TÜberraschung im Stader Clan-Prozess: Verteidiger plädieren auf Freispruch

Der Angeklagte steht mit einem Aktenordner vor dem Gesicht neben seinen Verteidigern Dinah Busse und Dirk Meinicke im Saal des Landgerichts Stade. Foto: Focke Strangmann/dpa-Pool
Die Staatsanwaltschaft spricht von Mord, die Verteidigung von Nothilfe - und fordert einen Freispruch im Stader Clan-Prozess. Das ist die Begründung.
Stade. Es ist der 33. Prozesstag vor dem Stader Landgericht, bei dem es um die Tötung von Kahled R. am 22. März 2024 geht. Die Tat und die Verhandlung hatten deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt, nun geht es dem Ende entgegen.
Auf Freispruch wegen Nothilfe plädierte am Montag das Hamburger Verteidiger-Duo Dr. Dirk Meinicke und Dinah Busse. Sollte die 1. Große Strafkammer die Nothilfe-Argumentation nicht teilen, käme für ihren Mandanten Mustafa M. hilfsweise auch eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung oder Totschlags in Betracht.
Meinicke und Busse warfen den Ermittlern in ihren Plädoyers vor, von Anfang an allein von Mord ausgegangen zu sein. „Die Polizei glänzte durch absolutes Versagen“, so Meinicke. Hinweise auf Schusswaffen seien ignoriert worden. Es gab bei dem Streit der Großfamilien keine Gefährdungsansprache. In Berlin und Hamburg wäre laut Verteidigung sofort ein Spezialeinsatzkommando (SEK) zum Einsatz gekommen - und hätte so womöglich den Tod von Khaled R. verhindert.
DNA-Spuren erst Monate später untersucht
Meinicke ging noch weiter: Zeugen seien handwerklich schlecht und suggestiv befragt, DNA-Spuren erst Monate später untersucht worden. Diese bewiesen, dass das Opfer Khaled R. auch ein Agressor gewesen sei.
Meinicke erinnerte daran, dass sich die beiden Familien sehr lange kennen. Lange Zeit herrschte Frieden. Doch nachdem die Familie des Opfers, die Al-Zeins, in Buchholz (Kreis Harburg) einen Shisha-Laden eröffnet hatte, kam es deswegen zum Streit. Dort beherrschten vorher die Miris den Shisha-Markt.
Der Bruder des Angeklagten wiederum erweiterte das Sortiment seines KC-Sportswear-Ladens in der Hökerstraße in Stade um Shisha-Bedarf. Ein Preiskampf begann, die Al-Zeins betrieben bereits ein Geschäft in der Großen Schmiedestraße in Stade.
Angriff vor Elternhaus „absolute Ehrverletzung“
In Chats beleidigten sich die Beteiligten. Die Familie Al-Zein, so Meinicke, hätte schließlich am 22. März 2024 ein Rollkommando losgeschickt, knapp 15 Männer hätten KC-Sportswear mit Schlagstöcken und Reizgas überfallen.

Der Angeklagte hält sich einen Aktenordner vor das Gesicht. Foto: Focke Strangmann/dpa Pool /dpa
Der Angeklagte habe versucht, zu deeskalieren. Er habe versucht, seinen Bruder Jalal M. zu stoppen, als dieser sich auf den Weg zum Elternhaus der Al-Zeins machte. Er habe dann den älteren Bruder alarmiert. Sämtliche Brüder hätten sich versammelt. Die Nerven lagen blank.
Er habe gewusst, dass die Aktion seines älteren Bruders vor dem Elternhaus der Familie des Opfers brandgefährlich ist. Der Angriff auf ein Haus mit Frauen und Kindern sei eine „absolute Ehrverletzung“. Anwalt Meinicke sprach von einem kulturellen Alarmknopf. Er verwies auf eine Aussage des Remmo-Clan-Bosses: Es sei Weltgesetz, dass solchen Leuten der Tod drohe. Es war mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Angeklagter fürchtete um das Leben seines Bruders
Sein Mandant habe unter extremer Anspannung gestanden, so Meinicke. Vom Ankommen auf der Brücke am Salztor, das Aussteigen bis zum tödlichen Stich seien nur drei bis vier Sekunden vergangen. Danach habe der Angeklagte seine Jacke ausgezogen und habe sie voller DNA fallengelassen. Er selbst habe von einem Tunnel gesprochen, in dem er sich befand.

