TDepressionen sind im Kreis Stade auf dem Vormarsch

Wenn nichts mehr geht: Das Gefühl einer permanenten Überforderung kann zu einer Depression führen. Foto: Emmi Korhonen/Lehtikuva/dpa
Stell’ dich nicht so an! Das hören viele Erkrankte. Dabei leidet eine erschreckend hohe Zahl im Landkreis an Depressionen. Und die Tendenz ist steigend. Was sich ändern muss.
Landkreis. Stell dich nicht so an, heißt es. Du hast doch ein gutes Leben, einen guten Job, ein schönes Haus. Und: Geh‘ doch in einen Sportverein, da kommst du mal wieder unter Leute.
Solche Ratschläge hören Menschen, die an einer Depression leiden, häufig. Doch diese Menschen stellen sich nicht an. Sie haben keine Chance, die gut gemeinten Ratschläge zu befolgen. Sie sind krank. Und gelangen irgendwann an einen Punkt, an dem nichts mehr geht.
12,52 Prozent der Deutschen und damit rund 9,5 Mio Menschen im Land sind an einer Depression erkrankt. Das geht aus dem aktuellen „Gesundheitsatlas Deutschland“ hervor, den das Wissenschaftliche Institut der AOK für das Jahr 2022 veröffentlicht hat. Erfasst wurden bei der Erhebung Fälle von Menschen ab dem zehnten Lebensjahr, bei denen die Krankheit ärztlich dokumentiert wurde.
Auffällig: Rund 6 Millionen Frauen sind betroffen, nur 3,4 Millionen Männer.
Depressionen: Mehr als 20.000 Erkrankte im Kreis Stade
Niedersachsen liegt mit einem Anteil an Erkrankten von 11,7 Prozent der Gesamtbevölkerung im Deutschland-Vergleich im unteren Drittel. Doch auf Kreisebene gibt es große regionale Unterschiede.
- Im Landkreis Stade sind 10,94 Prozent der Einwohner an Depressionen erkrankt. Das entspricht 20.500 Menschen. Zum Vergleich: Im Jahr 2017 waren es noch 18.800. Die Tendenz ist jedes Jahr steigend. Bundesweit rangiert der Landkreis mit Platz 159 von rund 400 Kreisen und kreisfreien Städten im Mittelfeld.
Negativ-Spitzenreiter in Niedersachsen ist laut „Gesundheitsatlas“ Salzgitter. Dort leiden 14,76 Prozent der Gesamtbevölkerung an einer Depression. Es folgen Lüchow-Dannenberg (14,34 Prozent), Wittmund (13,62 Prozent), Uelzen (13,33 Prozent) und Aurich mit 13,31 Prozent. Dann kommt die Wesermarsch (13,22 Prozent).
Am unteren Ende des Rankings stehen der Landkreis Rotenburg und die Stadt Oldenburg mit 9,19 Prozent und 9,79 Prozent. Für den Landkreis Cuxhaven gibt der „Gesundheitsatlas“ 10,38 Prozent an.
Grundsätzlich kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass Menschen in Metropolen und Großstädten häufiger an Depressionen erkranken als die Bewohner ländlicher Gegenden. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Zudem nimmt die Gefahr im Alter zu. Eine Depression kann aber auch bereits in jungen Jahren auftreten. Im Ländervergleich gibt es im Saarland die meisten depressiven Menschen (14,20) und in Sachsen die wenigsten (11,07 Prozent).
Mehr Fälle von Depression - Ein Erklärungsansatz
Richtig valide Rückschlüsse auf die Region lassen sich durch den „Gesundheitsatlas“ nicht ziehen, darauf weisen auch seine Initiatoren hin. „Die Erklärungsansätze sind sehr limitiert, weil man von einer multifaktoriellen Krankheitsentstehung im Sinne einer Wechselwirkung aus biologischen und psychosozialen Faktoren ausgehen muss“, sagt AOK-Sprecherin Mareike Horn. Für sehr viele Risikofaktoren - zum Beispiel traumatische Lebensereignisse, Einsamkeit, Stress, chronische Erkrankungen und Stoffwechselstörungen - würden keine Erkenntnisse vorliegen. „Daher lassen sich die regionalen Unterschiede nicht erklären.“
Eine Erklärung für den fortlaufenden Anstieg könnten laut Silke Sell, Amtsärztin in der Wesermarsch, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie sein. Viele Menschen fielen in dieser Zeit der Isolation in ein tiefes Loch, manche fanden aus der Abschottung nicht wieder heraus.
