TAbendlicher Rundgang durch Stade: Was ist dran an der Angst?

Spannendes Lichtspiel unterhalb des Schiffertorskreisels. Das ist kein Ort, um Angst zu bekommen. Trotzdem verursacht er ein mulmiges Gefühl. Foto: Dammer
Der Stader Bahnhof oder der Pferdemarkt geraten als Orte der Angst immer wieder in die Schlagzeilen. Doch wie gefährlich ist es abends? Ein Spaziergang durch die Stader Innenstadt.
Stade. Es ist ein sommerwarmer Juniabend, hervorragend geeignet für einen entspannten Spaziergang durch die Altstadt. Um 22 Uhr liegt Stade noch in einem sanften Abendlicht. Ein orangefarbener Schimmer zieht sich durch den Himmel, während die letzte Helligkeit des Tages allmählich schwindet.
Der Übergang von Tag zu Nacht bringt eine besondere Atmosphäre mit sich, in der Schatten und Licht auf eine fast magische Weise verschmelzen. Doch wie romantisch ist ein abendlicher Spaziergang durch Stade wirklich? Der Ruf der Stadt litt in der Vergangenheit doch erheblich.
Pferdemarkt und Bahnhof sind berüchtigt
In Stade gibt es wie in jeder Stadt spezielle Orte, die als sogenannte Angsträume bekannt sind. Das sind Orte, die von vielen Menschen als unsicher empfunden werden, oft wegen schlechter Beleuchtung, enger Räume oder einer isolierten Lage. In Stade sind als Angstorte vor allem der Pferdemarkt, das Areal um den Bahnhof und das Altländer Viertel berüchtigt.
Stader Innenstadt
T Angstraum Pferdemarkt: Was ist dran an der gefühlten Unsicherheit?
Sie haben den Ruf, besonders am Abend oder bei Dunkelheit eine bedrückende Stimmung zu verbreiten. Auch wegen der Menschengruppen, die sich dann dort aufhalten: dunkel gekleidete Jugendliche oder Betrunkene, die auf dem Pferdemarkt Passanten anpöbeln. Skater und Gruppen junger Männer, die im und vor dem Bahnhof eine bedrohliche Atmosphäre heraufbeschwören. So haben es viele Stader gehört oder gelesen. Haben sie es auch selbst erlebt?
Die Frage soll der Spaziergang durch die Stadt an diesem lauen Juniabend zwischen 22 und 23 Uhr beantworten.
Angst basiert oft auf Hörensagen
Viel wurde über Stades Angsträume diskutiert und geschrieben, und die Berichte projizieren oft ein Bild, das dazu verleitet, abends lieber nicht allein durch die Stadt zu gehen. Dies erinnert an Schrödingers Katze, ein berühmtes Gedankenexperiment der Quantenphysik, das eine Katze in einer Kiste beschreibt, die gleichzeitig lebendig und tot ist, solange die Kiste nicht geöffnet wird.
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In ähnlicher Weise existieren Angsträume in einem Zustand der Ungewissheit, solange man sie nicht selbst betritt. Die Angst basiert oft auf Hörensagen und unbestätigten Erzählungen - und solange diese Orte gemieden werden, bleibt die tatsächliche Sicherheit unklar.
Bedrohung selten selbst erlebt
An diesem Abend sind daher Polizeihauptkommissarin Silke Tonn und Polizeioberkommissar Tino Hartlef mit von der Partie. Durch ihre Begleitung wird die Kiste symbolisch geöffnet und der wahre Zustand der Angsträume enthüllt.

Polizeihauptkommissarin Silke Tonn und Polizeioberkommissar Tino Hartlef. Foto: Polizei
Die beiden Kontaktbeamten wissen aus ihrer täglichen Arbeit um die Sensibilität der Stader, was die Angsträume betrifft. „Man mag abends nicht durch die Stadt gehen, das ist gefährlich“, hatte eine Frau unlängst Tino Hartlef erzählt. Auf seine Frage, ob sie eine Bedrohung selbst erlebt habe, antwortet sie ihm, nein, sie wisse das von einer Freundin. „Ich finde die Stadt nicht besonders angsteinflößend“, sagt er.
Bahnhof und Pferdemarkt keine Hotspots
Silke Tonn, die als Kontaktbeamtin oft dienstlich in der Innenstadt unterwegs ist und die auch abends mit dem Rad durch die Stadt nach Hause fährt, stimmt ihm zu. Natürlich verzeichnet die Kriminalstatistik der Stadt Delikte wie Körperverletzungen, Bedrohungen und Sachbeschädigungen. Im vergangenen Jahr waren das 20 Fälle von einfacher Körperverletzung, 10 Fälle von gefährlicher oder schwerer Körperverletzung, 7 Sachbeschädigungen und 15 Fahrraddiebstähle.
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„Es mag eine Dunkelziffer geben von Dingen, die uns nicht angezeigt werden, aber Hotspots für Kriminalität sind Pferdemarkt, Bahnhof oder Bürgerpark jedoch nicht“, bestätigt auch der Pressesprecher der Polizeiinspektion Stade, Rainer Bohmbach, auf Anfrage. Die schweren Kriminalitätsdelikte spielten sich eher innerhalb von bestimmten Gruppen ab, so Tonn. Dass zufällige Passanten Opfer von Verbrechen wurden, habe sie hier noch nicht erlebt.
Der Rundgang beginnt an der Glückstädter Straße
Ausgangspunkt des Rundgangs ist die Glückstädter Straße. Von da aus geht es über den Parkplatz des Vincent-Lübeck-Gymnasiums vorbei an einer kleinen Wiese, über die Burgweidenstraße, Wetternstraße am Stadeum und am Parkhotel Stader Hof vorbei. Weiter geht es über die Schiffertorsbrücke durch die Georgs-Bastion, an der Wassermühle vorbei, über den Kreisel an der Schiffertorsstraße, durch die Straße Am Backeltrog, die Steile Straße hinauf, am Zeughaus vorbei zum Pferdemarkt.

