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24-Stunden-Reportage

TVon der Reeperbahn nach Stade: Mit Nachtschwärmern in der S-Bahn

Pistengänger kommen, andere gehen: Auf dem S-Bahnhof Reeperbahn herrscht Samstagnacht vor Abfahrt der S3 in Richtung Stade reger Betrieb.

Pistengänger kommen, andere gehen: Auf dem S-Bahnhof Reeperbahn herrscht Samstagnacht vor Abfahrt der S3 in Richtung Stade reger Betrieb. Foto: Sulzyc

Rückfahrt aus Hamburgs Amüsierviertel: Die Begegnungen mit den Menschen in den anderthalb Stunden bis nach Stade sind flüchtig, aber intensiv - Androhung von Prügel inklusive.

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Von Thomas Sulzyc
Montag, 07.07.2025, 23:12 Uhr

Buxtehude. Der unterirdisch gelegene S-Bahnhof Reeperbahn in der Nacht zu Sonntag um 1.06 Uhr: Nachtschwärmer kommen, andere Pistengänger gehen. Nicht lautstark und fiebrig, sondern unauffällig und ruhig geht es unterhalb der sündigen Meile zu. Gemurmel ja, Gegröle nein. Zumindest in dieser Nacht zu dieser Stunde.

Für Clubgänger beginnt zu dieser Zeit die Nacht. Aber offenbar zieht es viele Menschen auch schon weg von der Reeperbahn. Der S-Bahn-Zug in Richtung Stade fährt um 1.15 Uhr ab. Fast alle Sitzplätze sind besetzt, viele Fahrgäste stehen. Bis zu 1500 Menschen finden in dem Langzug mit insgesamt neun Wagen Platz.

Die Zugzielanzeige auf dem Bahnhof Reeperbahn kündigt die erste S3 an, die in der Nacht zu Sonntag bis nach Stade fährt. Abfahrt ist um 1.15 Uhr, Ankunft in Stade um 2.45 Uhr.

Die Zugzielanzeige auf dem Bahnhof Reeperbahn kündigt die erste S3 an, die in der Nacht zu Sonntag bis nach Stade fährt. Abfahrt ist um 1.15 Uhr, Ankunft in Stade um 2.45 Uhr. Foto: Sulzyc

25 bis 30 Millionen Menschen im Jahr besuchen das weltweit bekannte Vergnügungs- und Rotlichtviertel im Hamburger Stadtteil St. Pauli. An jedem Wochenende ist es auch Sehnsuchtsort für viele Pistengänger aus dem Landkreis Stade.

Die S-Bahn Hamburg hat vor ein paar Jahren darauf reagiert: Ihre Züge fahren unter der Woche nachts nicht durchgängig nach Stade, am Wochenende aber mittlerweile schon. Die Linie S3 übernimmt in der Nacht im 60-Minuten-Takt den Transport der S5. Auf diese Weise gelangen die Menschen aus dem Landkreis Stade ohne Umsteigen zur Reeperbahn und zurück.

Gleich zu Beginn der Fahrt wird es hitzig

Zerstreuung finden die meisten Fahrgäste mit dem Smartphone. Die Sucht nach Content ist unübersehbar. Bei Instagram, Whatsapp oder Tiktok schenken sie bereitwillig Daten zu ihrem Konsumverhalten. Ob manche auch filmen oder Fotos von sich und anderen Fahrgästen im Internet verbreiten? Wer weiß das schon.

22 Grad warm ist die Nacht. Und hitzig ist der Auftakt zu dieser Reportage: Ein Schnappschuss, der die Schuhmode von Pistengängern einfangen soll, erregt bei vier Sitznachbarn Aufmerksamkeit. Gesichter seien nicht fotografiert, versichere ich ihnen, nur Schuhe. Zum Beweis dürfen die Sitznachbarn die Fotos sehen.

Voll besetzt ist die S-Bahn Sonnabendnacht ab Reeperbahn in Richtung Stade. Modisch geben Sneakers den Ton an.

Voll besetzt ist die S-Bahn Sonnabendnacht ab Reeperbahn in Richtung Stade. Modisch geben Sneakers den Ton an. Foto: Sulzyc

Ein Mann, üppiger und gepflegter Bart und seiner Persönlichkeit mit Tätowierungen auf Armen und Beinen Ausdruck verleihend, hat trotzdem Bedenken. Er droht mit ruhiger Stimme Prügel an. Er setze sich für junge Menschen ein, erklärt er. Aber besitzen Sneakers Persönlichkeitsrechte, die verletzt sein könnten? Müßig zu diskutieren. Also Sitzplatzwechsel.

Zurück zur Schuhmode von Pistengängern. Früher war mehr Vielfalt: Pumps, Sandalen, Creepers, Lederstiefel. Heute tragen Männer und Frauen, Junge und Alte, nur eines: Sneakers, meist in Weiß. Mehr Produkte des US-Herstellers Nike als die des deutschen Konkurrenten Adidas sind zu sehen.

