Zähl Pixel
24-Stunden-Reportage

TVon Glitzersteinen und flotten Sprüchen: Nachtwache im Seniorenheim

Sigrid Döring ist die halbe Nacht wach. Da liest sie oder hört Musik beim Diamond Painting.

Sigrid Döring ist die halbe Nacht wach. Da liest sie oder hört Musik beim Diamond Painting. Foto: Weselmann

Hier steht die Uhr nie still: Im Seniorenheim in Guderhandviertel sind die Pflegekräfte nachts immer gefordert. Was erleben sie dabei? Ein Rundgang.

author
Von Fenna Weselmann
Mittwoch, 09.07.2025, 17:35 Uhr

Guderhandviertel. Die Höfe liegen im Dunkel, Guderhandviertel schläft noch. Im Seniorenheim Bergfried sind die Flure dagegen hell erleuchtet. Kurz nach 3 Uhr beginnt die Nachtwache ihre letzte große Runde vor der Übergabe.

Im Lebensgarten tickt die Zeit der Vergangenheit

„Meister Uli“ - wie ihn das Pflegepersonal liebevoll nennt - tigert da schon in den Essensraum, um nach dem ersten Kaffee Ausschau zu halten. Für ihn tickt die Zeit auf der Demenzstation vom Bergfried noch genau wie die innere Uhr im Berufsleben als Bauer. Da musste er früh aus dem Bett.

So ist das hier bei den zwölf Bewohnern im Lebensgarten. Das Jetzt ist flüchtig wie eine Seifenblase, die Vergangenheit dafür allgegenwärtig. Deshalb hockt Uli oft vor dem ersten Vogelgezwitscher draußen auf dem alten Trecker, der den geschützten Bereich schmückt. Die eingefriedete Außenanlage ist passend zum Alten Land gestaltet.

So ruhig gehen die Nächte nicht immer an dem alten Trecker vorbei. Manchmal bekommt er noch vor dem ersten Vogelgezwitscher Besuch.

So ruhig gehen die Nächte nicht immer an dem alten Trecker vorbei. Manchmal bekommt er noch vor dem ersten Vogelgezwitscher Besuch. Foto: Weselmann

Die an Demenz Erkrankten können an die Luft, wann immer es ihnen in den Sinn kommt - auch mitten in der Nacht. „Barfuß im Pyjama, aber Mütze auf dem Kopf“, erzählt Carola Jantke, wie sie Bewohner manchmal des Winters im Garten spazierend vorfindet und dann zurück ins Warme bringt.

Acht Kräfte teilen sich die Nachtwachen

Solche Situationen nimmt sie mit einem Lachen. „Für die Bewohner bedeutet das ein Stück Freiheit und Lebensqualität“, erklärt Kollegin Sonja Beyermann. Die beiden sind seit Jahrzehnten für die vom Landkreis Stade betriebene Einrichtung mit dem kürzlich ausgebauten Lebensgarten tätig und gehören zum achtköpfigen Nachtwachen-Team. Den Tag erledigen andere.

Uli bekommt einen flotten Spruch zur Begrüßung und einen prüfenden Blick auf die leicht geschwollenen Beine. Dann läuft er zurück in sein Zimmer. „Wir machen mal die Tür zu - nicht, dass du noch Damenbesuch kriegst“, scherzt Carola Jantke und zaubert Uli ein Grinsen ins Gesicht.

Tatsächlich gibt es eine Dame, die gerne mal orientierungslos in anderer Leute Zimmer auftaucht. Im Moment braucht das Personal allerdings kein Auge darauf zu haben: Die Seniorin liegt gerade im Krankenhaus.

Magen-Darm-Virus bringt das Personal zum Rennen

Überhaupt geht es in dieser Nacht verhältnismäßig ruhig zu. Das kann ganz anders aussehen, wenn etwa ein Magen-Darm-Virus umgeht. „Dann sind wir die ganze Nacht am Rennen“, sagt die 56-jährige Sonja Beyermann.

