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Europawahl

TWölken muss los: So sieht der Alltag des Buxtehuder EU-Abgeordneten aus

Debatte zum Pharmaziepaket: Berichterstatter Tiemo Wölken am Rednerpult.

Debatte zum Pharmaziepaket: Berichterstatter Tiemo Wölken am Rednerpult. Foto: Emilie GOMEZ

Die letzte Brüsseler Sitzungswoche des EU-Parlaments im April hat es in sich. Das Migrationsgesetz wird abgestimmt, und es hat sich royaler Besuch angesagt. Der Parlamentsbetrieb läuft auf Hochtouren. Mittendrin EU-Abgeordnete Tiemo Wölken (SPD).

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Von Grit Klempow
Montag, 03.06.2024, 12:31 Uhr

Brüssel/Landkreis. Der Tag hat Tempo. Tiemo Wölken hält das Smartphone in beiden Händen, die Daumen tippbereit. Wenn die Zeit im Gespräch mal wieder knapp wird, redet er einfach noch schneller. Tiemo Wölken ist im Brüssel-Endspurt.

Fünf Jahre sind fast vorbei. Auf der Etage der Sozialdemokraten liegen Paletten mit Kartonstapeln. „Propriété du Parlement Européen“, Eigentum der EU, lautet der Aufdruck. Drei Mini-Büros reihen sich hinter der Tür aneinander. Die meisten Möbel sind von der EU gemietet. Hier arbeitet das Team Wölken.

Tara Hadviger ist die Gesundheitsexpertin, Torben David der Mann fürs Digitale, Steffen Engling der Spezialist für Umweltthemen. Sie sorgen als seine Assistenten in Brüssel dafür, dass Tiemo Wölken nicht nur als Sprecher seiner Fraktion im Umweltausschuss sachlich gut vorbereitet ist. Mehr noch: Sie schreiben auch an Gesetzestexten. Heute geht es um einen davon. Es ist der 10. April, Tiemo Wölken ist seit 8 Uhr im Büro. Der Tag nimmt langsam Fahrt auf.

Gesetzestext aus dem Büro Wölken

Der von der Kommission vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Büro Wölken überarbeitet. Es geht um die Transparenz in Lieferketten, die Arzneimittel-Engpässe verhindern soll. Es geht um Anreize für die Entwicklung teurer, neuer Antibiotika, beschleunigte Zulassungsverfahren und die Erforschung seltener Krankheiten. Das Text-Paket wurde drei Monate verhandelt. Ein hartes Stück demokratischer Arbeit, das am Ende von einer breiten Mehrheit getragen wird - und ein Beispiel dafür ist, wie ein legislativer, ein gesetzgebender, Ausschuss hier arbeitet.

Tiemo Wölken ist Sprecher und Koordinator seiner Fraktion in diesem Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Seit er 2016 ins Parlament nachrückte, hat er sich das erarbeitet. Es ist der größte und „niedersächsischste Ausschuss“, so Wölken: Erneuerbare Energien, Landwirtschaft oder die Wasserrahmenrichtlinie gehören zu den Themen der vergangenen Jahre.

Sein Auftrag: Schattenberichterstatter

Als offizieller Berichterstatter, „Rapporteur“, des Ausschusses war Wölken dafür zuständig, den Text zum Pharmaziepaket auf dem Weg durch die Beratungen zu begleiten, Experten zu hören und mit Abgeordneten zu diskutieren. Zusammen mit den „Schattenberichterstattern“, die von ihren Fraktionen zu diesem Thema beauftragt werden, sucht der Rapporteur nach Kompromissen.

Als ein solcher Schattenberichterstatter hat Wölken für die Sozialdemokraten an einem Gesetz gearbeitet, das ebenfalls heute zur Abstimmung steht. Die Entnahme von schädlichen Treibhausgasen aus der Atmosphäre soll künftig zertifiziert werden können. Laut Wölken ein Vorteil für die nachhaltige Landwirtschaft, bei der mehr CO2 im Boden gespeichert als freigesetzt wird. Nachhaltige Bewirtschaftung könne somit ein zusätzliches Einkommen generieren.