Eine Frau ist verloren unter Menschen

Derartige Wohlstandsprobleme interessieren eine sichtbar abgemagerte Frau nicht. Ihr Alter? Nicht zu schätzen, so gezeichnet vom Leben ist sie. Die Frau schleicht an den Sitzbänken vorbei. Mit gesenktem Kopf und kaum hörbarer Stimme bittet sie um Kleingeld. Die Fahrgäste beachten sie nicht. Verloren bleibt sie vor der Tür stehen, in sich zusammengesunken. Keinen Antrieb mehr zum Betteln. Am Bahnhof Neuwiedenthal wird sie später aussteigen und in die Nacht verschwinden.

Auf andere Weise fragt ein junger Mann das versammelte Publikum nach Geld. Er möchte sich etwas zu essen kaufen. Er spricht Englisch. Eine deutliche Ansprache hat er, hält Blickkontakt. Selbstbewusst und sympathisch wirkt der Mann. Er trägt einen kleinen Reiserucksack, offenbar kaum befüllt. Woher er komme? Aus Rotterdam, antwortet er. Ein Backpacker-Urlauber? Oder doch ein Obdachloser? Die flüchtige Begegnung liefert keine Antwort darauf. Beachtung in Form von Kleingeld schenkt ihm niemand.

Flaschensammler kommt Fahrgästen sehr nahe

Zackig bewegt sich ein anderer junger Mann, vielleicht Mitte 20, durch den Zug. Nicht merklich anders gekleidet als die anderen Reisenden, aber stechend nach Schweiß riechend. An jeder Sitzbank öffnet er mit starrem Blick den Mülleimer, sucht offenbar nach Pfandflaschen und Getränkedosen. Dabei kommt er den sitzenden Fahrgästen für wenige Augenblicke körperlich auf wenige Zentimeter nahe. Niemand beschwert sich. Flaschen zu sammeln, ist offenbar akzeptiert.

Ab Höhe Harburg haben viele Nachtschwärmer den Zug bereits verlassen. Jeder findet einen Sitzplatz. Viele Fahrgäste dösen vor sich hin. Wie Katerstimmung. Auffällig still ist es. So ruhig, dass Motoren die einzigen Geräusche erzeugen. Oder schnauft die Belüftung?

Der S-Bahn-Zug erreicht Neugraben. Damit beginnt auf der Weiterreise nach Buxtehude, Horneburg und Stade der Streckenabschnitt, der als besonders störungsanfällig gilt. Wenn nicht gerade Nacht am Wochenende ist und dann ausnahmsweise die S3 verkehrt, fährt hier die S5.

Bahnfahrer aus dem Landkreis Stade erleben regelmäßig verspätete Züge und Zugausfälle. So oft, dass sie der Statistik keinen Glauben schenken. Demnach seien die Züge auf der S-Bahn-Linie S5 zwischen Elbgaustraße und Stade im vergangenen Jahr zu 96,1 Prozent pünktlich gefahren.

15 Minuten Aufenthalt in Neugraben

Mittlerweile redet die S-Bahn Hamburg die Schwierigkeiten auf der Bahnstrecke zwischen Neugraben und Stade nicht mehr schön: Die Anzahl der ausgefallenen Zugkilometer auf der Linie S5 zwischen Elbgaustraße und Stade sei gestiegen - eine Zunahme um 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Bei der Ankunft in Neugraben zerreißt um 1.57 Uhr eine Stimme aus dem Lautsprecher die Stille: „Achtung, ein Hinweis! Der Zug fährt planmäßig 2.12 Uhr Richtung Stade.“ Das bedeutet 15 Minuten Aufenthalt.

„Ich hasse Menschen“

Spektakulär ist der Auftritt einer Frau, geschätzt Mitte 20 bis Anfang 30. „Ich hasse Menschen“, sagt sie deutlich für alle hörbar, als sie mit einer anderen Frau und drei Männern die S-Bahn in Neugraben betritt. Menschen seien furchtbare Wesen, fügt sie noch hinzu. Die Gruppe versteht sich aber, offensichtlich sind sie miteinander befreundet. Sie unterhalten sich angeregt, spaßen, sind nie zu laut. Angenehme Leute, so der Eindruck, die am Ende in Stade aussteigen werden.

Während der Fahrt zwischen Neu Wulmstorf und Buxtehude erreichen Mitarbeiter der DB Sicherheit den S-Bahn-Wagen. Fahrkartenkontrolle mitten in der Nacht. Schwarzfahrer entdecken sie in diesem S-Bahn-Wagen nicht. Erhalten die Kontrolleure Sonntagszuschlag? Einer von ihnen schaut auf seine Armbanduhr und antwortet freundlich: „Ja, seit 0 Uhr!“

Ein S-Bahn-Zug steht in der Nacht zu Sonntag im Bahnhof Stade. Nur am Wochenende fährt jeweils in der Nacht die S3 bis nach Stade und zurück.

Ein S-Bahn-Zug steht in der Nacht zu Sonntag im Bahnhof Stade. Nur am Wochenende fährt jeweils in der Nacht die S3 bis nach Stade und zurück. Foto: Sulzyc

Um 2.45 Uhr schließlich endet diese Nachtfahrt mit der S-Bahn von der Reeperbahn in Stade - und damit pünktlich auf die Minute. Das ist auf diesem Streckenabschnitt bekanntermaßen nicht selbstverständlich.

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