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Interview

TMesserattacke trotz Behandlung? Ein Psychiater gibt Antworten

Bei einem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof am Freitag sind mehrere Menschen schwer verletzt worden.

Bei einem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof am Freitag sind mehrere Menschen schwer verletzt worden. Foto: Georg Wendt

Kurz vor der Messerattacke in Hamburg wurde die Tatverdächtige aus einer Psychiatrie im Kreis Cuxhaven entlassen. Wie kann es zu solchen Vorfällen kommen? Das erklärt ein Psychiater im Interview.

Von Denise von der Ahé Dienstag, 27.05.2025, 11:50 Uhr

Debstedt. Die mutmaßliche Täterin des Hamburger Messerangriffs ist in der Region keine Unbekannte. Die Frau sei Anfang Mai hilflos in Cuxhaven gefunden worden, teilte ein Sprecher des niedersächsischen Gesundheitsministeriums mit. Sie sei daraufhin eingewiesen und für drei Wochen in einer Klinik behandelt worden.

Einen Tag vor der Tat wurde die psychisch kranke Frau aus dem Ameos-Klinikum Seepark Geestland entlassen. Laut „Bild“ leidet sie an einer paranoiden Schizophrenie. Wie es zu solchen Vorfällen kommen kann, sagt der Psychiater Prof. Dr. Jürgen L. Müller, Chefarzt am Asklepios Fachklinikum Göttingen für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, im Interview.

Psychiater Prof. Dr. Jürgen L. Müller ist Chefarzt am Asklepios Fachklinikum Göttingen für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie.

Psychiater Prof. Dr. Jürgen L. Müller ist Chefarzt am Asklepios Fachklinikum Göttingen für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Foto: Mirco Plha

„Hohe Hürden für Unterbringung in Psychiatrie“

Wie ist es möglich, dass eine solche Tat kurz nach der Entlassung aus der Psychiatrie passieren kann? Kann sich der gesundheitliche Zustand psychisch schwer kranker Menschen innerhalb von Stunden so stark verschlechtern?

Gehen wir von einer Patientin aus, die an einer akuten Schizophrenie leidet und sich zuvor in einem psychiatrischen Krankenhaus befand. Wenn sie offensichtlich dieses Krankenhaus verlassen wollte oder die Frist der Unterbringung endete, dann müssen das die behandelnden Ärzte beurteilen. Die Frage lautet: Gibt es Gründe, sie gegen ihren Willen mit einem richterlichen Beschluss davon abzuhalten? Wenn Ärzte einen Hinweis darauf sehen, können sie einen richterlichen Beschluss beantragen. Die Hürden für eine Unterbringung sind hoch.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Es müssen die rechtlichen Voraussetzungen einer Unterbringung nach den „PsychKG“ erfüllt sein. Das sind die Landesgesetze, die die Unterbringung von psychisch kranken Menschen in psychiatrischen Einrichtungen regeln, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht.

Es muss beurteilt werden, ob eine akute Gefährdung infolge einer psychischen Störung besteht. Dann muss das Gericht entscheiden, ob es die Unterbringung weiter anordnet. Offensichtlich haben das die behandelnden Ärzte in diesem Fall nicht so gesehen.

„Durch Stress können sich psychotische Störungen verschlimmern“

Einen Tag nach der Entlassung passiert dann solch eine schwere Tat. Wie ist es möglich, dass ein Patient innerhalb so kurzer Zeit doch zur Gefahr für andere wird?

Selbst wenn die rechtlichen Voraussetzungen einer solchen Unterbringung nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen nicht vorlagen, muss das nicht heißen, dass die Betroffenen ganz gesund sind. Es kann auch sein, dass die rechtlichen Voraussetzungen einer weiteren Unterbringung nicht erfüllt sind. Auch dann können Patienten die notwendige Behandlung nicht einsehen oder ihre Medikamente nach der Entlassung absetzen. Bei einer Schizophrenie kommt es aber entscheidend auf die Medikation an. Wenn dann weitere ungünstige situative Bedingungen eintreten, kann es schnell schwierig werden.

Welche können das sein?

Da sind verschiedene Konstellationen denkbar: Manche Patienten nehmen zusätzlich Drogen. Wenn sich jemand in der Obdachlosigkeit befindet und keinen Halt hat, erschwert das die Situation. Es entsteht eine Stresssituation. Dadurch kann sich eine psychotische Störung rasch verschlimmern, mit einem wahnhaften Erleben. Es kann sein, dass das während der Behandlung noch gar nicht so deutlich zutage getreten ist oder durch die Unterbringung kompensiert wurde.

Wie erleben die Patienten solche Zustände?

Das sind hochindividuelle Zustände. Sie können auch mit einer Fremdgefährdung einhergehen, was häufig einen zerrütteten Wirklichkeitsbezug voraussetzt mit akutem Wahnerleben oder Hören von Stimmen, die Befehle geben. Dagegen ist kein Widerstand mehr möglich.

Der Realitätsbezug ist beeinträchtigt. Der Betroffene nimmt Situationen als gegen sich gerichtet und bedrohlich wahr, obwohl sie neutral sind. Der Patient kann sich beeinträchtigt, möglicherweise verfolgt und in seinem Leben gefährdet fühlen. Das sind Zustände, die zu solch schweren Taten führen können.

„Nicht alle Patienten nehmen Hilfe an“

Wann kann man Patienten guten Gewissens entlassen?

Es gilt, die individuellen Freiheitsrechte und den Schutz der Öffentlichkeit abzuwägen. Viele Patienten sprechen recht gut auf Medikation an. Man kann sie gut behandeln, aber eben leider können nicht alle Patienten die Hilfe annehmen. Es kommt auch darauf an, ob die Betroffenen in der Lage sind, einzusehen, dass sie von der Behandlung gut profitieren und gewillt sind, diese Medikation ausreichend lang und in ausreichender Dosierung einzunehmen.

Wenn ein Patient ausreichend lange behandelt wurde, kann er wieder entlassen werden. Der Behandlungserfolg muss aber langfristig sichergestellt werden. Dazu wären noch mehr niedrigschwellige Angebote sinnvoll.

Wie können diese aussehen?

Das können aufsuchende Maßnahmen auch, indem man den Betroffenen nach der Entlassung niedrigschwellige Hilfe anbietet und schnell mitbekommt, wenn sich eine psychotische Störung wieder verschlechtert. Bei Menschen ohne festen Wohnsitz ist das eine besondere Herausforderung.

Es ist dann besonders wichtig, nachbetreuend mit Hilfsangeboten tätig zu werden, also dass man die Patienten eben nicht aus der Klinik in die Obdachlosigkeit entlässt. Wir benötigen da meiner Ansicht nach noch mehr Präventions- und Hilfsangebote.

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