Schon als Praktikant während des Jura-Studiums war Wölken vom Brüsseler Politikbetrieb fasziniert. Ganz abgesehen davon, dass für ihn das gemeinsame Europa eine wirklich gute Idee ist, schätzt er auch die Praxis: „Hier Abgeordneter zu sein, ist das beste Mandat, was man haben kann. Weil wir sehr viele Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten haben - und vielleicht ein bisschen mehr Einfluss als die Bundestagskollegen.“

Reporter ohne Grenzen und die VHS Osnabrück

Wenn die EU-Kommission Vorschläge zur Gesetzgebung macht, kann sie sich eben nicht auf Mehrheiten im Parlament verlassen. „Es kann passieren, dass sich innerhalb der Fraktionen andere Mehrheiten finden - dann sieht das Gesetz am Ende ganz anders aus als der Vorschlag der Kommission“ - wie beim Pharmaziepaket. Zwei Handys brummen, der Blick zur Uhr, Wölken muss los.

Im Besprechungsraum wartet um 9.30 Uhr eine Vertreterin von Reporter ohne Grenzen. Sie macht Vorschläge, worum sich die EU in Sachen Pressefreiheit kümmern sollte, eines der Themen, die Wölken besonders am Herzen liegen. Es geht unter anderem um Desinformation und Fake News, die dem Vertrauen der EU-Bürger in Information und Journalismus schaden. Eine knappe halbe Stunde Zeit haben Wölken und seine Assistenten für das Gespräch.

Termin um 10 Uhr mit einer Besuchergruppe. Der Weg dorthin dauert. Unterwegs summt das Handy. So viele Nachrichten - „das bedeutet meistens Alarm“, sagt Tiemo Wölken, eilt und tippt. Minuten später widmet er sich ganz seinen Gästen der Volkshochschule Osnabrück. Ein Heimspiel. Tiemo Wölken lebt mit seiner Familie in Osnabrück. Geboren wurde der 38-Jährige in Otterndorf, aufgewachsen ist er in Buxtehude, an der Halepaghen-Schule hat er sein Abitur gemacht. Deshalb ist er für die niedersächsische SPD auch für den Landkreis Stade und bis Cuxhaven zuständig.

Am Wochenende geht es zu Terminen im Wahlkreis

Selbstverständlich kommt die Frage nach dem Migrationspaket. Auch das steht gegen Abend auf der Tagesordnung. Wölken hat zum Teil starke Bedenken. „Aber wir arbeiten seit über neun Jahren an neuen, einheitlichen Regeln zur Einwanderung.“ Die Knackpunkte des Pakets diskutiert parallel seine Fraktion S & D, Sozialisten und Demokraten. Die spricht zwar Abstimmungsempfehlungen aus, „aber wenn man davon abweicht, ist das nicht so ein Drama, als würde eine Regierungsmehrheit davon abhängen“. Später wird sich Wölken in einem Punkt enthalten. Der Blick zur Uhr. Wölken muss nicht los - aber die Gruppe.

Raumwechsel: Wölken hat einen guten Draht zu den Schülern aus Wilhelmshaven. Immerhin, er kommt wie Montana Black aus Buxtehude, macht Livestreams auf der Plattform Twitch und daddelt auch mal gern - „Aber ich bin wirklich nicht gut.“. Von seinem Brüsseler Team hat er deshalb einen Controller geschenkt bekommen, in Genossen-Rot. Wie seine Arbeitswoche aussieht? Von Montag bis Donnerstag ist er in Brüssel oder eben in Straßburg. Donnerstagsabends, freitags und am Wochenende ist Zeit für Termine im Wahlkreis. Er hat noch Büros in Leer und Osnabrück. „Notgedrungen decken wir als Abgeordnete riesige Bereiche ab.“

Was ein Abgeordneter verdient

Er wohnt in Straßburg im Hotel, aber in Brüssel hat er eine WG. „Und“, kommt die unverblümte Frage einer Schülerin, „verdienen Sie gut?“ „Ja“, sagt der Jurist. „Alter! Ist das viel“, rutscht es einem Schüler raus. Alle Abgeordneten bekommen das Gleiche - 10.075 Euro brutto, versteuert in der EU bleiben etwa 7800 Euro. Nach Abzug der Steuer in Deutschland sind es 6000 Euro, davon gingen noch etwa 1000 Euro an die Partei.

