T„Explosion an Emotionen“: Ex-Immenbeckerin Stöckmann versetzt Volkspark in Ekstase

HSV-Kapitänin Sarah Stöckmann erzielte kurz vor Schluss den Ausgleich. Foto: Schlikis
Sie führt die HSV-Frauen als Kapitänin aufs Feld und arbeitet in einer Kita in Beckdorf. Warum Sarah Stöckmann sich das antut? Eine Spurensuche rund um das Rekordspiel.
Hamburg/Beckdorf. Nach dem Spiel stehen Sarah Stöckmann wie vielen ihrer Mitspielerinnen die Tränen in den Augen. Minuten später steht sie schon wieder gefasst vor den Mikrofonen in den Katakomben und lächelt ein wenig.
Die HSV-Kapitänin hatte im Rekordspiel eine herausragende Leistung gezeigt und in letzter Minute für den Ausgleich gesorgt. „Eine absolute Explosion an Emotionen“, sagt sie. Zehntausende im Volksparkstadion riefen ihren Namen: Stöck-mann. Doch für das Pokalfinale hat es nicht gereicht.
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Das TAGEBLATT hat Stöckmann, die ihre fußballerischen Wurzeln in Immenbeck hat, rund um das Derby begleitet.

Ernüchterung nach der Verlängerung: Stöckmann und der HSV verpassten das Pokalfinale. Foto: Schlikis
Fünf Tage vor dem Spiel. Sarah Stöckmann sitzt im Auto und fährt nach Norderstedt. In einer halben Stunde beginnt dort das Mannschaftstraining. Am Telefon wirkt Stöckmann entspannt und aufgeräumt, und das, obwohl sie am Sonntag mit dem HSV Geschichte schreiben wird.
Hundert Mal weniger Zuschauer im Liga-Alltag
57.000 Zuschauer werden im Volksparkstadion sein, wenn der Zweitligist im DHB-Pokal gegen den Erstligisten Werder Bremen um den Einzug ins Finale spielt - deutscher Rekord im Frauenfußball.
Stöckmanns bisheriger Rekord: 20.000 Zuschauer am Millerntor, aber das ist die Ausnahme. In der zweiten Liga spielt der HSV meist vor 500 Zuschauern - also hundertmal weniger.
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Wie fühlt sie sich jetzt? „Das geht von Nervosität über totale Freude bis hin zu Stolz, vor so vielen Menschen zu spielen“, sagt Stöckmann. „Das ist eine große Chance für den Frauenfußball.“
Stöckmann bleibt in ihrem Rhythmus
Stöckmann spürt, dass etwas Besonderes bevorsteht. Die Medienanfragen haben zugenommen, sie selbst gab dem „kicker“ ein Interview. Doch Stöckmann versucht, in ihrem Rhythmus zu bleiben.
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Vier Tage vor dem Spiel. Hinter einer Glastür toben Kinder über den Flur. „Das ist die Maulwurfgruppe“, sagt Stöckmann. Heute betreuen sie und ihre Kolleginnen zehn Kinder zwischen einem und drei Jahren.
Stöckmann ist gelernte Erzieherin und arbeitet 30 Stunden pro Woche in der Beckdorfer Kita „Die Schatzkiste“. Um 6 Uhr klingelt ihr Wecker, um 8 Uhr ist Arbeitsbeginn. Kurz darauf werden die Kinder gebracht.

Sarah Stöckmann arbeitet in der Beckdorfer Kita "Die Schatzkiste". Foto: Scholz
Stöckmann liebt ihren Job. „Die kleinen Kinder geben mir eine gewisse Leichtigkeit und zeigen mir das wahre Leben“, sagt sie. Das lenke sie gut von der „Blase Fußball“ ab und nehme ihr auch einen Teil des Drucks, gerade vor so einem großen Spiel.
Manche Fußballerinnen zahlen sogar drauf
Und der Job ist auch notwendig, denn vom Fußball allein kann sie nicht leben. Zwar spielen und trainieren viele Fußballerinnen der ersten und zweiten Liga unter Profibedingungen, doch laut einer „Sportschau“-Umfrage aus dem Jahr 2023 verdienen 34 Prozent der befragten Spielerinnen maximal 500 Euro brutto im Monat. Fast ein Viertel erhält gar kein Geld. Einige zahlten wegen der Fahrtkosten sogar drauf.
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Warum Stöckmann sich das antut: „Weil ich es super gerne mache“, sagt sie. Weil ihr der HSV am Herzen liegt und sie für das Ziel Aufstieg brennt. Weil sie gerne mit den Mädels auf dem Platz steht. „Das macht mir schon mein ganzes Leben großen Spaß.“
So setzt sich Stöckmann auch an diesem Mittwoch nach der Arbeit um 14 Uhr wieder ins Auto und fährt die 60 Kilometer nach Norderstedt. Viermal die Woche macht sie das.
Stöckmann sorgt für Rekord im Team
Eine halbe Stunde vor Spielbeginn. Vater Frank und Opa Helmut sitzen in Block 2A, Reihe 17. Sarah Stöckmann hat für Familie, Freunde, Nachbarn und Arbeitskolleginnen 177 Karten bestellt - mehr als jede andere Spielerin.

