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Extremismus

T„Reichsbürger“ in Stades Nachbarkreisen – Das steckt hinter ihrer Ideologie

Bei einer Razzia im Dezember 2022 gegen sogenannte „Reichsbürger“ wurde auch Heinrich XIII. Prinz Reuß (r) abgeführt.

Bei einer Razzia im Dezember 2022 gegen sogenannte „Reichsbürger“ wurde auch Heinrich XIII. Prinz Reuß (r) abgeführt. Foto: Boris Roessler/dpa

Die Logik der „Reichsbürger“ lautet: Weil das historische Deutsche Reich fortbestehe, besitze die Bundesrepublik keine Legitimität. Auch in Stader Nachbarkreisen sind sie aktiv. Woher der Glauben der Szene kommt und wie viele diesem folgen.

Von dpa Montag, 06.05.2024, 06:50 Uhr

Berlin. Sie sollen einen gewaltsamen Umsturz der Bundesregierung geplant haben: Eine Gruppe mutmaßlicher „Reichsbürger“ um Heinrich XIII. Prinz Reuß muss sich deshalb vor Gericht verantworten. Die Szene gilt als gewaltbereit, verbreitet Verschwörungstheorien und folgt einer bestimmten Ideologie.

Cadenberger verletzen Polizisten

Erst vor wenigen Tagen musste sich ein Ehepaar aus Cadenberge wegen Widerstands und Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte vor Gericht verantworten. Der 61-Jährige und seine 59 Jahre alte Lebensgefährtin sollen der Reichsbürgerszene angehören. Bei einer Razzia in ihrem Haus eskalierte die Situation, die Frau beschimpfte und verletzte mehrere Polizisten. Auch ihr Partner setzte sich vehement gegen die Beamten zur Wehr. Das Amtsgericht Otterndorf verurteilte die Angeklagten jeweils zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Im November vergangenen Jahres wurde im Rahmen einer bundesweiten Razzia auch die Wohnung einer damals 69-jährigen Cuxhavenerin durchsucht. Ihr wurde zur Last gelegt, sich mit zwei E-Mails an das Polizeipräsidium Hessen gewandt zu haben „und hierbei in einem Fall Polizeibeamte beleidigt zu haben“.

Immer wieder hatte es in der Vergangenheit Verbindungen der offenbar gewaltbereiten Reichsbürger-Szene in den Stader Nachbarkreis gegeben.

Umstürzler tritt im Kreis Cuxhaven auf

Für Aufsehen sorgte ein Putschversuch der Reichsbürger, dessen Pläne im bei einer Großrazzia im Dezember 2022 aufgeflogen waren.

Eines der Führungsmitglieder dieses Putschversuches war im August 2022 im Kreis Cuxhaven aufgetreten. Damals hatten rund 80 Anhänger einen Vortrag des bekannten Reichsbürgers Dr. Matthes H. in einer Gaststätte im südlichen Cuxland verfolgt. Nach einem Hinweis der Politologin und freien Journalistin Andrea Röpke hatte die „Nordsee-Zeitung“ den Fall öffentlich gemacht. Die Polizei konnte das Treffen damals nicht verhindern.

H., ein Tübinger Physiker, sollte laut ARD in dem von der Reichsbürger-Gruppe vorgesehenen „Schattenkabinett“ für Fragen des Völkerrechts zuständig sein. In seinem Vortrag „Das Deutsche Reich 1871 bis heute“, den er auch im Cuxland hielt, spricht H. der Bundesrepublik ab, ein souveräner Staat zu sein. Stattdessen sei Deutschland weiterhin durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs besetzt und die vorherrschende Rechtsordnung ungültig. Damit ist er in der Reichsbürger-Szene nicht allein.

Mann aus Stader Nachbarkreis an Putsch-Plänen beteiligt

Auch im Landkreis Harburg gibt es Verbindungen in die Reichsbürger-Szene. Ein Mann aus dem Stader Nachbarkreis soll an den Planungen des Reichsbürger-Putsches um Heinrich XIII. Prinz Reuß beteiligt gewesen sein. Er wurde bei einer Razzia im vergangenen Jahr festgenommen. Ihm wurde von der Bundesstaatsanwaltschaft „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ vorgeworfen.

Am Montag hat der Terrorprozess gegen diese mutmaßliche Verschwörergruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht begonnen. Die Verdächtigen sollen einen gewaltsamen Umsturz der Bundesregierung geplant haben. Es ist einer der größten Terrorprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik.

Verfassungsschutz zählt rund 23.000 Menschen zu der Szene

Grundsätzlich berufen sich „Reichsbürger“ darauf, dass das 1871 mit einem Kaiser an der Spitze gegründete historische Deutsche Reich fortbestehe und nicht mit Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 untergegangen sei. Deshalb erkennen sie die Bundesrepublik Deutschland nicht an - und auch nicht deren rechtsstaatliche Strukturen wie Parlament oder Gesetze. Sie wollen auch keine Steuern, Bußgelder oder Sozialabgaben zahlen.

