggeling, freier Journalist in Lüneburg, hat sich eingehend mit dem Leben Wichmanns beschäftigt, kommt mit den privaten Ermittlern in Kontakt. Unterstützt deren Arbeit, sucht mit Reinhard Chedor Zeugen und Hinterbliebene auf. Nach und nach bekommt man ein genaueres Bild vom mutmaßlichen Serienmörder.

Dieses Foto benutzte Kurt-Werner Wichmann für seinen Führerschein.Foto: privat/Eggeling Foto: privat/Eggeling
Wichmann wird in schwierigen Familienverhältnissen groß
Von katastrophalen Familienverhältnissen ist die Rede. Mit 14 fällt Wichmann über eine Frau her, die mit ihrem Mann und einem Baby im Haus der Eltern wohnt. Er dringt ins Haus ein, würgt die Frau, er lässt wohl nur ab, weil das Baby zu weinen beginnt.
Mit 16 überfällt er eine Radfahrerin. Sammelt die Zeitungsberichte darüber. 1970 vergewaltigt der 21-Jährige eine Anhalterin, wirft die Frau in den Kofferraum. Vielleicht glaubt er, sie sei tot. Als er den Kofferraum öffnet, schlägt die Frau mit einem Klappspaten auf ihn ein. Er überwältigt sie, schließt sie wieder ein.
Später steht er mit einer Waffe vor der Frau, sie redet auf ihn ein - Wichmann lässt sie laufen. Die Lüneburger Landeszeitung berichtet über den Fall. Daraufhin meldet sich Wichmann bei der Polizei, weil er „einiges richtigstellen“ will. Er wird verurteilt, muss die Haft aber nicht komplett absitzen.
Polizei stößt auf ein „geheimes Zimmer“ mit 423 Asservaten
Nachdem die Privatermittler Birgit Meier 2017 unter Beton in der Garage von Wichmann finden, stößt die Polizei Lüneburg bei der Suche auf seinem Grundstück auch auf ein „geheimes Zimmer“. Dort finden sich 423 Asservate - neben Frauenschuhen, Portemonnaies, Handtaschen und Schmuck auch Videokassetten und Zeitungsartikel, in denen es um ungeklärte Mordfälle geht. Bundesweit. Hat Wichmann etwas mit diesen Taten zu tun?
Das „geheime Zimmer“ wird erstmalig 1993 bei einer polizeilichen Durchsuchung gefunden. Als Wichmann von der Durchsuchung auf der Arbeit hört, flieht er und baut einen Unfall in Süddeutschland. Im Kofferraum findet die Polizei versteckt Munition, eine zerlegte Maschinenpistole und einen großen Geldbetrag. Wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz kommt er in U-Haft. Dort nimmt er sich das Leben.
Die „Disco-Morde“ rücken wieder mehr in den Fokus
30 Jahre später könnten mit den Aussagen der beiden Anhalterinnen vom „Goldenen Drachen“ nun auch die sogenannten Disco-Morde im Raum Cuxhaven/Bremerhaven in ein neues Licht gerückt werden.
Zwischen 1978 und 1986 werden im Elbe-Weser-Dreieck sieben junge Frauen getötet oder sind bis heute vermisst. Meistens waren sie als Anhalterinnen unterwegs.
Ist Wichmann für das Verschwinden dieser Frauen verantwortlich?
7. Oktober 1977: Anja Beggers (16) aus Midlum verschwindet im Oktober 1977 nach einem Besuch der Discothek „Moustache“ in Bremerhaven.
7. Juni 1978: Angelika Kielmann (18) aus Cuxhaven wird nach einem Kneipenbesuch im Juni 1978 nie wieder gesehen.
16. Mai 1979: Anke Streckenbach (19) aus Cuxhaven wird seit Mai 1979 nach einem Kneipenbesuch vermisst.
30. November 1980: Andrea Martens (19) aus Sellstedt taucht nach einem Besuch bei ihrem Freund in der früheren US-Kaserne in Garlstedt nicht wieder auf. Dieser hatte ein Alibi.
13. August 1982: Die 15-jährige Christina Bohle aus Bremerhaven macht sich auf den Weg zur Disco „Kasba“ in Heerstedt. Zeugen sehen das Mädchen zuletzt um 2 Uhr im Garten der Disco. Danach fehlt jede Spur.
13. Juni 1986: Jutta Schneefuß (23) aus Loxstedt trampt nach Bremerhaven, wird nie wieder gesehen. Sie hinterlässt eine fünfjährige Tochter.
23./24. August 1986: Irene Warnke aus Ringstedt ist in dieser Nacht zu Fuß zu einer Disco unterwegs. Die 19-Jährige wird von hinten niedergeschlagen, vermutlich mit einem Knüppel. Der Verbrecher wird offenbar gestört, stößt die bewusstlose Frau in einen Graben. Dort ertrinkt sie im Schlamm unter Entengrütze. Ihr Leichnam wird eine Woche später entdeckt.

Stellen 2019 neue Erkenntnisse zum Vermisstenfall Anja Beggers vor: Rainer Brenner von der Polizeiinspektion Cuxhaven und Rudi Cerne, Moderator der Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst". Foto: screenshot
Ist Kurt-Werner Wichmann auch der „Disco-Mörder“?
