T„Wir haben es geschafft!“: Geflüchtete aus Buxtehude im Gespräch mit Angela Merkel

Das Buxtehuder Eherpaar Mahsa Narimani (rechts) und Sadegh Ranjbar mit Angela Merkel nach dem gemeinsamen Essen in Berlin. Foto: ARD
Im September 2015 verließen Mahsa Narimani und ihr Mann Sadegh Ranjbar den Iran und wären fast im Mittelmeer ertrunken. Heute leben sie in Buxtehude - und haben Angela Merkel zum Gespräch getroffen.
Buxtehude. „Hejo, spann den Wagen an...“ Die siebenjährige Eisan sitzt am Klavier und klimpert ein deutsches Volkslied, als es an der Tür klingelt. Es ist ihr neunjähriger Bruder Babak in Stutzen und schwarz-pinkem Messi-Trikot. Er kommt gerade vom Fußballtraining beim SV Ottensen.
Die Eltern unterbrechen ihr Gespräch mit dem TAGEBLATT im Wohnzimmer nur kurz. Sie berichten gerade von einem aufregenden Erlebnis: Gespräch und Abendessen mit Angela Merkel in Berlin.
Die Kanzlerin als fürsorgliche Gastgeberin
„Sie war wirklich nett“, erzählt Mahsa Narimani. Die Altbundeskanzlerin habe mit ihnen ganz normal auf Augenhöhe gesprochen und sei sehr aufmerksam gewesen. „Sie hat beim Essen immer nachgefragt, ob alles in Ordnung ist und ob jemand noch etwas braucht.“
Die 27-jährige Mahsa Narimani und ihr 34-jähriger Ehemann Sadegh Ranjbar gehören zu einer Gruppe Geflüchteter, die sich mit Angela Merkel in einem Restaurant in Berlin getroffen hat - zehn Jahre nach ihrem berühmten Satz „Wir schaffen das“ vom 31. August 2015. Die ARD hat das Gespräch zur Basis einer Dokumentation gemacht, die bereits ausgestrahlt wurde und in der ARD-Mediathek zu sehen ist: „Danke, aber... 10 Jahre nach Merkels Versprechen“.
Der Gedanke, eines Tages mit Angela Merkel an einem Tisch zu sitzen, hätte nicht ferner liegen können, als das jung verheiratete Paar im September vor zehn Jahren aus dem Iran floh. Mahsa Narimani hatte gerade ihren 18. Geburtstag gefeiert und war im siebten Monat schwanger, als sie beschlossen, zu fliehen.
Über die Gründe ihrer Flucht möchten sie nicht öffentlich sprechen. Aber Mahsa Narimani sagt: „Ich bin froh, dass meine Tochter nie erleben muss, was ich dort erlebt habe.“ Ohne ihren Eltern etwas zu sagen, gingen sie über die Grenze in die Türkei.
Hochschwanger im Boot über das Mittelmeer
Die beiden hatten alles verkauft, was sie besaßen und viel bezahlt, um jemanden zu finden, der ihnen die Fahrt ins nahe Griechenland ermöglichte. „Über das Meer - das würde ich nie wieder machen“, sagt Sadegh Ranjbar. Eigentlich sollte es nur eine halbe Stunde dauern. Doch in dem Boot, das für acht Personen gedacht war, saßen mehr als 30 - „und niemand wusste so richtig, wie man navigiert“, erzählt er. Sie verloren den Kurs.

Mahsa Narimani und Sadegh Ranjbar wohnen heute mit ihren Kindern Eisan (7) und Babak (9), die beide in Deutschland geboren sind, in Buxtehude. Foto: Richter
Als die Küste nach zwei Stunden doch in Sicht kam, war das Boot leckgeschlagen. Alle schöpften Wasser, Sadegh Ranjbar mit seinem Schuh. Trotzdem soffen sie ab, 200 Meter vor der Küste. „Ich habe gesehen, wie eine Frau ihr Kind im Meer verloren hat, aber ich habe Mahsa nichts gesagt“, erzählt er. Irgendwie schafften sie es an den Strand.
In Österreich gab es Essen und ein Bett
Mit Bus und Bahn, zwischendurch auch zu Fuß, ging es von Griechenland über die Balkan-Route nach Deutschland. In Österreich bekamen sie zum ersten Mal auf ihrer Reise durch Europa einen Ort zum Ausruhen, Essen und ein Bett, ohne dass jemand Geld verlangte.
Gefragt, wo sie hinwollten, sagten sie: Hamburg. „Ich wusste, da ist es gut und da sind viele Iraner“, erklärt Sadegh Ranjbar. Ende Oktober 2015 kamen sie in Deutschland an. Doch der Bus, in dem sie dann saßen, fuhr für sie überraschend nach Dresden.
Statt nach Hamburg geht es nach Clausnitz
Sadegh Ranjbar und Mahsa Narimani kamen zuerst in eine Massenunterkunft in Meißen. Im dortigen Krankenhaus wurde ihr Sohn geboren. Er war noch keine zwei Monate alt, als sie im Februar 2016 in einem Bus saßen, der sie in ein sächsisches Dorf brachte, dessen Name wenig später zum Symbol des hässlichen Deutschlands wurde: Clausnitz.
Die Zufahrt zur Unterkunft war blockiert. Eine Menschenmenge brüllte ausländerfeindliche Parolen, warf Schneebälle auf den Bus. „Wir haben uns nicht beschützt gefühlt“, sagt Mahsa Narimani, die dabei ihr weinendes Baby im Arm hielt.
Die Flüchtlinge wollten nicht aussteigen, doch die Polizei zwang sie, teils mit körperlicher Gewalt, und brachte sie in die Unterkunft. In dieser Nacht schliefen sie aus Angst vor den wütenden Menschen draußen im Flur. „Wegen der Fenster haben wir uns nicht in die Zimmer getraut“, sagt Mahsa Narimani.
Ein paar Tage später seien Leute aus dem Dorf gekommen und hätten sich entschuldigt. Sie organisierten ein Willkommensfest und schenkten ihnen Sachen für das Kind. Auch viele Journalisten kamen.
„Deutschland hat diese Geschichte gehört“, sagt Sadegh Ranjbar. Einer der Journalisten, Bambdad Esmaili, arbeitete beim WDR. Er hat bis heute den Kontakt gehalten, und durch ihn sind die beiden zu dem Gespräch mit Angela Merkel gekommen.

