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Geschichte

TVon Fürsorge und Missbrauch: Was im Rettungshaus Himmelpforten geschah

Das Rettungshaus mit dem Anbau von 1901.

Das Rettungshaus Himmelpforten mit dem Anbau von 1901. Foto: Archiv

Das Steinmetzhaus Himmelpforten hat eine dunkle Vergangenheit. Was Malte de Vries zu Tage gefördert hat, ist zuweilen erschreckend - nicht nur aus heutiger Sicht.

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Von Grit Klempow
Sonntag, 27.04.2025, 17:15 Uhr

Himmelpforten. Malte de Vries ist tief eingetaucht in die Geschichte des historisch bedeutsamsten Himmelpfortener Hauses. Der Archivar im Landesarchiv Stade hat sich dem Rettungshaus Himmelpforten gewidmet, dem heutigen Steinmetzhaus.

Die Jahre zwischen 1890 und 1942 lagen bisher im Dunkel. Und was de Vries zwischen Aktendeckeln gelesen hat, ist zuweilen erschreckend - nicht nur aus heutiger Sicht.

Malte de Vries, Archivar des Landesarchivs in Stade, hält zeigt das Buch in die Kamera.

Malte de Vries ist Archivar des Landesarchivs in Stade. Er hat ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Steinmetzhauses recherchiert. Foto: Klempow

Die Forschungsarbeit sei durchaus auch belastend gewesen, sagt de Vries mit Blick auf das Leben der Kinder im Rettungshaus. Ausgeglichen habe das „die nüchterne Sprache der Akten, das schafft ein bisschen Distanz“.

Erziehung der vermeintlich verwilderten und verwahrlosten Jugend

Aber was ist ein Rettungshaus? Gegründet wurden die Rettungshäuser ab 1830 von Christen der Inneren Missionsbewegung. Deren Ziel war die „Zurückführung der Abgefallenen zur Kirche“, die Rettungshäuser sollten die vermeintlich verwilderte und verwahrloste Jugend erziehen. Rund 500 dieser Häuser gab es bis zur Gründung des Kaiserreichs 1871 - allerdings keines im Regierungsbezirk Stade.

Bis 1890, als in Himmelpforten die Idee zur Gründung eines Rettungshauses Gestalt annahm. Dafür machte sich fortan Generalsuperintendent Hermann Christian Ludwig Steinmetz stark. Es könnte doch kaum einen passenderen Ort geben als einen, der „Himmelpforten“ heißt.

Das Denkmal zu Ehren Superintendents Steinmetz, der das Rettungshaus gründete.

Das Denkmal zu Ehren Superintendents Steinmetz, der das Rettungshaus gründete. Foto: Klempow

Die Rettungshäuser hatten sich bis dahin gewandelt. Auslöser war ein zusätzlicher Paragraph im Reichsstrafgesetzbuch. Strafunmündige Kinder bis 12 Jahre konnten nun in eine Pflegefamilie oder eine Erziehungsanstalt gegeben werden. „Man sah diese Kinder als kleine Verbrecher an, die man vielleicht noch rehabilitieren kann“, so Malte de Vries. Eine sogenannte Zwangserziehung.

Kinder wurden für „Verbrechen“ verurteilt

Die „Verbrechen“ dieser Kinder? „Es reichte schon, einen Apfel im Nachbarsgarten zu stehlen und die Schule zu schwänzen“, weiß de Vries. Die Kinder wurden vom Amtsgericht verurteilt. Entschied das Gericht für die Zwangserziehung, war das ein tiefgreifender Schritt, der bis zur Volljährigkeit wirkte.

„Es war ungemein schwer, da wieder rauszukommen“, so de Vries über die Zwangserziehung. Die Provinz Preußen selbst betrieb keine Erziehungsanstalten und griff für die Unterbringung der Kinder auf private Einrichtungen wie Rettungshäuser zurück.

Das Rettungshaus war ab 1900 nicht nur Zuhause für „straffällige“ Kinder

Als das Amtshaus Himmelpforten zum Verkauf stand, finanzierte Steinmetz den Kauf für 18.000 Mark über Spenden und Kredite. Die Initiatoren gründeten eine Stiftung und feierten im April 1892 die Einweihung ihres lutherischen Rettungshauses.

„Die Zöglinge sollen es in Essen, Trinken, Schlafen, Arbeit und Erholung gut bei uns haben“, hatte der Stiftungsvorstand verkündet. Steinmetz schloss wenig später einen Vertrag mit der Provinzialregierung für die Aufnahme von Kindern in Zwangserziehung.

Ab 1900 wurden nicht nur die „straffälligen“ Kinder aufgenommen, sondern auch jene, die nach dem neuen Fürsorgegesetz vor Verwahrlosung und Elend bewahrt werden sollten. Freiwillig war kein Kind im Rettungshaus. Allerdings sagt de Vries auch, dass die Einweisung für viele Kinder im Vergleich zu ihren vorher „desaströsen Lebensumständen“ eine Verbesserung war.

Luise Schnatmeyer musste bis tief in die Nacht Zigarren drehen

Das Mädchen Luise Schnatmeyer ist ein Beispiel. De Vries schildert ihren Fall. Das unehelich geborene Kind wuchs bei seinem Vater auf. Er und seine Frau waren wegen Kindesmisshandlung in Achim bereits aktenkundig, als am Wohnort Verden 1897 ein Antrag auf Zwangserziehung gestellt wurde. „Die Zeugenverhöre brachten in der Tat Erschreckendes zutage“, schreibt der Autor und zitiert aus den Gerichtsakten.