Pferdemarkt: Wo sich sonst gern Gruppen von Jugendlichen treffen, ist an diesem Juniabend nichts los. Foto: Dammer
Bereits beim Verlassen des Platzes am Stadeum fällt auf, dass die Straßen nahezu menschenleer sind.
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Der Himmel wird dunkler. Aber die Gassen sind auch ohne Laternen noch gut einzusehen. Sie wirken nicht angsteinflößend, sondern eher ruhig und friedlich. Die Fußball-Europameisterschaft läuft, und die meisten Menschen verbringen den Abend wohl vor den Fernsehern zu Hause oder in Bars und Restaurants. Ein gelegentliches Jubeln oder Klatschen dringt aus Fenstern. Die Stimmung bleibt entspannt und gelöst.
Durch die Holzstraße bis zum Bahnhof
Der Pferdemarkt scheint seltsam leer. Ein junges Paar sitzt auf dem Rand des Gehsteigs, steht aber auf und geht, als wir uns nähern. Der kleine Platz unter den Bäumen am Eiscafé liegt verwaist. Die Kontaktbereichsbeamten wirken weder alarmiert noch besonders wachsam. Für sie ist diese Ruhe normal. Sie erklären, dass der Pferdemarkt an diesem Abend wenig Anlass zur Sorge bietet. Also geht der Weg weiter durch die Holzstraße zum Bahnhof.

An diesem Juniabend gegen 22 Uhr ist der Bahnhof menschenleer. Foto: Dammer
Auch hier, wo sonst oft eine angespannte Atmosphäre herrscht, ist es ruhig. Vereinzelt warten Reisende auf den Bus. Keine jugendlichen Gruppen, die sich lautstark unterhalten oder herumlungern. Ein kurzer Abstecher ins Parkhaus: Es ist völlig leer, die Luft ist kühl und still. In der Ferne summen Leuchtstoffröhren. Wir steigen die Treppen hinauf und erreichen das oberste Parkdeck. Auch hier: Leere. Der Rand des Parkdecks bietet einen guten Blick auf die darunterliegende Skaterbahn. Dort ist niemand zu sehen.

Stille auf der Skaterbahn. Das Gelände rund um den Bahnhof ist laut Statistik kein Hotspot für Kriminalität. Foto: Dammer
Die eigenen Schritte als einzige Begleiter
Der Rückweg führt durch die Neubourgstraße, am Burggraben entlang, durch die Königsmarck Bastion. Es wird dunkler. Die Bäume werfen lange, tänzelnde Schatten auf den Weg, der durch das weiche Licht der Laternen, das sich seinen Weg durch die Büsche bahnt, nur schwach beleuchtet wird. Die eigenen Schritte und das gelegentliche Rascheln der Blätter sind die einzigen Begleiter durch die Nacht.
Um 23 Uhr endet der Spaziergang. Die sogenannten Angsträume erscheinen an diesem Abend kaum bedrohlich. Tatsächlich vermittelt der Rundgang eher das Gefühl einer sicheren, kontrollierten Umgebung. Die Kombination aus einem frühen Sommerabend, der Fußball-EM und einer insgesamt entspannten Stimmung in der Stadt hat eine beruhigende Wirkung.
Wahrnehmung und Realität klaffen auseinander
Zurück zu Schrödingers Katze: Die eine Stunde des Rundgangs durch die Stadt zeigte, dass die wahrgenommene Gefahr nicht unbedingt der Realität entspricht. Die philosophische Analogie verdeutlicht, wie stark die Macht des Unbekannten die Wahrnehmung und das Verhalten beeinflusst. An diesem Abend jedenfalls scheinen die vermeintlichen Angsträume nichts weiter als stille Zeugnisse schnell vorbeiziehender Schatten und flüchtiger Lichtspiele zu sein.
Aber es bleibt eine Momentaufnahme.