Zehn Jahre nach ihrem Versprechen „Wir schaffen das“ trifft Angela Merkel die heute 27-jährige Mahsa Narimani (rechts), ihren Mann und andere Geflüchtete in einem Restaurant in Berlin. Foto: WDR
Als Mahsa Narimani schildert, wie sie die Ankunft in Clausnitz damals erlebt hat, sagt die Altkanzlerin, das Verhalten der Menschen damals sei „beschämend“ gewesen. Zu ihrem Satz „Wir schaffen das“ stehe sie aber bis heute. Sie habe ihn in dem Bewusstsein gesagt, dass die Aufnahme so vieler Geflüchteter eine besondere Herausforderung war.
Der Hamburg-Plan braucht ein paar Jahre
In Clausnitz meldete sich das Paar schnell zum Deutschkurs an. Wenn Mahsa Narimani lernte, passte Sadegh Ranjbar auf den kleinen Babak auf. Sie wurden als Flüchtlinge anerkannt. In der Kreisstadt Freiberg bezogen sie die erste eigene Wohnung. Sadegh Ranjbar arbeitete für eine Zeitarbeitsfirma als Fräser und Zerspaner. Ihm wurde eine feste Stelle angeboten, doch in der Corona-Pandemie ging die Firma pleite.
Sadegh Ranjbar blickte wieder nach Hamburg: „Das war von Anfang an mein Plan.“ Er hatte vor Augen, was er wollte: Nicht Sachsen, sondern einen Ort, wo seine Kinder - zwei Jahre nach Babak wurde Tochter Eisan geboren - unbeschwert aufwachsen konnten.
Das Paar fand eine Wohnung in Neuenfelde
In Hamburg bekam er ohne festen Wohnsitz aber keine Anstellung und ohne Job keine Wohnung. Er gab an, bei einem Kumpel zu wohnen, bekam im September einen Vertrag ab 1. Oktober und fand eine Wohnung in Neuenfelde.
Es war Mahsa Narimani, die mit dem Vermieter verhandelte. „Ich habe ihm gesagt, ich muss die Wohnung nicht vorher sehen. Wir zahlen sofort, aber gib sie niemand anderem.“ Im Oktober 2020 zogen sie ins Alte Land.
Sadegh Ranjbar trat seine Stelle an, Mahsa Narimani fand einen Ausbildungsplatz in Jork und absolvierte eine Vollzeitausbildung als Zahnarzthelferin. Sadegh Ranjbar suchte sich einen Job mit Arbeitszeiten, die ihm erlaubten, die Kinder nachmittags vom Kindergarten abzuholen. Um etwas dazuzuverdienen, arbeitete er an den Wochenenden als Limousinen-Chauffeur.
Ein letztes Wort an Angela Merkel
Beim Spazierengehen sahen sie schöne Häuser mit Garten. „Sadegh hat gesagt: Das will ich für uns auch. Wir müssen kämpfen“, erinnert sich Mahsa Narimani. Vor einem Jahr war es soweit: In Buxtehude-Ottensen fanden sie ein Haus, dachten aber, dass es für sie als Ausländer schwierig würde, einen Mietvertrag zu bekommen. Zwei Monate später meldete sich der Vermieter doch. „Ich glaube, er hat uns das Haus gegeben, weil die Kinder bei der Besichtigung so begeistert waren“, sagt Mahsa Narimani.
Dass die ganze Familie sich in Buxtehude so wohl fühlt, ist auch ein Grund dafür, dass Sadegh Ranjbar zu Angela Merkel am Ende des Gesprächs unbedingt noch etwas sagen wollte: „Sie hatten recht. Wir haben es geschafft.“

Limo-City soll der Limousinenservice heißen, mit dem Mahsa Narimani und Sadegh Ranjbar (hier mit den Kindern Eisan und Babak) sich in Buxtehude selbstständig machen wollen. Foto: WDR
Er und seine Frau haben aber auch schon den nächsten Plan: einen eigenen Limousinenservice. Für die weiße Stretchlimousine ist nur die letzte Rate noch fällig. Visitenkarten sind schon gedruckt: Limo-City soll die Firma heißen.
TAGEBLATT-Serie
„Wir schaffen das“: Der Satz von Angela Merkel vom 31. August 2015 ist in Deutschland zum Synonym der großen Flüchtlingskrise geworden. Zehn Jahre danach nimmt das TAGEBLATT dies zum Anlass, für eine Serie, die in loser Folge erscheint. In Gesprächen mit Zeitzeugen stellen wir die Frage: Was haben wir heute geschafft? Und was ist noch zu tun?

Mahsa Narimani und Sadegh Ranjbar wohnen heute mit ihren Kindern Eisan (7) und Babak (9), die beide in Deutschland geboren sind, in Buxtehude. Foto: Richter
Copyright © 2025 TAGEBLATT | Weiterverwendung und -verbreitung nur mit Genehmigung.