Ist es möglich, dass Kurt-Werner Wichmann auch für diese Taten verantwortlich ist? Eine Cold-Case-Einheit der Polizeiinspektion Cuxhaven hat sich die Fälle seit Juli 2019 erneut angeschaut, unter anderem auch den Fall Beggers. Hier schließt sie aber auch einen Einzeltäter nicht aus, insbesondere den Bekannten aus dem Dorf, der mit Anja nach Bremerhaven fahren wollte. Reinhard Chedor hält engen Kontakt zur Mutter von Anja. Inge Beggers ist heute 84 Jahre alt.
Erfahrungsgemäß erledigen sich laut Bundeskriminalamt 50 Prozent der Vermisstenfälle innerhalb der ersten Woche. Binnen Monatsfrist liegt die „Erledigungsquote“ bei mehr als 80 Prozent. Der Anteil der Menschen, die länger als ein Jahr vermisst werden, liegt bei nur etwa 3 Prozent. Dazu gehören Menschen wie Anja Beggers - und Angehörige, die auch Jahrzehnte danach noch wissen wollen, was passiert ist. Wie Inge Beggers.
Cuxhavener Ermittlungsgruppe „Cold Case“ wird wieder aufgelöst
Die neuerlichen Ermittlungen der Polizei Cuxhaven unter anderem zu den „Disco-Morden“ führen nicht zu Erfolgen, die Einheit wird wieder aufgelöst.
„Am Ende der EG Cold Case blicken wir alle ein wenig enttäuscht auf das Ergebnis, nicht unseretwegen, sondern weil alle den Angehörigen bei der Aufklärung der einzelnen Schicksale sehr gerne neue Hinweise und Ergebnisse zur Verfügung gestellt hätten. Leider ist dies nicht der Fall, die tragische Geschichte von jeder der verschwundenen Frauen bleibt weiter ungeklärt. Dies muss insbesondere für die Angehörigen sehr quälend sein, aber zurzeit sehen wir keinen weiteren Ansatz, um auf die vielen offenen Fragen brauchbare Antworten zu bekommen“, resümiert Inspektionsleiter Arne Schmidt das Ermittlungsergebnis Ende Dezember 2022.
Doch Kriminaldirektor Schmidt verdeutlicht, dass die Ermittlungsergebnisse dennoch dazu führen können, dass der oder die Täter eines Tages überführt werden. „Nun sind die retrograd erstellten DNA-Profile der vermissten Frauen in der bundesweiten DNA-Spurendatei gespeichert und können bei Verdachtsfällen automatisiert abgeglichen werden.“
Keine Beweise, aber Hinweise: Wichmanns Bezug zum Cuxland
Einen Zusammenhang mit Kurt-Werner Wichmann sieht die Polizei nicht. Der frühere Spitzenpolizist Reinhard Chedor hingegen schließt ihn nicht aus. Interessant ist der Aspekt der möglichen Zivilfahnder. Nach den „Göhrde-Morden“ gab es eine angebliche Polizeikontrolle, in der Männer, die sich als Beamte ausgaben, eine Frau stoppten. Ähnlich wie im Fall in Altenwalde.
Chedor: „Aus der Aussage der beiden Frauen wird deutlich: Wichmann kannte sich im Raum Cuxhaven aus.“ Und er war immer unterwegs. Dafür sprechen seine „auffallend hohen Kilometerleistungen“. Bis zu 30.000 Kilometer fährt Wichmann im Jahr. Mit oft wechselnden Autos, auch gestohlene sind darunter. Er hatte einen Wagen, in dem die Polizei Landkarten, Fesseln, Betäubungsmittel, ein Nachtsichtgerät und Ausrüstung für lange Nächte im Freien fand.
Wichmann hatte auch ein Faible für Musik und Diskotheken. In seinem „geheimen Zimmer“ wird auch ein Neoprenanzug gefunden. Wichmann war begeisterter Surfer - ein weiterer Bezug zum Cuxland?
Wichmann zieht um - dort häufen sich Anhaltermorde
Wegen der Vergewaltigung der Anhalterin Anfang der 70er muss Wichmann für ein paar Monate in Haft, das aber auch mit Unterbrechungen. Nach seiner Freilassung zieht er 1975 in die Nähe von Karlsruhe, zu einer älteren Zahnarztwitwe, mit der hat er sich während der Haft Briefe geschrieben. Er hatte auf eine Kontaktanzeige von ihr geantwortet.
Chedor: „Es ist auffällig, dass nun plötzlich auch in Süddeutschland Anhalterinnen getötet wurden.“ Drei Tramperinnen werden dort in den nächsten anderthalb Jahren tot aufgefunden.
Eine Frau schildert heute gegenüber der „Zeit“, 1982 als 16-Jährige von Wichmann im Raum Karlsruhe mitgenommen worden, zum Oralsex gezwungen und stundenlang festgehalten worden zu sein. „Du bist nicht die Erste, die ich umbringe“, hat er gesagt. Nach sechs Stunden fährt er sie aber nach Hause.
Das ambivalente Verhalten des Kurt-Werner Wichmann
Eine frühere Geliebte aus dem Jahr 1990 beschreibt Wichmann, der seinerseits eine Kontaktanzeige aufgegeben hat, in dem NDR-Podcast „Die Affäre“ auf der einen Seite als „spukig“, „unheimlich“, auf der anderen Seite als „lustig“ und „überdreht“. So habe er an ein öffentliches Gebäude gesprüht „Du bist meine Nummer 1“. Ihr fällt sein besonders „klares, liebes Auge“ auf. Er sei sehr aufmerksam mit kleinen Geschenken wie Plüschtieren gewesen. Damals hatte er gerade fünf Menschen getötet. Deutlich wird, dass er ein Frauentyp gewesen sein muss.