Familie Stöckmann im Volksparkstadion: Opa Helmut und Vater Frank. Foto: Scholz
Stöckmann stammt aus dem Heidekreis, wo sie mit sechs Jahren im Dorfverein anfing und zunächst bei den Jungs kickte. „Sie hat nicht mit Puppen gespielt, sondern immer schon mit dem Fußball“, sagt Frank Stöckmann.
Mit 16 Jahren wechselte sie zum TSV Eintracht Immenbeck. Anfangs wurde sie von ihrer Familie gefahren, mit 18 zog sie um. Stöckmann stand plötzlich auf eigenen Beinen, reifte schnell zur Führungsspielerin. 2011 stand sie mit Immenbeck an der Schwelle zur zweiten Liga.

Sarah Stöckmann war bis vor einigen Jahren Jugendtrainerin beim JFV Buxtehude. Foto: Scholz
Stöckmann fühlte sich wohl, war Stammspielerin, doch sportlich ging es bergab. In Immenbeck sah sie keine Perspektive mehr. Über die Stationen Henstedt-Ulzburg und Jesteburg kam sie 2019 zum HSV. Vor zwei Jahren gelang der Aufstieg in die zweite Liga.
Vater HSV-Fan, Großvater Werder-Fan
Jetzt kämpft Hamburg um den Aufstieg in die erste Liga und hat heute die Chance, ins Pokalfinale gegen den FC Bayern einzuziehen. „Das macht mich unglaublich stolz“, sagt Vater Frank, selbst HSV-Fan.
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Opa Helmut schiebt einen Ärmel hoch, lüftet ein Werder-Tattoo, „Lebenslang Grün-Weiß“ steht in geschwungener Schrift auf seinem Unterarm. „Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn meine Enkeltochter ins Finale kommt“, sagt er. Und wenn nicht? „Dann fahre ich eben mit Bremen dorthin.“ Beim Finale in Köln ist er auf jeden Fall dabei.
Anpfiff. Die HSV-Fans rufen die Mannschaftsaufstellung, die Werder-Fans zeigen eine kleine, provokante Choreographie („Die einzig wahre Raute“) und das Spiel beginnt.
Kapitänin Stöckmann bewahrt die Ruhe
Linksverteidigerin Stöckmann grätscht Bälle ab, klärt zur Ecke und schaltet sich immer wieder in die Offensive ein. In der elften Minute rauscht sie nur knapp an der Führung vorbei. Ein Raunen geht durch das Stadion.
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Stöckmann verteilt die Bälle sicher, klärt vor der Torlinie, nachdem Torhüterin Inga Schuldt geschlagen ist, und jubelt in die Nordkurve. Als das Spiel hitziger wird, wird Stöckmann angerempelt. Sie lächelt müde, bleibt ruhig.
Mit 31 Jahren ist Stöckmann die zweitälteste Spielerin in der Startelf und hat als Kapitänin eine wichtige Funktion. Das zeigt sich, als der HSV-Torhüterin ein folgenschwerer Fehler unterläuft, der zum 1:0 für Bremen führt. Stöckmann baut sie wieder auf.
Wie ihr die Arbeit in der Kita beim Fußball hilft
Die Kapitänin ist auf das Wohl der Mannschaft bedacht. Stöckmann versucht, überall reinzuhorchen und ein Gefühl für die Gruppe zu entwickeln. „Es ist mein eigener Anspruch, dafür zu sorgen, dass es allen gut geht“, sagte sie dem Magazin „HSVlive“. Und gegenüber dem TAGEBLATT: „Da merkt man meine pädagogische und soziale Ader.“
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Die 89. Minute. Stöckmann postiert sich beim Freistoß im Bremer Strafraum. Der Ball springt an die Latte, Stöckmann schaltet am schnellsten und ist mit dem Kopf zur Stelle, 1:1. Das Volksparkstadion bebt. Stöckmann stürmt mit ausgebreiteten Armen zur Eckfahne und wird von ihren Mitspielerinnen umarmt.
„Ein Fußballfest für ganz Deutschland“
Verlängerung. Stöckmann sieht Gelb für ein taktisches Foul. Die Kraft schwindet, sie verzieht das Gesicht vor Anstrengung. Aber sie beißt. Hamburg schnuppert an der Sensation, rettet sich fast ins Elfmeterschießen. Doch kurz vor Schluss schlägt Werder zweimal zu.

HSV-Kapitänin Sarah Stöckmann. Foto: Scholz
„Das war ein Erlebnis, das wir so schnell nicht vergessen werden“, sagt Stöckmann. „Ein Fußballfest für ganz Deutschland.“ Und ein Wort zum eigenen Tor? „Das würde ich gerne nochmal in Bildern sehen.“
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Der Morgen nach dem Spiel. Wie oft sich Stöckmann das 1:1 angeschaut hat, ist nicht überliefert. Aber: „Das Tor weckt immer wieder unfassbare Emotionen in mir“, schreibt sie am Montagmorgen.
Wie immer begann sie um 8 Uhr in der Beckdorfer Kita, doch diesmal wurde sie von ihren Kolleginnen überrascht. Mit Plakaten, Musik und Konfetti.