TSchwerstbehinderter verklagt den Landkreis Stade

Seit 20 Jahren sitzt Lennart Meinke aus Bargstedt im Rollstuhl. Jetzt macht er eine Ausbildung und möchte eine eigene Wohnung mit 24-Stunden-Pflege beziehen. Foto: Susanne Helfferich
Von klein auf ist Lennart Meinke rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Dennoch hat er Abitur und macht nun eine Ausbildung. Der Wunsch, in eine eigene Wohnung zu ziehen, bleibt ihm bisher versagt. Jetzt klagt er gegen den Landkreis. Die Hintergründe.
Bargstedt. Lennart Meinke kann nicht mehr gehen und nur noch minimal seine Finger bewegen. Der 23-Jährige ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen und als Pflegegrad 5 eingestuft. Seit 16 Jahren lebt der Bargstedter in einem DRK-Internat für schwer beeinträchtigte Menschen in der Nähe von Kiel. Sein größter Wunsch ist der Umzug in eine eigene Wohnung. Die hätte er auch. Was ihm fehlt, ist die Kostenzusage des Sozialamts vom Landkreis Stade, das für ihn zuständig ist.
Trotz umfangreicher Untersuchungen hat Lennart Meinke keine eindeutige Diagnose. Fest steht: Er leidet an einer neuromuskulären Erkrankung, die zu einem Muskelschwund mit schnellem Verlauf führt. Im Alter von zwei Jahren traten bei Lennart die ersten Symptome auf. Rasch verschlimmerte sich sein Zustand, schon mit vier Jahren konnte er nicht mehr gehen und greifen und war auf einen Rollstuhl angewiesen. Später wurde seine Wirbelsäule versteift. „Ich würde ansonsten zusammensacken, da ich keine Muskeln habe, die meinen Rücken halten“, beschreibt er seine Situation.
Trotz schwerer Einschränkung machte Lennart Abitur
Es gebe Medikamente, erzählt Lennart, „aber der Tablettensatz kostet so viel wie ein Sportwagen und die Krankenkasse zahlt nur, wenn die Krankheit diagnostiziert ist.“ Trotz der Ausweglosigkeit seiner körperlichen Situation, wollte Lennart Meinke nicht in einer Werkstatt für Behinderte enden. Nach dem Abschluss der 10. Klasse im Internat wechselte er für die Oberstufe zum Berufsbildungszentrum Preetz. Dort machte er sein Fachabitur und begann vor anderthalb Jahren im Plöner Kreishaus mit der Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten.
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Doch wie kann ein so schwer beeinträchtigter Mensch arbeiten? „Auf der Arbeit habe ich eine Arbeitsassistenz. Mit einer speziellen Trackballmaus kann ich am PC noch einigermaßen Texte schreiben. Alle handschriftlichen Notizen, etwa für Akten, diktiere ich meiner Begleitung“, erklärt Lennart, er weise sie mündlich an, wie mit den Akten weiter verfahren werden soll. Nur die EDV übernehme er komplett selbst.
Statt WG-Leben lieber eine eigene Wohnung
Jeden Morgen wird der Azubi am Internat vom Taxi abgeholt, zum Arbeitsplatz gefahren und am Nachmittag wieder nach Hause gebracht. Er hat, unterstützt von der Arbeitsassistenz, geregelte Arbeitstage. Die unterscheiden sich deutlich vom Leben in einer Wohngemeinschaft mit elf Leuten, wie er es im Internat führt. „Ich würde gerne aus dem Internat ausziehen und eine eigene Wohnung haben“, erzählt er. Kein leichtes Unterfangen: Die Wohnung muss mindestens zwei Zimmer haben, damit seine Betreuung ein eigenes Zimmer hat, und er muss Platz genug haben, um seinen Rollstuhl und einen Bettlifter unterzubringen.
Anfang vergangenen Jahres hat er eine geeignete 55 Quadratmeter große, behindertengerechte Wohnung gefunden. Sie gehört einem Pflegedienst, der sie seit April 2023 für ihn frei hält. Dieser Pflegedienst könnte auch eine 24-Stunden-Betreuung leisten. Die sei unverzichtbar, sagt Lennart Meinke, denn er könne auch nachts nicht alleine sein, weil er sich nicht selbst helfen könne. So drohten Druckstellen bei ungünstiger Lagerung und Probleme wegen der Maskenbeatmung, die er wegen Atemaussetzern tragen muss.