Vor allem im Vergleich mit allen, die direkt mit Menschen arbeiteten, in der Pflege oder bei der Feuerwehr, sei das viel Geld, so Wölken. Im Vergleich zu Juristen in anderen Positionen vielleicht auch wieder nicht. Dazu kommen die Pauschalen für die Wahlkreisbüros und ein virtuelles Guthaben, aus dem jeder Abgeordnete seine Mitarbeiter bezahlt. Eines sagt Wölken aber auch: „Es sind eben auch 70 Wochenarbeitsstunden - wenn man das hier vernünftig macht.“

Fraktionssitzung hinter verschlossenen Türen

Zeitgleich läuft die Fraktionssitzung. Die Chats laufen über. Wölken muss los. „Ich muss mal eben zwei, drei Brände löschen“ - die Daumen fliegen übers Display. Als Sprecher im Ausschuss ist Wölken ständig gefragt. Die Themen sind komplex, die Abstimmungsprozesse ebenso. „Mit der Erfahrung hat man mehr Gestaltungsspielraum. Aber es fällt einem hier nichts in den Schoß“, sagt er. Fünf Jahre könne es schon dauern, um die Vorgänge zu verstehen, Kontakte aufzubauen und Prioritäten setzen zu können. „Ich lerne noch nach sieben Jahren dazu.“ Seine Fraktion tagt im Sitzungssaal am anderen Ende der Parlamentsgebäude hinter verschlossenen Türen.

Als die sich wieder öffnen, bleibt - na klar - nicht viel Zeit. Auf den Gängen brummt es, im Plenarsaal um 12.30 Uhr auch. Der belgische König Philippe hält zum ersten Mal eine Rede vor dem Parlament, beschwört die Einigkeit Europas und ruft auch zum Kampf gegen den Klimawandel auf: „Je stärker wir erneuerbare Energien nutzen, desto weniger sind wir von importierter Energie abhängig.“

Darum geht es auch beim nächsten Termin. Drei junge Vertreter von Transport & Environment, Europas Dachverband für saubere Energien und Verkehr, stellen Ideen vor, wie die EU für umweltfreundliche Mobilität sorgen und das auch finanziell fördern könnte. „The idea sounds good to me“, sagt Wölken. Aber er sei nicht optimistisch, sagt er ehrlich - er weiß, wie die Haushalte der Mitgliedsstaaten unter Druck sind.

Abstecher in die Kantine. Das Handy liegt neben dem Teller. Es brummt. Wölken muss los. Zurück ins Büro, zum parteiinternen Video-Meeting. Thema ist der Wahlkampf. Es wird darum gehen, „dass wir möglichst viele Demokraten im nächsten Parlament haben“. Es sorgt auch ihn, dass Europa „von Kräften unterwandert wird, die mit der Europäischen Union eine Erfolgsgeschichte für Frieden und wirtschaftliches Wachstum abschaffen wollen“. Er glaubt an die große europäische Vision, will aber auch im Kleinen an Veränderungen arbeiten, die den Bürgern das Leben leichter machen.

Klimakrise bleibt Zukunftsthema

Er hat Vertrauen in die Wählerschaft: „Viele wollen gar nicht mehr überzeugt werden, der Großteil weiß, dass Europa eine gute Idee ist.“ Es gehe um die Inhalte: Die Klimakrise bleibe ein Sicherheits- und Zukunftsthema, ebenso Arbeitsplätze und Lieferketten in der EU zu halten. Dort, wo der Rat noch einstimmig entscheide, gebe es am wenigsten Fortschritt, sagt er mit Blick auf die EU-Struktur. Es bleibt viel zu tun.