Das Gericht mit dem Vorsitzenden Richter Erik Paarmann (Zweiter von rechts), Richterin Nina Stößel (rechts), Richter Benedikt Fulco Witte (Zweiter von links) und einem der beiden Schöffen (links) steht zu Beginn einer Sitzung im Saal des Landgerichts Stade. Foto: Pool Focke Strangmann/dpa
Bei der rechtlichen Einordnung erkennen Meinicke und Busse keine Mordmerkmale. Der Getötete sei kein argloses Opfer gewesen, sondern ein Aggressor und gewaltbereit. Er sei auch nicht wehrlos gewesen, da er mit einem Teleskopschlagstock auf den Bruder des Angeklagten eingeschlagen habe. Für ihren Mandanten gehen sie von Nothilfe aus. Er habe seinen Bruder schreien hören, er habe Angst um dessen Leben gehabt. Meinicke und Busse beantragten daher einen Freispruch.
Staatsanwälte fordern lebenslang
Die Nebenklage hingegen hatte sich zu Beginn des 33. Verhandlungstages im Schwurgerichtssaal dem Antrag der Staatsanwaltschaft angeschlossen. Diese hatte bereits am 21. Juli ihr Plädoyer gehalten. Für die Staatsanwältin Dawert und die Nebenkläger-Vertreter Rainer Mertins und Lorenz Hünnemeyer ist klar: Mustafa M. hat sich des Mordes schuldig gemacht.
Laut der Anklage sind Mordmerkmale wie Heimtücke und niedere Beweggründe erfüllt. Dawert sieht wie Mertins und Hünnemeyer auch die besondere Schwere der Schuld. Das heißt, dass eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren erschwert werden könnte, sollte die 1. Große Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Erik Paarmann ihrer Argumentation folgen.
Nebenkläger gehen von kaltblütigem Mord aus
Mustafa M. habe Khaled R. „wegen nichts“ ermordet und den beiden Nebenklägern ihren Bruder genommen, sagte der Rechtsanwalt Rainer Mertins. Der Angeklagte habe sein Opfer „gezielt, geplant und bewusst“ getötet.
Nothilfe sehen die beiden Juristen nicht, denn dann hätte der Angeklagte nach der Tat nicht abtauchen müssen. Mertins und Hünnemeyer kritisierten Verteidigung und Teile der Miri-Familie. Diese hätten sogar versucht, Angehörigen der Familie Rachid-Al Zein und dem durch den Messerstich in den Kopf getöteten Khaled R. die Schuld an dem Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Das sei „absurd“ und „kläglich gescheitert“.
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Für Mord könne es „keine Rechtfertigung“ geben, so Mertins. Im Gegensatz zu den Miris habe sein Mandant aus seiner Beteiligung an den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden aus dem Libanon stammenden Großfamilien keinen Hehl gemacht. Für den Nebenkläger-Anwalt Lorenz Hünnemeyer ist der Angeklagte ein „Fake“.
Wie bei den ineinander schachtelbaren russischen Matrjoschka-Puppen gebe er sich als Logopäde nach Außen hin integriert. Doch Mustafa M. habe mit dem „brutalen und kaltblütigen“ Mord an Khaled R. gezeigt, dass er „unser Rechtssystem ablehnt“. Außerdem habe er sich im Laufe des neunmonatigen Prozesses weder mit der Tat auseinandergesetzt, noch Reue gezeigt. Hünnemeyer: „Sie sind kein Teil unserer Gesellschaft.“ Wann das Urteil verkündet wird, ist noch offen.
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