TJuwel in Stader Altstadt: Die geheimnisvolle Maske fällt bald

Hinter dem verhüllten Baugerüst passiert gerade eine ganze Menge. Foto: Richter
Ein Haus in der Hökerstraße erzählt seine Geschichte - und gibt sich derzeit noch verhüllt. Doch hinter der Fassade passiert eine ganze Menge. Was genau, erzählt das Haus hier selbst.
Stade. Meine verhüllte Fassade macht viele neugierig. Ich will noch nicht alles verraten, was dahinter vorgeht. Aber es ist mir nicht peinlich zu verkünden: Ich bekomme eine Schönheits-OP. Versierte Fachleute sind dabei, meine Fassade nach allen Regeln der Kunst zu sanieren. Anders als bei den meisten Schönheits-OPs geht es bei mir allerdings nicht darum, mich jünger aussehen zu lassen.
An mir wird nämlich hoch geschätzt, was viele Menschen an sich selbst nicht so gerne sehen: die charaktervollen Spuren meines langen, bewegten Lebens. Ich wurde 1669 erbaut und glauben Sie mir: Die dreieinhalb Jahrhunderte habe ich bis ins Gebälk gespürt. Aber wie schön ich trotz allem bin, habe ich erst wirklich begriffen, als eine neue Frau in mein Leben trat: Angelika Budde.

Architektin Angelika Buddelmann auf dem Baugerüst vor der Fassade. Foto: Richter
Stade: Eine verhüllte Fassade und neue Menschen in seinem Leben
Mein Freund und Besitzer Ulf Brokelmann hat sie für mich ausgesucht. Angelika bedeutet Engel, und für mich ist sie auch einer. Sie ist Architektin und hat ihr Büro, scandal architecture & interiors, nur einen Katzensprung weiter in der Großen Schmiedestraße. Aber Angelika arbeitet nicht nur an mir. Sie liebt mich auch, das spüre ich. Ich bin zwar nur eines von fünf Projekten im Stader Altbausanierungsprogramm, bei denen sie ihre Finger im Spiel hat, doch vernachlässigt hat sie mich nie.
Ich werde nie vergessen, wie ihre Augen sich weiteten, als wir uns zum ersten Mal wirklich nahe kamen und sie meine zerfressenen Deckenbalken und das absackende Dach sah, das die Wände der alten Synagoge nach außen drückte. So nennen Ulf und Angelika den Gebäudeteil, der hinten zur Cosmae-Kirche hin liegt. Die Juden von Stade nutzten ihn von 1873 bis 1908 als Gebetsraum.
Hinterhaus birgt wahre Schätze
Ich war einsturzgefährdet. Die Dachziegel mussten runter, die schiefe Wand wurde wieder herangezogen, mit Winkeln und Stahlverbindungen befestigt. „Ein anderes Haus wäre längst zusammengebrochen“, sagt Angelika, die mich ihr „Herzensprojekt“ nennt. Ja, mein Fachwerk hält viel aus. Vielleicht auch aus jahrhundertelanger Gewohnheit.
Angelika findet, dass ich eigentlich aus zwei Gebäuden mit unterschiedlichen Persönlichkeiten bestehe: An der Hökerstraße ging es, wie der Name schon sagt, meist ums Handeln und Anliefern. Hier wohnten auch die Familien der Kaufleute, Buchdrucker, Goldschmiede und Hutfabrikanten, deren Zuhause ich war. Doch damals, als die Menschen Gott noch sehr viel mehr zugewandt waren als heute, war der Gebäudeteil zur Kirche hin vielleicht sogar noch wichtiger.

