TInsolvenzen: Hier wird die Pflegekrise für alle sichtbar

Das Johannisheim in Stade ist nach der Insolvenz geschlossen worden. Foto: Anping Richter
Die Deutschlandkarte „Heimsterben“ zeichnet ein düsteres Bild und zeigt, wo die Krise auch im Landkreis Stade zuschlug. Die Finanzierung wird zur Zerreißprobe. Nicht das einzige Problem.
Landkreis. In den vergangenen eineinhalb Jahren haben dem Arbeitgeberverband Pflege zufolge mehr als 1000 Pflegeeinrichtungen geschlossen, Insolvenz angemeldet, ihr Angebot eingeschränkt oder Versorgungsverträge gekündigt. Das geht aus der „Deutschlandkarte Heimsterben 2024“ hervor, die der Verband veröffentlichte. Die Karte umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 2023 bis zum 31. Juli 2024 und verzeichnet bundesweit 1.097 Einträge über Heime, Tagespflege-Einrichtungen, betreutes Seniorenwohnen und ambulante Pflegedienste. Zu Beginn dieses Jahres waren es noch 800 Einrichtungen in Not. Dabei sei die Dunkelziffer wohl noch höher, schließlich seien in der Karte lokale Meldungen ausgewertet worden.
Die Versorgungskrise führe zu längeren Wartezeiten für Pflegebedürftige, die einen Heim- oder Betreuungsplatz suchten, erklärte der Verband. Betroffen seien auch die Angehörigen, die die Betreuung organisierten. Ambulante Pflegedienste reduzierten die Versorgung oder nähmen keine neuen Patienten mehr an.
Pflegekrise im Kreis Stade: Diese Heime sind geschlossen
Über 10.000 pflegebedürftige Menschen gab es laut jüngstem Pflegebericht im Jahr 2021 im Landkreis Stade, 45 Prozent mehr als 2015. Bis zum Jahr 2040 wird diese Zahl auf über 14.000 ansteigen, so die Prognose.
Mit Stand Juni 2023 gab es im Landkreis Stade 2483 vollstationäre Pflegeplätze in 29 Pflegeeinrichtungen. Damit kommen hier 22 stationäre Pflegeplätze auf 100 Pflegebedürftige (Pflegegrad 1 nicht mitgerechnet).
In der Tagespflege ergab die Bestandsaufnahme 273 teilstationäre Pflegeplätze in 17 Einrichtungen. Die teilstationäre Versorgungsquote in der Hansestadt Stade war vergleichsweise gering und überdurchschnittlich der Versorgungsgrad in Drochtersen, Lühe und Harsefeld.
Davor und dazwischen schlug die Krise zu. Folgende Einrichtungen sind in der Karte „Heimsterben“ verzeichnet:
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Im Jahr 2022 gab es im Landkreis Stade 38 ambulante Pflegedienstleister, davon 32 in privater und sechs in freigemeinnütziger Trägerschaft. Zahlreiche pflegebedürftige Personen werden darüber hinaus von Familienmitgliedern oder Freunden zu Hause betreut.
Was der Arbeitgeberverband Pflege fordert
„Die Karte macht deutlich, dass das Heimsterben fortschreitet. Die Pflegebedürftigen leiden unter dem Versorgungsabbau, gleichzeitig steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Pflegedienste müssen Anfragen ablehnen oder kündigen Verträge, die Wartelisten für einen Platz im Pflegeheim werden immer länger“, sagt Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege. Er kritisiert: Kassen und Bundesländer kämen ihrer gesetzlichen Pflicht nicht nach, die Versorgung der alten Menschen sicherzustellen – die Versorgungskrise gehe auch auf ihr Konto. Greiner: „Und bei allem steigen die Kassenbeiträge trotz schwindender Versorgung.“
Er fordert Strafzinsen für säumige Kostenträger und eine verlässliche Politik, die stabile Rahmenbedingungen für Pflegeeinrichtungen garantiert. Künftig müsse klar sein, wie Einrichtungen mit guter Pflege auch finanzielle Überschüsse erzielen. „Für die alten Menschen und ihre Angehörigen fordern wir umfassende Schadensersatzansprüche gegenüber den Kostenträgern und einen Rechtsanspruch auf einen Pflegeplatz“, so Greiner.
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Ausgangslage: So sind viele Pflegeheime finanziell aufgestellt
Pflegeheime und ambulante Pflegedienste stehen vor einer wachsenden finanziellen Zerreißprobe: Aufgrund steigender Kosten für Personal, Material und Betrieb können viele nicht kostendeckend arbeiten. Die Ursache liegt in einer unzureichenden Refinanzierung durch die Kostenträger und dem fehlenden Spielraum der Einrichtungen, ihre Preise frei am Markt zu gestalten.
Dieses Dilemma zwingt insbesondere kleinere Dienste und Heime in eine prekäre Lage, da sie oft lange auf die Erstattung ihrer Kosten warten müssen. Der stetige Vorfinanzierungszwang führt zu einem Kreislauf finanzieller Engpässe, der die Existenz vieler Einrichtungen bedroht. Mit jedem Monat, in dem die Ausgaben die Einnahmen übersteigen, wächst das Risiko einer Insolvenz - eine Entwicklung, die durch die zunehmende Zahl angemeldeter Insolvenzen bereits sichtbar wird.
Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten ist es nicht möglich, die Kosten für ihre erbrachten Leistungen selbst zu bestimmen. Stattdessen müssen sie mit dem jeweils zuständigen Kostenträger bezüglich Refinanzierungen verhandeln und die Preise festlegen. Sobald Leistungen durchgeführt werden, gehen die Pflegeeinrichtungen in Vorleistung und leiten die entsprechende Rechnung an den Kostenträger weiter. Hier entsteht das Problem, denn es ist vielfach zu beobachten, dass sich die Kostenträger viel Zeit lassen, bevor sie ihren Zahlungspflichten nachkommen.
Das bringt die Pflegeheime und ambulanten Pflegedienste in Bedrängnis, denn auch sie müssen weiterhin Forderungen aus dem laufenden Betrieb begleichen. Aufgrund ausstehender Refinanzierungen ist dies jedoch vielen Anbietern nicht mehr möglich. Sie können die laufenden entstehenden Kosten nicht mehr decken - als letzter Ausweg bleibt nur die Insolvenz, die bereits einige kleinere ambulante Pflegedienste und Pflegeheime ereilt hat.
Krankenkasse: Pflegekräfte in Niedersachsen werden knapp
Die Babyboomer, also die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1970, gehen bald in Rente - das verschärft die Personalnot in der Pflege hierzulande massiv. In den kommenden zehn Jahren müsse niedersachsenweit mehr als jede fünfte Pflegekraft (22,1 Prozent) ersetzt werden, ergab der Pflegereport der Krankenkasse DAK-Gesundheit. Das sei etwas mehr als im bundesweiten Durchschnitt, der bei 21,9 Prozent liege. Im vergangenen Jahr arbeiteten in Niedersachsen rund 110.000 Menschen in Pflegeberufen.
Gleichzeitig schlagen die Wissenschaftler wegen der schrumpfenden sogenannten Arbeitsmarktreserve Alarm. Das bedeutet: Für 2025 werden den Angaben zufolge rund 900 Renteneintritte erwartet, denen etwa 3600 Berufseinsteiger gegenüberstehen. 2027 dürften es der Untersuchung zufolge gut 3300 Berufseinsteiger bei erwarteten 2150 Renteneintritten sein, rechnerisch gäbe es dann eine Reserve von knapp 1200 Arbeitskräften.
Einkommen
Durchschnittslöhne in der Pflege steigen
2030 schließlich wird sich diese Reserve demnach noch einmal halbieren - dann sollen den gut 3300 Berufseinsteigern über 2700 Renteneintritte gegenüberstehen. Die Folge: Ein Ausbau der Personalkapazität in der Pflege werde nicht gelingen, nicht einmal mit Wiedereinsteigern, Zuwanderung und Qualifizierung, sagte Studienleiter Professor Thomas Klie. Nach Angaben der DAK-Gesundheit ist in Niedersachsen aber immerhin kein Kipppunkt absehbar, an dem mehr Pflegekräfte in Rente gehen als neue nachkommen.
„Ein Pflegeheim benötigt eine Auslastung von mindestens 95 Prozent, um wirtschaftlich rentabel zu sein“, erklärt Max Grinda, ein anerkannter Experte in der Beratung von Pflegeunternehmen. „In der Pflegebranche wird leider oft übersehen, dass der Fachkräftemangel nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem ist. Es geht also nicht nur darum, genügend Personal zu finden, sondern auch darum, die richtigen Leute an Bord zu holen und zu halten.“ Max Grinda, der bereits über 300 Pflegeeinrichtungen beraten hat, betont die Dringlichkeit, nicht nur den Mangel zu bekämpfen, sondern auch die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern.
Zahl der pflegebedürftigen Menschen steigt
„Wir stehen in Niedersachsen vor einer großen Herausforderung beim Personalbedarf an Pflegekräften“, sagte DAK-Landeschef Dirk Vennekold. „Trotz anderslautender Versprechen sehen wir keine Entlastung für die Pflegenden und keine Reserven für den demografischen Wandel.“ Er forderte eine „grundlegende Reform der Pflegeversicherung“. Die DAK-Gesundheit gehört mit gut 5,5 Millionen Versicherten zu den großen Krankenkassen in Deutschland.
Parallel wächst die Zahl der pflegebedürftigen Menschen kontinuierlich, der tatsächliche Bedarf an Pflegekräften dürfte also weitaus größer sein als der Ersatzbedarf, wie der Report ergab. In den nächsten 25 Jahren dürften bundesweit rund 2,3 Millionen Menschen mehr als heute auf Pflege angewiesen sein, warnte Klie. Bis 2050 dürften es der Studie zufolge rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sein - 2022 waren es etwa 5,2 Millionen Menschen.
Pflegepersonal gesundheitlich stark belastet
Auch gesundheitliche Belastungen des Pflegepersonals trieben das System an Grenzen, mahnte Vennekold. Vor allem Erkrankungen des Bewegungsapparates und psychische Belastungen sorgten dafür, dass Beschäftigte in Pflegeberufen in der Altersgruppe ab 58 Jahren auf durchschnittlich 53 Fehltage kämen. In den anderen Berufsgruppen seien es in dem Alter durchschnittlich 33 Fehltage. Im vergangenen Jahr lag der Krankenstand in der Pflege bei 7,2 Prozent - der landesweite Durchschnitt über alle Berufsgruppen betrug demnach 5,6 Prozent.
Die Krankenkasse wies zudem auf Finanzierungslücken angesichts steigender Kosten im Pflegesystem hin - damit dürfte den Versicherten schon bald eine weitere Erhöhung der Pflegebeiträge bevorstehen. Das sei möglicherweise noch vor der Bundestagswahl 2025 notwendig. (epd/tip/mkr/dpa)