Silke Sell bestätigt eine Zunahme der Depressionserkrankungen. Gründe können die vielen Krisen auf der Welt sein, aber auch eine zu hohe Arbeitsbelastung, ausgelöst nicht zuletzt durch den Fachkräftemangel, und generell das Gefühl einer permanenten Überforderung. All das könne in eine Depression münden.
Ein Problem sei die psychiatrische Unterversorgung, so die Amtsärztin. „Wir selbst können das Problem nicht lösen, sondern höchstens Anstöße für eine Lösung geben“, sagt Silke Sell.
Volkskrankheit
T Demenz: Neue Risikofaktoren - So viele Erkrankte im Kreis Stade
Hohe volkswirtschaftliche Kosten durch Depressionen
Die Relevanz der Erkrankungen zeigt sich auch bei den volkswirtschaftlichen Kosten in Deutschland: Nach der letzten vorliegenden Krankheitskostenstatistik entfielen 9,5 Milliarden Euro auf Depressionen. Dies entspricht 2,2 Prozent aller Krankheitskosten. Somit haben Depressionen aus der Kostenperspektive eine größere Bedeutung als Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder Asthma.
Zusätzlich zu den direkten Krankheitskosten entstehen indirekte Kosten durch krankheitsbedingte Fehltage. Im Durchschnitt lag der Krankenstand aufgrund von Depressionen bei 0,43 Prozent der Arbeitstage. Auf die 34,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2022 hochgerechnet ergeben sich daraus 53,8 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage. In Kombination mit den Lohnkosten berechnen sich daraus Produktionsausfallkosten von 6,9 Milliarden Euro pro Jahr.
Risikofaktoren für die Entstehung von Depressionen
Depressionen führen zu einer starken Einschränkung der Lebensqualität. Oft sind Patientinnen und Patienten nicht mehr in der Lage, ihren alltäglichen Aktivitäten nachzugehen. Durch einen offeneren Umgang zahlreicher Prominenter mit ihrer eigenen Erkrankung rückt das Krankheitsbild immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dabei bleibt das Bild über die Betroffenen jedoch oft von Vorurteilen und Stigmata geprägt, was Patientinnen und Patienten stark belasten kann.
Die Ursachen der Depression sind nicht aufgeklärt. Es gibt eine Reihe von Risikofaktoren, die die Entstehung der Krankheit beeinflussen können. Kritische Lebensereignisse wie Beziehungskrisen, Todesfälle, berufliche Enttäuschungen oder Traumata durch Gewalt, Krieg oder Missbrauch können eine Erkrankung begünstigen. Daneben spielen Faktoren wie das Alter, das Geschlecht oder das Vorliegen chronischer Erkrankungen eine Rolle.
- Dass Frauen häufiger an Depressionen erkranken, kann möglicherweise durch hormonelle Schwankungen erklärt werden. Dazu gehören zyklusassoziierte Schwankungen, aber auch hormonelle Veränderungen rund um die Schwangerschaft oder in den Wechseljahren. Außerdem kann es sein, dass Frauen im Laufe ihres Lebens mehr Stressoren ausgesetzt sind als Männer, sodass die Entstehung von Depressionen begünstigt wird.
Auch chronischer Stress ist ein Risikofaktor für Depressionen. Eine der bekanntesten Formen, in der sich chronischer Stress manifestiert, ist Burnout. Obwohl das Burnout-Syndrom nicht als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet wird, können längerfristige Arbeitsüberforderungen das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen erhöhen.
