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Mordprozess

TStader Clan-Streit: Rechtsmediziner spricht von „massivem Vernichtungswillen“

Der 34-jährige Angeklagte (Mitte) sitzt zu Prozessbeginn zwischen seinen Anwälten Dinah Busse (links) und Dirk Meinicke in einem Verhandlungssaal des Landgerichts.

Der 34-jährige Angeklagte (Mitte) sitzt zu Prozessbeginn zwischen seinen Anwälten Dinah Busse (links) und Dirk Meinicke in einem Verhandlungssaal des Landgerichts. Foto: Pool/dpa

Der Angeklagte muss dem Opfer mit einer bewussten Armbewegung das Messer in den Kopf gerammt haben. Das sagte der Gutachter im Mordprozess vor dem Landgericht aus. Das brachte die Verteidigung auf Zinne.

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Von Björn Vasel
Donnerstag, 12.12.2024, 20:15 Uhr

Stade. „Tötet ihn, tötet ihn“, rief ein Mann bei der brutalen Auseinandersetzung zwischen dem Miri- und dem Al-Zein-Clan am Salztor in Stade. Die Verteidiger des Angeklagten Mustafa M. haben die Tonspur extrahiert - und den Satz vom Arabischen ins Deutsche übersetzen lassen. Irgendwann steckte ein Messer im Kopf von Khaled R. - fast zehn Zentimeter tief.

War es Mord oder Totschlag?

Die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger gehen bei der Tat vom 22. März 2024 von einem heimtückischen Mord aus. Mustafa M. droht daher eine lebenslange Freiheitsstrafe. Das wollen die Verteidiger Dinah Busse und Dr. Dirk Meinicke verhindern. Bei einer Verurteilung für Totschlag im Affekt oder in Notwehr könnte der Angeklagte mit einer geringeren Strafe rechnen.

Die Polizei muss das Landgericht Stade weiterhin sichern.

Die Polizei muss das Landgericht Stade weiterhin sichern. Foto: Vasel

Eine wichtige Rolle könnten die Sachverständigen im Prozess spielen. Das erste Gutachten von Professor Dr. Benjamin Ondruschka stand beim zehnten Prozesstag im Mittelpunkt der Verhandlung. Die Schlussfolgerungen des Direktors des Instituts für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) gefielen allerdings weder Dinah Busse und noch Dirk Meinicke.

Ondruschka ist der Nachfolger des berühmten Professors Klaus Püschel - einer weltweit anerkannten Koryphäe auf dem Gebiet der Forensik. Püschel leitete das Institut am UKE bis 2020.

Rückblick: Tatortaufnahme durch die Polizei in der Nacht nach der tödlichen Messerattacke am Salztor in Stade.

Rückblick: Tatortaufnahme durch die Polizei in der Nacht nach der tödlichen Messerattacke am Salztor in Stade. Foto: Polizei Stade

Der Stader Fall könnte Rechtsgeschichte schreiben, ein Platz in den Lehrbüchern ist offenbar bereits sicher. „Das Verletzungsbild ist nicht alltäglich in der Rechtsmedizin. Ich habe so etwas in meinem Berufsleben noch nicht gesehen. Das ist morphologisch einzigartig“, sagte Ondruschka.

Grausame Tat mit einen Stichkraftsimulator rekonstruiert

„Das war kein Unfall“, so der Professor bei der Vorstellung seines biomechanischen Gutachtens. Das Opfer könne angesichts der notwendigen Kräfte weder in das Messer reingelaufen noch reingestolpert sein.

Die Rechtsmediziner haben die grausame Tat mit einem Stichkraftsimulator rekonstruiert. Das Gerät hat das Institut mit der Technischen Universität Hamburg mit Sitz in Harburg konstruiert. Es misst die Kräfte, die notwendig sind, um ein Messer zehn Zentimeter tief in den Schädel eines Menschen zu treiben. Für das Experiment wurde das Gegenstück des Schädelknochens des Opfers mit Zement an einem Modellschädel befestigt.

Rechtsmediziner spricht von einem Verletzungswillen

Das Ergebnis: Laut Ondruschka muss es eine aktive, massive Armbewegung gegeben haben. „Nur unter massiver Kraftanstrengung entsteht dieses Verletzungsbild“, sagte der Professor. Mit einer Geschwindigkeit von 61 km/h sei die Klinge durch den Schädel in das Gehirn eingedrungen. Das Messer soll nahezu senkrecht in den Schädel eingedrungen sein.

