TProzess um Raser von Mulsum: Verstörende Details einer Todesfahrt
Der BMW M4 bohrte sich im September 2023 gegen 4 Uhr morgens in die Fassade von „Müller´s Gasthof“ in Mulsum. Foto: Vasel (Archiv)
Es war ein Horror-Unfall: Vor dem Stader Landgericht schildert ein Experte, was sich in Mulsum zugetragen hat und kommt zu dem Schluss: „Der Angeklagte kann von Glück sprechen, dass er überlebt hat.“
Mulsum. Etwa einen Meter tief war die Delle auf der Beifahrerseite des blauen BMW, nachdem er mit hoher Geschwindigkeit in die Außenwand von „Müller´s Gasthof“ in Mulsum gerast war. Die Fahrgastzelle wurde dabei keilförmig zusammengestaucht, enorme Kräfte wirkten auf die beiden Autoinsassen - einer von ihnen starb, es war der Beifahrer.
Der Unfall ereignete sich in der Nacht des 2. September 2023. Angeklagt vor dem Stader Landgericht ist ein 25-Jähriger, es ist der mutmaßliche Fahrer.
Beifahrer prallte mit dem Kopf auf
Um den Unfall zu überleben, hätte es ein Wunder gebraucht. Das macht der technische Sachverständige klar, der in dieser Woche vor Gericht sein Gutachten vorstellte: „Der Angeklagte kann von Glück sprechen, dass er überlebt hat.“
Kräfte von bis zu 48 g seien beim Aufprall auf die Körper der beiden Fahrzeuginsassen eingewirkt. Zum Vergleich: 1 g ist die Beschleunigung, die die Menschen durch die Schwerkraft spüren. Bis zu 10 g wirken beispielsweise auf Astronauten beim Start einer Rakete ein.

Besonders die Beifahrerseite des blauen BMW M4 wurde bei dem Unfall im September 2023 beschädigt. Foto: Vasel (Archiv)
„Alleine das kann zu erheblichen inneren Verletzungen führen“, so der Sachverständige. Hinzu kommt, dass seiner Einschätzung nach keiner der beiden Insassen einen Sicherheitsgurt trug. Das sei auch durch die Tatsache bekräftigt, dass sich keine quer verlaufenden Abdrücke des Gurtes auf den Oberkörpern der Insassen abzeichneten.
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Weiter beschreibt der Sachverständige, dass die Airbags zwar auf beiden Seiten ausgelöst wurden, der Verstorbene aber höchstwahrscheinlich mit dem Kopf gegen die A-Säule oder Scheibe auf der Beifahrerseite geprallt sein muss. Das erkläre die massiven Kopfverletzungen. Der 25-Jährige wurde noch am Unfallort für tot erklärt.
Unfallfahrer lenkte noch gegen und bremste
Über die kurz vor dem Unfall aufgezeichneten Daten des Airbag-Steuergerätes konnte der Sachverständige verschiedene Berechnungen anstellen. Fünf Sekunden vor dem Unfall und etwa 200 Meter vor dem Gasthof lag die Geschwindigkeit des BMW noch bei 181 km/h. Kurz darauf folgte ein leichtes Tippen der Bremse, gefolgt von einem kräftigen Treten circa 1,5 Sekunden vor dem Aufprall.

So sah es im Eingangsbereich von „Müller´s Gasthof“ in Mulsum nach dem Unfall aus. Foto: Vasel (Archiv)
Gleichzeitig habe der Fahrer versucht, das Lenkrad nach links zu drehen, um das Fahrzeug zu stabilisieren. Dieser Versuch scheiterte jedoch. Der Unfall sei nach Einschätzung des Sachverständigen auf das hohe Tempo zurückzuführen: „Die Geschwindigkeit wurde wahrscheinlich unterschätzt.“
Fahrer spricht von Erinnerungslücken
Die am Auto festgestellten abgenutzten Hinterreifen hätten bei diesem Tempo keinen Unterschied gemacht. „Ein technisch einwandfreies Auto hätte die Kurve mit etwa 75 km/h schaffen können“, sagt der Experte. Mit den abgenutzten Reifen hätte die Kurve noch bei circa 65 km/h genommen werden können. Der Unfallwagen hatte mit den 181 km/h fast dreimal so viel.
Unstimmigkeiten gab es zwischen der Aussage des Angeklagten und den Einschätzungen des Sachverständigen. Der mutmaßliche Raser gibt an, sich nach einem Zwischenstopp in Mulsum an nichts mehr erinnern zu können - also auch nicht daran, gefahren zu sein. Wie die Staatsanwaltschaft vermutet, soll am besagten Zwischenstopp in Mulsum ein Fahrerwechsel und kurz darauf der Unfall stattgefunden haben.