Daher sei es wichtig, Wissenslücken um das Thema Depressionen zu schließen, ein Bewusstsein für die große Bedeutung dieser Erkrankung zu schaffen und Berührungsängste abzubauen, heißt es im „Gesundheitsatlas“.
Aufklärung bereits im Rahmen der Schulbildung kann dafür sorgen, dass schon Kinder ein Verständnis für die Erkrankung aufbauen und die Entstehung von Stigmata und Vorurteilen verhindert wird. Auch in den Betrieben Deutschlands ist diese Erkrankung bereits Thema, denn ein angemessener Umgang mit an einer Depression erkrankten Beschäftigten stellt eine große Herausforderung dar.
Dunkel, kalt, immer müde: Winterblues oder Winterdepression?
Nicht jeder, der sich in der dunkleren Jahreszeit niedergeschlagen fühlt, leidet zwangsläufig unter einer Winterdepression. „Teilweise sprechen wir auch nur von einem sogenannten Winterblues“, so Steffen Häfner, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Beim Winterblues stehen Häfner zufolge „melancholische Gedanken im Vordergrund und das Bedürfnis, sich vermehrt auf sich selbst und den engeren Kreis seiner Liebsten zu konzentrieren“. Die Symptome sind mild und gehen oft von allein wieder vorbei. Falls sie aber länger als zwei Wochen anhalten oder sich verschlimmern, ist es durchaus ratsam, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Bei der Winterdepression oder Seasonal Affective Disorder (SAD) wiederum können spezifische Symptome und solche einer klassischen Depression zusammen auftreten. Dazu gehören:
- Starkes Schlafbedürfnis (Hypersomnie)
- Heißhungerattacken, insbesondere auf Süßes und Kohlenhydrate
- Antriebslosigkeit
- Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit
- Soziale Isolation, weniger Interesse an Freizeitaktivitäten
Symptome wie Heißhunger und ein ausgeprägtes Schlafbedürfnis gelten als typisch für die Winterdepression. Von einer Winterdepression spreche man, wenn die Symptome mindestens zwei Jahre lang bestehen. Denn: Ein charakteristisches Merkmal der Winterdepression sei „ihr wiederkehrender Verlauf“, so Häfner: „Mit dem Einsetzen des Frühlings lassen die Symptome meist nach, nur um in der Herbst- und Wintersaison erneut aufzutreten.“ Wer Jahr für Jahr in dieser Zeit die Symptome bemerkt, sollte über eine ärztliche Abklärung nachdenken.
Häfner rät, vorsorglich die eigenen Energiereserven in der dunklen Jahreszeit zu stärken und so einer Winterdepression entgegenzuwirken.
Wo finden betroffene Menschen Hilfe?
Als erster Ansprechpartner gilt grundsätzlich der Hausarzt, der Betroffene an einen Facharzt oder psychologischen Psychotherapeuten weiterleiten kann.
- Wer die Sorge hat, in eine Depression hineinzuschliddern, findet Hilfe unter anderem beim Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises Stade (Telefon: 04141/12-5381).
- Selbsthilfekontaktstelle in Stade: Die Beratung ist telefonisch unter 04141/3856, per E-Mail selbsthilfe-stade@paritaetischer.de, persönlich in der Selbsthilfekontaktstelle oder per Videokonferenz möglich.
- Zu jeder Zeit erreichen Sie die Telefonseelsorge kostenfrei unter 0800/1110111 oder 0800/1110222.
„In den meisten Fällen sind Depressionen gut behandelbar und viele Menschen erholen sich vollständig“, erklärt Prof. Petra Beschoner, Fachärztin für Psychiatrie und ärztliche Leitung der Akutklinik Bad Saulgau. Die Heilungschancen hingen jedoch von verschiedenen Faktoren ab, einschließlich der frühzeitigen Diagnose, der Schwere der Depression, der Behandlungszugänglichkeit und der individuellen Reaktion auf die Therapie. (dpa/kzw/tip)