Die „Reichsbürger“ sind keine einheitliche Bewegung: Einige sehen sich als Staatsoberhäupter ihres eigenen kleinen Reiches mit eigenen Ausweisen und Nummernschildern. Diese nennt der Verfassungsschutz „Selbstverwalter“. Das Bundesamt geht insgesamt von rund 23.000 Menschen aus, die der Szene angehören.

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ folgen Verschwörungstheorien

Nach Ansicht des Verfassungsschutzes geben sie damit antisemitische Muster wieder, die auch bei Rechtsextremen eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören die Leugnung des Holocausts oder der „Deep State“-Mythos, wonach geheime Mächte das Weltgeschehen lenkten.

Weit verbreitet ist auch die falsche Behauptung, Deutschland sei weiterhin von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs besetzt - also den USA, der damaligen UdSSR, Frankreich und Großbritannien. Doch das ist widerlegt: Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 endete der Sonderstatus Deutschlands, der seit 1945 in einer Art internationaler Vormundschaft durch die Siegermächte bestand.

Umsturzpläne vor Gericht: Die „Reichsbürger“-Gruppe um Prinz Reuß

Nach und nach geht es jetzt vor den Richter: Eine mutmaßliche „Reichsbürger“-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß soll einen gewaltsamen Umsturz der Bundesregierung geplant haben. Wie alles begann.

Juli 2021

Die terroristische Vereinigung gründet sich am Ende des Sommermonats mit dem Ziel, die staatliche Ordnung in Deutschland gewaltsam zu beseitigen und durch eine eigene Staatsform zu ersetzen. Unternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuß gilt als Rädelsführer der mutmaßlichen „Reichsbürger“-Gruppe. Die Szene, zu der auch „Selbstverwalter“ gehören, zweifelt die Legitimität der Bundesrepublik an.

August 2021

In der Vereinigung beginnen Planungen, mit einer bewaffneten Gruppe ins Reichstagsgebäude in Berlin einzudringen. Ziel sei auch die Festnahme von Abgeordneten des Deutschen Bundestags, um einen Systemwechsel zu erreichen. Die Gruppe rekrutiert dafür militärisches Personal, beschafft Ausrüstung und sorgt für Schießtrainings. Ab Mitte April 2022 führt die Vereinigung dieses Vorhaben in einem engeren Kreis fort.

September 2022

Der Plan der Terrorgruppe lautet: Bis zu 16 Menschen sollen das Reichstagsgebäude erstürmen. Die damalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann führt dazu heute Mitbeschuldigte durch das Regierungsviertel. Das geht aus Unterlagen des Bundesgerichtshofs (BGH) hervor. Einer der Teilnehmer dokumentiert mit Fotos und Videos das Paul-Löbe-Haus, in dem Büros und Sitzungssäle der Parlamentarier sind, dessen unterirdische Zugänge zu anderen Gebäuden, einschließlich des Reichstags sowie vom Inneren des Plenarsaals des Bundestags.

Dezember 2022

Bei einem der größten Polizeieinsätze gegen Extremisten in Deutschland werden einen Tag nach Nikolaus am 7. Dezember insgesamt 25 Personen aus der Gruppe mutmaßlicher „Reichsbürger“ inhaftiert. Sie stehen nach Angaben der Bundesanwaltschaft im Verdacht, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben. Unter den Festgenommenen befinden sich neben Rädelsführer Prinz Reuß auch die Richterin und AfD-Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann sowie ein Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr.

Mai 2023

Die Zahl der Beschuldigten um die Großrazzia in der „Reichsbürger“-Szene steigt auf 63 Personen. Dazu zählen drei festgenommene Verdächtige aus Baden-Württemberg und Niedersachsen. 26 der Männer und Frauen aus der Gruppe um Prinz Reuß befinden sich in Untersuchungshaft.

August 2023

Bei den Ermittlungen um die Reuß-Gruppe stellen die Sicherheitsbehörden bis zu diesem Zeitpunkt Hunderte Waffen und Zehntausende Munitionsteile sicher. Das genaue Ergebnis der Durchsuchungen: 362 Schusswaffen, 347 Hieb- und Stichwaffen sowie große Mengen an Munitionsteilen.

Dezember 2023

Die Bundesstaatsanwaltschaft erhebt am 11. Dezember 2023 Anklage gegen 18 Personen vor den Oberlandesgerichten Frankfurt am Main und München, unter anderem wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. Zudem wird zusätzlich Anklage gegen neun weitere Personen vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wegen versuchten Mordes erhoben.

März 2024

Ein Angeklagter aus der Gruppe erlebt den Prozessbeginn nicht mehr: Norbert G. sei in der Klinik verstorben, teilt eine Sprecherin des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit. Die Person sei am 7. Dezember 2022 festgenommen, allerdings seit Anfang Januar 2024 von der Haft verschont worden, heißt es. Grund ist Medienberichten zufolge eine schwere Krankheit des Mannes.

April 2024

In Stuttgart beginnt das erste Verfahren gegen mutmaßliche Verschwörer um Prinz Reuß. Es ist der erste von drei Mammutprozessen, bei denen nach und nach Teilnehmer der Gruppe vor den Richter kommen. Dabei handelt es sich um einen der größten Terror-Prozesse in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. (dpa)

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