Benjamin Ondruschka, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).

Benjamin Ondruschka, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Foto: Christian Charisius/dpa/Pool/dpa

Der Rechtsmediziner machte es anschaulich: Als ob ein 43 Kilogramm schwerer Block aus einem Meter Höhe auf das Opfer gefallen wäre. Ondruschka geht von einem „massiven Verletzungs- und Vernichtungswillen“ aus - verbunden mit einem „forcierten Stich“. Ondruschka sprach im Schwurgerichtssaal von einer „bewussten, aktiv geführten“ Tat. Das heißt: Der Täter wollte sein Opfer entweder töten oder er nahm billigend in Kauf, dass er diesem lebensgefährliche Verletzungen zufügt.

Verteidiger Meinicke war auf Zinne. Vor allem das Wort „bewusst“ brachte ihn auf 180. Er fiel dem Gutachter ins Wort. Der Vorsitzende Richter Erik Paarmann entzog es ihm schließlich: „Sie reden ins Nirwana.“ Die Verteidigung von Mustafa M. behält sich vor, den Sachverständigen abzulehnen. Dr. Meinicke in Richtung Ondruschka: „Ich vermisse Ihre Unparteilichkeit.“

Video mit wüster Beleidigung abgespielt

Des Weiteren spielte die Kammer ein Video von dem Angriff der Miris auf das Wohnhaus der Familie Rachid Al-Zein in der Königreicher Straße ab. Der Inhaber von KC Sportswear - sein Geschäft in der Hökerstraße war von Al-Zeins kurz zuvor verwüstet worden - trat auf die Tür ein. Das Glas splitterte.

Im Haus waren Frauen und Kinder. Er soll auf Arabisch gerufen haben: „Ich ficke die Familie Al-Zein.“ Mustafa M. hielt seinen Bruder von weiteren Gewalttaten ab, zwängte ihn zurück ins Auto. Die Al-Zeins seien aufgrund dieser Ehrverletzung „sehr aufgebracht“ gewesen, berichtete ein als Zeuge geladener Polizist.

Die Spurensicherung arbeitete am 22. März bis tief in die Nacht, holte auch noch die Feuerwehr zum Ausleuchten des Tatortes dazu.

Die Spurensicherung arbeitete am 22. März bis tief in die Nacht, holte auch noch die Feuerwehr zum Ausleuchten des Tatortes dazu. Foto: Battmer

Beamte bewachten das Haus, doch nach einigen Stunden sei der „Objektschutz“ seitens der Großfamilie nicht mehr erwünscht gewesen, hieß es. Drei Vertreter einer Hamburger Moschee wollten in dem Streit vor Ort vermitteln, die Polizei verwies sie an die Polizeiinspektion in der Teichstraße.

Familie erfährt aus Funkspruch von Überfall

Bei dem Überfall auf das Sportgeschäft wollen Miris mindestens zwei Schusswaffen gesehen haben. Doch die informierte Polizei legte offenbar keinen Wert auf das Anfordern von Spezialkräften oder mehr Eigensicherung. Dabei hätte der Polizei das Gefahrenpotenzial seitens der Clans bewusst gewesen sein müssen, so Meinicke.

Lediglich zwei Beamte sprachen Al-Zeins vor ihrem Shisha-Laden in der Großen Schmiedestraße an. Dort hörten Mitglieder der Großfamilie den Funkspruch vom Überfall auf ihr Zuhause. Wenig später inszenierte ein Al-Zein den Unfall am Salztor. Verteidiger Meinicke sieht deshalb eine Mitschuld bei der Polizei, bereits am Nachmittag hätte diese handeln müssen.

Nach Ostern könnte das Urteil im Messermord-Prozess fallen

Nach Ostern könnte das Urteil im Messermord-Prozess fallen Foto: Vasel

Der Prozess wird am Mittwoch, 18. Dezember, 9.30 Uhr, vor dem Landgericht fortgesetzt. In der kommenden Woche wird ein weiterer Rechtsmediziner von der Obduktion des Toten berichten.

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