Die Rückseite wird noch saniert, ist aber auch jetzt schon hübsch: Eigentümer Ulf Brokelmann und Aaron Kraska, einer der neuen Mieter, grüßen sich von Balkon zu Balkon. Foto: Richter
Mein Hinterhaus wirkt schlicht, birgt aber Schätze. Zum Beispiel die reich geschnitzten hölzernen Pilaster seitlich der Fenster: Ich weiß noch, wie der Organist und Komponist Vincent Lübeck hier stand, versonnen zur Kirche blickte und dabei eine Melodie summte - 200 Jahre, bevor die Stader Juden hier beteten und sangen. Heute dürfen andere diese Aussicht genießen und können bei offenen Fenstern noch immer die Orgel hören, an der Vincents bester Freund, der junge Arp Schnitger, damals als Geselle mitgebaut hat.
Alle Wohnungen sind vermietet
Die Wohnungen, die Ulf Brokelmann in meinen Etagen geschaffen hat, um meine kostspielige Sanierung zu finanzieren, sind inzwischen zum Glück alle vermietet. Lauter junge Leute sind eingezogen. Sie sind alle sehr geschäftig. Bei Aaron Kraska, der im obersten Stock wohnt, habe ich mich gefragt, weshalb er zu so ungewöhnlichen Zeiten kommt und geht. Inzwischen weiß ich es: Er ist Assistenzarzt im Stader Krankenhaus und hat Schichtdienst.
Kraska sagt, dass er mein historisches Ambiente und die sichtbaren Holzbalken genießt, über moderne Küche und Badezimmer aber froh ist. Auch aus der alten Pillendreher-Kammer des Drogisten auf dem Dachboden ist jetzt ein Bad geworden. Alles Neue ist weiß, grau und schwarz gehalten. Minimalismus ist heute offenbar in Mode.
Liebevolle Arbeit einer Restauratorin
Die Stader Denkmalpflegerin Lisa Rolle hat aber dafür gesorgt, dass hier und dort noch die Farben vergangener Jahrhunderte hervorblitzen, mit denen frühere Bewohner mich schmückten: Strahlendes Königsblau und zartes Grün, Friese mit Weinreben und arabeske Muster.

Wandgestaltungen vergangener Jahrhunderte und die geschnitzten Holzsäulen seitlich der Fenster bleiben teilweise sichtbar. Foto: Richter
Früher hatte ich auch kunstvoll bemalte Deckendielen. Ulf hat sie alle eingesammelt, obwohl einige so übermalt waren, dass er von Vögeln, Blumen und Medaillons gar nichts ahnte. Aber meine Restauratorin Inke Hansen hat sie liebevoll wieder zum Vorschein gebracht. Nun sollen sie wieder gezeigt werden - als Deckensegel unten im Geschäft und oben in einer der Wohnungen.
Ja, ich bin ein Haus mit vielen Gesichtern. Meine zurzeit verhüllte Fassade ist nur eines davon. Der Stuck aus Sandstein mit dem prachtvollen Früchte-Fries wird aufgearbeitet und von den Ziegelsteinen und Gesimsen wird Farbschicht um Farbschicht entfernt. Bis zu 29 sind es an manchen Stellen, wie eine Untersuchung gezeigt hat. Das Mauerwerk bekommt eine Fugensanierung. Vielleicht werden die Backsteine später sichtbar bleiben, so, wie es damals auch war.

Aus der Nähe betrachtet wirken die Stuck-Reliefs aus Sandstein beeindruckend massiv. Foto: Richter
Sanierung immer teurer: Millionenwert wohl erreicht
Mein Freund und Besitzer Ulf hat eine Zeitlang gedacht, er müsste von mir Abschied nehmen. Das Modegeschäft, das schon seine Eltern in der Hökerstraße betrieben, wird er nämlich im Januar kommenden Jahres schließen. Es gibt zwei sehr ernsthafte Interessenten für die Räume, und ich bin schon sehr gespannt, für wen der beiden er sich entscheidet.
Das Geschäft mit seinen Cabrio-Jacken will Ulf weitermachen und wollte sich dafür eigentlich etwas Neues suchen. Aber daraus wird wohl nichts. Dass er mir vier Jahre lang seine Kraft, sein Geld und seine Wochenenden geschenkt hat, hat unsere Beziehung nicht einfacher gemacht, aber inniger. Ich glaube, er kann nicht mehr ohne mich.
Für mein Treppenhaus hat Ulf uns etwas gegönnt: Eine schicke neue Lampe mit asymmetrischen Armen aus Stahl, die aussieht wie das ultramoderne Zitat eines Kronleuchters. Ich finde, wir sind ein schönes Paar und freue mich, dass Ulf mit seinen Cabrio-Jacken jetzt doch ins Erdgeschoss der alten Synagoge ziehen will. Die Cabrio-Fahrer können dann von der Kirchenseite aus in den Laden kommen.
Zuerst muss aber meine Schönheits-OP beendet werden, und die ist noch nicht ganz bezahlt. Meine rückwärtige Fassade fehlt noch, und Ulf hofft, dass die Hilfe, die ihm aus der Städtebauförderung, von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, der Bingo Umweltstiftung und vom Land Niedersachsen zugeflossen ist, nicht versiegt. Zuerst hatte er mit 700.000 Euro gerechnet, aber inzwischen hat seine Liebe zu mir locker das Zweieinhalbfache gekostet. Ich glaube, er wird es am Ende nicht bereuen. Ich bin das wert.