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Luise müsse zu Hause hart arbeiten (Zigarrendrehen), nicht selten bis 12 Uhr nachts. Das Kind schlafe im Sitzen ein. Es sei auch übel zugerichtet in der Schule erschienen, mit blauen Flecken im Gesicht, im Nacken und am Hals.

Stiefmutter schlägt Mädchen mit Stock durchs Gesicht

Die Stiefmutter habe dem Kind wiederholt einen daumendicken Stock durch das Gesicht geschlagen. An ihrem Körper seien mehr als „40 theils vernarbte, theils noch mit Blutborken bedeckte Striemen vorgefunden“ worden.

Im Juni 1898 lieferte der Verdener Magistrat Luise in der Rettungsanstalt Himmelpforten ab. Sie blieb bis zu ihrer Konfirmation und trat später eine Dienststelle als Magd in Blumenthal bei Horneburg an.

Im Rettungshaus erwartete die schulpflichtigen Kinder, meist im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren, ein streng geregelter Alltag. Meist standen sie um 5 Uhr auf, gingen zur Morgenandacht um 6.30 Uhr und waren bis um 12 Uhr in der Schule. Der gesamte Nachmittag, von 13.30 Uhr bis 18 Uhr, war für die Arbeit bestimmt. Kinderarbeit war um 1900 gang und gäbe.

Gang und gäbe um 1900: Kinderarbeit

„Die Jungen arbeiteten unter Aufsicht auf dem Feld hinter dem Rettungshaus“, so de Vries. Dort waren Äcker gepachtet, das Rettungshaus besaß auch eigenes Land. Die Mädchen arbeiteten im Haus. Im Winter standen Flechtarbeiten an. Freie Zeit gab es so gut wie nicht - eine Mauer, die alte Klostermauer, riegelte das Areal ab. Fluchtversuche gab es immer wieder.

Das Rettungshaus Himmelpforten um 1909.

Das Rettungshaus Himmelpforten um 1909. Foto: Postkarte Sammlung Paul Schrader

Die Schule allerdings genoss einen guten Ruf. „Der erste Hausvater hat wohl gute Arbeit geleistet“, sagt Malte de Vries. Der Leiter des Rettungshauses war gleichzeitig der Lehrer. Mit seinem Nachfolger brachen aber dunkle Zeiten an. Die schildert der Autor unter der Überschrift „Missbrauch der Missbrauchten“.

Hausvater vergreift sich an den Mädchen

1907 trat Wilhelm Hühne seinen Dienst an. „Er vergriff sich in den 1900er Jahren mehrfach an Mädchen“, sagt De Vries, der den Skandal ausführlich aufarbeitet. Ihre Not konnten die Kinder kaum nach außen tragen. „Der Briefverkehr war kontrolliert, der Hausvater las die Briefe.“

Zwei Mädchen wandten sich an ihre Erzieherin, die mit ihnen den Pastor aufsuchte. Der aber glaubte ihnen nicht. „Oft hatten die Kinder einen sexualisierten Hintergrund“, so de Vries. Statt ihnen zu helfen, wurden die Mädchen und die Erzieherin strafversetzt.

Drei Jahre später wandten sich abermals Mädchen an Pastor Arfken. Diesmal setzte er eine Ermittlung in Gang. Tatsächlich wurde Hühne verhaftet. Er hatte sich durch sein panisches Verhalten verdächtig gemacht, die Zeugenaussagen waren glaubwürdig.

Gefängnisstrafe wegen Missbrauchs

Dennoch äußerte nicht nur der Pastor Zweifel an den Vorwürfen „jahrelanger sittlicher Verfehlungen“ durch den Hausvater. Das Landgericht Stade sah das anders: Hühne wurde zu mehreren Jahren Haft verurteilt, später auch ein Erziehungsgehilfe. „Die Aufarbeitung des Ganzen ist aber ziemlich duster“, sagt de Vries und belegt das mit einem Brief.

Die jährlichen Berichte, hier die ersten beiden, über das Rettungshaus Himmelpforten sind eine umfangreiche Informationsquelle.

Die jährlichen Berichte, hier die ersten beiden, über das Rettungshaus Himmelpforten sind eine umfangreiche Informationsquelle. Foto: Klempow

Der Leiter der Inneren Mission in Hannover, Paul Oehlkers, schrieb an den Hausvater: „Die Erregung in Himmelpforten ist Ihre eigene Schuld (...) hätten Sie sich in der ganzen Sache verständig betragen, dann konnte alles still und verschwiegen erledigt werden.“ Der Ruf des Rettungshauses Himmelpforten nahm massiv Schaden, die Vorfälle schlugen Wellen bis nach Berlin.

Mehr als 100 Jahre später holt Malte de Vries den Fall wieder ans Licht und beleuchtet nicht nur 50 Jahre in der Geschichte des Steinmetzhauses, sondern auch die Entwicklung der Jugendfürsorge im Elbe-Weser-Raum. Rund 1000 Kinder lebten über die Jahrzehnte im Rettungshaus Himmelpforten.

Das Buch von Malte de Vries, „Das Rettungshaus der inneren Mission in Himmelpfor­ten“ wurde herausgegeben vom Landschaftsverband Stade und ist für 14,80 Euro (ISBN978-3-931879-82-2) erhältlich.

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