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Personalmangel

TPflegedienst-Krise: Schwerkranker erhält Kündigung und eine Frist

Lothar Seibt wird rund um die Uhr beatmet. Wiebke Larssen (Mitte) kann ihn ab 5. April nur in einer WG unterbringen.

Lothar Seibt wird rund um die Uhr beatmet. Wiebke Larssen (Mitte) kann ihn ab 5. April nur in einer WG unterbringen. Foto: Hahn

Der dritte Pflegedienst in zwölf Monaten - und wieder eine Kündigung: Lothar Seibt benötigt täglich Hilfe, jetzt wurde er zum Notfall, weil das Personal fehlt.

Von Monika Hahn Freitag, 04.04.2025, 08:08 Uhr

Zeven. Der Gang zum Briefkasten, die tägliche Körperpflege oder das Verscheuchen einer lästigen Fliege durch einen Handstreich – all das ist für die Allermeisten eine Selbstverständlichkeit. Wir tun es, ohne viel darüber nachzudenken. Anders beim 67-jährigen Lothar Seibt: Der Zevener ist schwer krank. Für all diese Tätigkeiten benötigt er Hilfe. Seit einigen Jahren hängt sein Leben außerdem von einer funktionierenden Maskenbeatmung ab.

Der gelernte Bäcker und Feinmechaniker steht mitten im Leben und arbeitet als Hausmeister im Pflegeheim, als er im Alter von 51 Jahren bemerkt, dass ihm die Kraft in den Händen abhandengekommen ist. Die Diagnose 2008 ist ein Schock und lautet: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). „Bei der ALS verlieren die motorischen Nervenzellen, die für die willkürliche Steuerung der Muskulatur verantwortlich sind, fortschreitend ihre Funktion“, beschreibt es die Berliner Charité auf der Homepage ihrer ALS-Ambulanz.

Im Verlauf der unheilbaren Erkrankung leiden die Menschen zunehmend unter Lähmungen, bis final auch die Atemmuskulatur vollständig gelähmt ist. Nicht betroffen sind die Sinneswahrnehmungen und der Herzschlag.

Langsam verlaufende ALS-Form: Lothar Seibt trotzt der Statistik

Bis 2010 arbeitet Lothar Seibt weiter. Im selben Jahr folgt ein Bandscheibenvorfall, ein Herzinfarkt und die Scheidung. Trotzdem genießt er weiter sein Leben. „Ich bin Optimist und blicke nicht zurück“, sagt er. Der Zevener gehört zu den zehn Prozent, bei denen die Krankheit langsam fortschreitet. Im Schnitt leben die Patienten nach Diagnosestellung nur weitere drei bis fünf Jahre.

Ab 2018 ist Lothar Seibt auf unterstützende Beatmung angewiesen, zunächst nur in der Nacht. Seit gut einem Jahr rund um die Uhr. „Bis dahin habe ich hier noch vieles allein gemacht, konnte am Rollator gehen“, erinnert er sich. Inzwischen sind auch seine Arme gelähmt. Trotzdem lebt er allein und selbstbestimmt in einer Zweizimmerwohnung. Möglich macht das ein Pflegedienst der außerklinischen Intensivpflege.

„Herr Seibt ist uns vollständig ausgeliefert“, beschreibt es seine Pflegerin Sigrid Zachow, die ihn mit einem Team aus insgesamt sechs Pflegekräften seit Dezember 2024 betreut.

„Ich kann zwar nix mehr, aber blöde Sprüche kann ich noch klopfen“, kommentiert Seibt lachend und ergänzt: „Mein Körper fühlt sich wie 80, aber im Kopf bin ich 35.“

Von Experten der Berliner Charité weiß Lothar Seibt, dass seine Verlaufsform für ALS eher untypisch ist.

Von Experten der Berliner Charité weiß Lothar Seibt, dass seine Verlaufsform für ALS eher untypisch ist. Foto: Hahn

Dritter Pflegedienst in zwölf Monaten

Weil eine Fachkraft gekündigt hat, sieht sich der betreuende Dienst nun gezwungen, den Versorgungsvertrag mit Lothar Seibt zum 4. April zu kündigen. „Ich muss mir innerhalb von vier Wochen einen neuen Dienst suchen“, sagt der lebenslustige Mann verzweifelt. Natürlich unterstützt ihn sein derzeitiger Dienst, die Intensivprofis aus Hammah dabei. Sie haben bei Wiebke Larssen von der Intensivpflege mit Herz in Beverstedt angerufen.

„Wir sind alle kooperativ und schauen gemeinsam, ob wir eine Lösung finden, ganz ohne Konkurrenzgedanken“, sagt Larssen. Das Wohl des Patienten und die Wahrung seines Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben stehe an erster Stelle.

Mangelhafte Umsetzung zulasten der Patienten

Larssen berichtet von gesetzlichen Neuerungen, die das Ziel haben, den Zustand der Patienten und insbesondere die Notwendigkeit der Beatmung regelmäßig unabhängig zu prüfen, um die Qualität der Versorgung zu verbessern. Speziell vorgeschriebene Fachkenntnisse rund um die Beatmung stellen eine Hürde dar.