Was darf eine 24-Stunden-Pflege kosten?
Obwohl Lennart Meinke in Schleswig-Holstein lebt und dort seine Ausbildung macht, ist das Sozialamt des Landkreises Stade zuständig. Hier wurde er geboren, vom Landkreis erhielt er wegen seiner Erkrankung zum ersten Mal Sozialleistungen. Strittig ist nun der Pflegebedarf und die Entlohnung des Pflegepersonals.
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Nach Auskunft von Lennarts Rechtsanwältin Stefanie Neidlinger setzt der Landkreis für den Tag 16,75 Euro Stundenlohn und für die Nacht 12 Euro an. Das Kreis-Sozialamt gehe davon aus, dass für diese Stundensätze Personal im Drei-Schicht-Dienst mit entsprechenden Wochenend- und Feiertagszuschlägen gefunden werden könne. Die Kostenzusage des Kreises liege damit rund 30 Prozent unter dem Satz, den der favorisierte Pflegedienst für die 24-Stunden-Betreuung von Lennart Meinke veranschlagt. „Ein Pflegedienst, der die Mitarbeiter nach Tarif bezahlt, kann keine Betreuung zu den Stundensätzen des Landkreises Stade stellen“, sagt Sozialrechtlerin Neidlinger.
Soll der 23-jährige Azubi nun Arbeitgeber werden?
Günstiger könnte die Pflege werden, wenn der 23-Jährige sein Pflegepersonal selbst engagieren würde. Doch dieser Herausforderung fühlt sich der junge Mann nicht gewachsen. Seine Anwältin hat Verständnis: Als so junger Mensch gleichzeitig Arbeitgeber und Hilfebedürftiger zu sein, sei schwierig. Es könne ein Abhängigkeitsverhältnis entstehen, das durchaus problematisch werden kann.
Sie habe im Widerspruchverfahren das Sozialamt des Landkreises Stade um ein Gespräch gebeten, berichtet die Sozialrechtlerin. Vielleicht könne man sich annähern, wenn bei der Kalkulation Leistungen von dritter Seite, etwa für die Arbeitsassistenz, vom Budget abgezogen würden. „Es müsste dringend eine Gesamtplanung aufgestellt werden“, so Neidlinger.
Bitte um ein Gespräch wurde nicht erfüllt
Doch diese Bitte wurde offenkundig in Stade als solche nicht erkannt. Sozialdezernentin Susanne Brahmst erklärte auf TAGEBLATT-Nachfrage, dass sie wegen des laufenden Klageverfahrens auf Fragen zur Kostenübernahme durch den Landkreis nicht antworten könne. Einen Gesprächswunsch des Leistungsberechtigten mit dem Kreissozialamt hätten die Mitarbeitenden aus der eingegangenen Mail der Anwältin nicht herausgelesen. Daher sei diese zeitnah an das Land weitergeschickt worden, da das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie für den Erlass von Widerspruchsbescheiden im Bereich der Eingliederungshilfe zuständig ist.
Inzwischen hat Lennarts Anwältin Klage eingereicht und überlegt nun, zusätzlich zum Hauptverfahren ein gerichtliches Eilverfahren einzuleiten, um zu belegen, dass das nun schon mehr als ein Jahr andauernde Warten unzumutbar ist. Doch noch gibt es weder einen Mietvertrag noch Arbeitsverträge mit dem Pflegepersonal, also können noch keine Kosten geltend gemacht werden. Ein Teufelskreis für den jungen Mann.
Lennart hofft auf ein Stück Selbstständigkeit
Lennart Meinke möchte im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück Selbstständigkeit und Eigenverantwortung erreichen. Er ist häufig mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, um Freunde zu besuchen. Zur Eigenverantwortung gehört für ihn aber auch, zu arbeiten, Geld zu verdienen und Steuern zu zahlen.
„Ich werde nie im Leben das zurückzahlen können, was ich bisher gekostet habe. Aber ich möchte dennoch meinen Teil für die Gesellschaft beitragen und einfach etwas zurückgeben. Für mich bedeutet die Möglichkeit zu arbeiten und eine eigene Wohnung zu beziehen, Normalität und Freiheit in mein Leben zu bringen.“