Das Stader Landgericht: Hier findet der Prozess gegen den mutmaßlichen Unfallfahrer statt. Foto: P. Meyer
Die Strecke zwischen dem Unfallort und der Straße, aus der der BMW demnach auf die Stader Straße abgebogen sein muss, ist aber zu kurz, um bis fünf Sekunden vor dem Aufprall auf 181 km/h zu beschleunigen. Ob und wann der Zwischenstopp tatsächlich so passiert ist, könnte die Vernehmung einer weiteren Zeugin klären, über deren Vorladung nun beraten wird.
Video zeigte Verstorbenen in der Unfallnacht
Ein weiteres Puzzleteil ist das Smartphone des Verstorbenen, das die Familie dem Gericht zur Verfügung stellte. Dort war ein Snapchatvideo aus der Unfallnacht gespeichert, das einige Stunden vor dem Unfall, der sich gegen 3.51 Uhr ereignete, aufgenommen worden war.
Zu sehen auf dem Video ist der Vestorbene, der in einem Auto sitzt, neben ihm eine weitere Person. Details, etwa die Identität der anderen Person oder wer das Auto fuhr, lassen sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Nach erster Ansicht des Videos soll das Smartphone der Polizei überreicht werden. Die wird das neue Beweismittel sichern.
„Wenn er konsumiert hat, war es der Horror“
Mit ihrer Aussage gibt die Ex-Freundin des Angeklagten einen Einblick in das Leben des 30-Jährigen. Das soll geprägt gewesen sein von Drogen- und Alkoholkonsum, von Obdachlosigkeit, von physischer und psychischer Gewalt und den gescheiterten Versuchen, etwas zu ändern.

Der Angeklagte neben seiner Rechtsanwältin Katja Schade. Foto: P. Meyer
„Er hat zwei Gesichter: Wenn er etwas konsumiert hat, war es der Horror. War er nüchtern, war er ein Mann, wie ich ihn mir gewünscht hätte“, erinnert sie sich. Zuerst seien es Amphetamine gewesen, dann Kokain - und immer wieder der Alkohol, dem ihr Ex-Freund verfiel.
Ihre knapp fünfjährige Beziehung beschreibt sie als Auf und Ab, als toxisch. Sie hatte zeitweise Angst vor ihm gehabt und sogar eine einstweilige Verfügung erwirkt. Erst eine Nacht im Februar 2023, in der der Angeklagte seiner Ex-Freundin beinahe die Nase gebrochen haben soll, ließ sie einen endgültigen Schlussstrich ziehen.
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Dann kam der Unfall und der 30-Jährige soll noch weiter abgerutscht sein, so schildert die Zeugin ihren Eindruck. Bei einem Besuch im Krankenhaus habe der Angeklagte auch ihr gegenüber geäußert, er könne sich an den Unfall nicht erinnern.
Die Ex-Freundin des Angeklagten berichtet auch, dass viele ihn in seiner Lage ausnutzten. Schwarzarbeit gegen einen Schlafplatz im Auto: „Das war die Realität“, sagt sie. Doch es habe auch Menschen gegeben, die helfen wollten, nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war. Während dieser Zeit habe er einen stabileren Eindruck gemacht, erzählt sie.
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Das gute Verhältnis zu diesen Personen endete, als erst die Kasse des Betriebes und dann ein Fahrzeug verschwand, so schildert es eine weitere Zeugin. Auch dafür muss sich der Angeklagte vor dem Stader Landgericht verantworten.
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