„Um eine beatmungspflichtige Person adäquat betreuen zu können, benötige ich mindestens sechs Fachkräfte, die alle eine Zusatzausbildung an den Beatmungsgeräten benötigen“, erklärt sie. Das Problem: „Ich habe nur zwei Wochen Zeit, Pflegekräfte zu diesem Lehrgang anzumelden, der Nachweis über die Fortbildung muss innerhalb eines halben Jahres vorliegen.“

So soll vermieden werden, dass unseriöse Pflegedienste mit schlechter ausgebildetem Personal das System ausnutzen. Die Regelung verhindert allerdings nicht, dass zumindest zeitweise der Patient von Personal betreut wird, das die erforderliche Qualifikation noch nicht hat. Larssen meint, dieser zusätzliche Zeitdruck erschwere es extrem, ein vollständiges Pflegeteam rechtzeitig zusammenzustellen.

„Ich sehe, dass das System versagt“, sagt Larssen. Denn: Pflegeheime nehmen keine beatmeten Patienten auf und auch die Krankenhäuser sind nicht dafür ausgestattet, die Pflegepatienten länger aufzunehmen. Hinzu kommt: Es gibt immer weniger Ärzte, die die notwendigen Formulare ausstellen, und somit werden die Wege weiter und die Zeit noch knapper.

Da er seine Arme nicht mehr bewegen kann, trinkt Lothar Seibt auch seinen Kaffee mit einem Strohhalm.

Da er seine Arme nicht mehr bewegen kann, trinkt Lothar Seibt auch seinen Kaffee mit einem Strohhalm. Foto: Gollnow/dpa

Versorgungslücken gefährden selbstbestimmtes Leben

An Lothar Seibt wird außerdem deutlich: Eine derartige „Aufbewahrung“ wäre eine Katastrophe für den lebensfrohen Mann. „Ich liebe es, herauszugehen, ins Café oder Karten zu spielen, mit meiner Freundin“, erzählt er. Wie wichtig ist es ihm, dass die Fachkräfte die notwendige Weiterbildung haben? „Ich muss Vertrauen schenken. Es gibt keine andere Wahl.“ Pflegerin Zachow verweist darauf, dass die Technik extrem zuverlässig ist und es nur selten dazu komme, dass das Beatmungsgerät Ärger bereitet.

Sein erster Intensivpflegedienst habe zeitgleich zu vielen Pflegekräften Urlaub gewährt und so musste Seibt für vier Wochen in eine Berliner Pflege-WG ziehen. „Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Als er von seinen Erlebnissen spricht, bricht seine Stimme, er muss pausieren. „Die Pflegekräfte dort opferten sich für uns auf. Und wenn sie dann gekündigt hatten, erzählten sie mir, warum. Ich verstehe nicht, wie Menschen so miteinander umgehen können“, erinnert er sich und möchte nicht ins Detail gehen.

Übergang in Pflege-WG: Notlösung statt Wunschlösung

Der Pflegedienst, für den Wiebke Larssen arbeitet, unterhält eine Pflege-WG im Landkreis Cuxhaven. „Dadurch kommen wir von der 1:1-Betreuung auf einen Schlüssel von 3:1.“ Aktuell ist in der WG ein Zimmer frei, das Lothar Seibt am 4. April beziehen kann. Nach den schlechten Erfahrungen gibt Seibt zu: „Ich habe Angst. Ich werde oft nachfragen, wann ich wieder nach Hause darf.“

Larssen sagt, es käme einem Wunder gleich, bis 5. April noch ein vollständiges Pflegeteam zu finden, macht Seibt aber Hoffnungen, dass er sich in der WG einleben könne. „Meistens habe ich innerhalb von acht Wochen geschafft, ein Team zusammenzustellen. In unserer WG lebt auch jemand, der noch sprechen kann und sehr kommunikativ ist.“ Tränen der Hoffnung bilden sich in Seibts Augen, als er von Larssen hört: „Ich habe heute Nachmittag noch ein Vorstellungsgespräch.“

Wie geht es dem Patienten mit der Lösung?

Dass er es sich anders wünscht, und wie viel ihm das selbstbestimmte Leben in seiner Wohnung in Zeven bedeutet, hat Lothar Seibt deutlich gemacht. „Mein Kopf ist permanent am Rattern. Ich frage mich, wie lange dieser Pflegedienst nun bleiben kann und würde mir wünschen, dass es wohnortnah weitere Dienste geben würde.“ Wie schafft er es, seinen Lebensmut nicht zu verlieren?

„Ich versuche, normal zu leben und blende die Erkrankung aus.“ Meistens gelingt ihm das. Die Diagnose ALS bedeutet jedoch leider, sein Ende ziemlich genau zu kennen. Zu anderen ALS-Patienten hat er auch deshalb bewusst keinen Kontakt. „Ich habe in der Reha jemanden kennengelernt, dessen Krankheit weiter fortgeschritten war als meine … Die Professoren an der Charité haben mir gesagt, ich sei ein untypischer Fall. Es geht bei mir von der Körpermitte aus …“ Seibts Stimme bricht, dann setzt er nach: „Ich will noch lange leben.“ (pas)

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