Tippend vor dem Fahrstuhl: Tiemo Wölken und Assistentin Tara Hadviger.

Tippend vor dem Fahrstuhl: Tiemo Wölken und Assistentin Tara Hadviger. Foto: Klempow

Das Wahlkampf-Meeting endet kurz vor knapp. Die Aussprache zum Pharmaziepaket steht an. Wölken muss los, schlendern ist nicht. Tara Hadviger drückt ihm sein Redemanuskript in die Hand und greift zum Handy, um ein angefragtes Interview zuzusagen.

Menschentrauben im Parlament

Auf dem Weg zum Plenarsaal stehen Menschentrauben. Journalisten und Besucher strömen ins Parlament. Und auch der belgische König sorgt mit seiner Entourage für einen Engpass. Aber Wölken ist rechtzeitig im Plenarsaal und wirbt als Berichterstatter in seiner Rede für das vom Parlament überarbeitete Pharmaziepaket, das auch die Antibiotikaforschung stärken soll. Antibiotikaresistenzen führten jährlich zu 35.000 Todesfällen in der EU, „und das sind 35.000 zu viel“, sagt er am Rednerpult. Jetzt noch sein Schlusswort als Rapporteur - dann muss er im Laufschritt los, zum Treffen mit dem Kamerateam ein Stockwerk höher. Jetzt steht Wölken still - im Interview mit einem Hannoveraner Sender erklärt er, was im Pharmaziepaket steckt.

Einem Hannoveraner Sender erklärt Tiemo Wölken im Interview, was im Pharmaziepaket steckt.

Einem Hannoveraner Sender erklärt Tiemo Wölken im Interview, was im Pharmaziepaket steckt. Foto: Klempow

Im Hintergrund schrillt die Klingel als Weckruf für alle Abgeordneten, auch für Wölken. Minuten später ist um 17 Uhr der Plenarsaal voll, unten bei den Abgeordneten, oben auf den Besuchertribünen. Ein Abstimmungsmarathon im Sprinttempo beginnt. Ein Tumult auf der Tribüne, Saaldiener im Frack eilen zu den Demonstranten, die lautstark gegen das Migrationsgesetz protestieren. Es wird trotzdem beschlossen. Genauso wie das Gesetz zu den CO2-Entnahmen und das Pharmaziepaket.

Voller Plenarsaal in Brüssel: Mehr als 700 Abgeordnete gehören dem EU-Parlament an. Foto: Klempow

Voller Plenarsaal in Brüssel: Mehr als 700 Abgeordnete gehören dem EU-Parlament an. Foto: Klempow Foto: Klempow

Das Lob gilt dem Rapporteur. Im Pulk der Sozialdemokraten fährt Wölken gegen 18.45 Uhr hoch in die gemeinsame Büroetage. Ein Schulterklopfen. „Well done, Tiemo.“ Wölken atmet durch. Seine persönliche Belohnung wird gleich ein Dino-Keks im Büro sein. Die liebt er - und die gibt es hier in Brüssel noch, anders als zu Hause. Das Hemd hat ausgedient. Im Hoodie schlendert er zur Abschiedsparty der Fraktion. Ein besonderer Tag im Parlament geht zu Ende. „Besonders?“ Assistentin Tara Hadviger blickt in den Kalender und grinst. „Nee, eigentlich war das ganz normal.“

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Transparenzhinweis: Die Berichterstattung aus dem EU-Parlament erfolgt auf Einladung des Parlaments, das auch die Reisekosten übernommen hat.

Mehr zum SPD-Kandidaten für die Europawahl auf der Parlamentswebsite: www.europarl.europa.eu/meps/de/185619/TIEMO_WOLKEN/home

Debatte zum Pharmaziepaket: Berichterstatter Tiemo Wölken am Rednerpult.

Debatte zum Pharmaziepaket: Berichterstatter Tiemo Wölken am Rednerpult. Foto: Emilie GOMEZ

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