Frische Vorlage und ein Becher Malzbier: Sonja Beyermann (links) und Carola Jantke gehen während ihrer Nachtschicht mehrfach auf Kontrollrunde von Zimmer zu Zimmer.

Frische Vorlage und ein Becher Malzbier: Sonja Beyermann (links) und Carola Jantke gehen während ihrer Nachtschicht mehrfach auf Kontrollrunde von Zimmer zu Zimmer. Foto: Weselmann

Dagegen ist der normale Turnus mit Vorlagenwechsel und Malzbierbecher für die nötige Flüssigkeitszu- und abfuhr ein einfaches Unterfangen. Zumindest in diesem Seniorenheim mit seinen 94 Plätzen. Denn während der Nachtwache von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens sind drei Kräfte gleichzeitig im Einsatz.

Einrichtungsleiterin Dr. Bettina Müller leistet sich diese Entscheidung bewusst, weil sie Bewohnern und Personal gleichermaßen zugute kommt. „Das ist wirklich ein Gewinn“, lobt Mitarbeiterin Sonja Beyermann. „Wir müssen nicht gestresst von einem zum anderen hetzen und haben Zeit, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen.“

Die Altenpflegerinnen horchen nach dem Atem

Genug zu tun gibt es trotzdem - vom Stellen der Medikamente bis zum regelmäßigen Drehen der Bettlägerigen. „Irgendwas ist immer“, sagt Carola Jantke und schiebt den mit Handschuhen, Inkontinenzmaterial und Trinkbechern bestückten Pflegewagen weiter. Aus dem nächsten Zimmer wabert ein strenger Geruch.

„Du kannst gleich weiter schlafen. Wir wollen nur einmal in die Unterbüx kieken“, klingt Jantkes Stimme hinter der Tür. Wieder draußen streift sie die Handschuhe ab und wischt das Haar aus der Stirn. „Zum Glück hat die Vorlage gehalten“, sagt die 60-Jährige. Sonst hätte sie Bettzeug und Kleidung wechseln müssen. Jetzt reicht eine Stippvisite im Wäschelager.

Carola Jantke ist mit dem Pflegewagen auf dem Flur unterwegs.

Carola Jantke ist mit dem Pflegewagen auf dem Flur unterwegs. Foto: Weselmann

Aus der Ferne kommt ein leises Knarren. Die Altenpflegerin lauscht und winkt beruhigt ab. „Eigentlich höre ich schlecht, aber hier entgeht mir nichts. Meine Ohren sind auf die Nacht trainiert“, erzählt sie. Bewohner erkenne sie bereits am Geräusch der Schritte.

Den Flur ziert ein Zitat aus „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ So lebt die Altenpflegerin ihren Job. „Wir kennen ihre Lebensgeschichten. Und wie oft haben wir schon geweint, wenn jemand verstorben ist.“

Auf den Runden durch das Haus betritt die Nachtwache jedes Zimmer und prüft, ob alles in Ordnung ist. Wo die Bewohner schlafen, horcht sie auf den Atem und macht Licht, wenn sie nicht sicher ist.

Das Seniorenheim ist ihr Zuhause

Bei Sigrid Döring auf Station 2 brennt schon lange Licht. Die 89-Jährige ist meist die halbe Nacht wach und der ungewöhnliche TAGEBLATT-Besuch im Schlepptau der Altenpflegerinnen eine willkommene Abwechslung. Sie hat gerade ihr Buch weggelegt. Was sie so liest? „Ich halte mich an die Liebe“, erzählt Döring. Sie möge schmalzige Romane, wo sich zwei erst nicht leiden können und am Ende heiraten.

Nächtlicher Klönschnack: Sonja Beyermann und Carola Jantke haben ein Ohr für die Bewohner und ihre individuellen Bedürfnisse.

Nächtlicher Klönschnack: Sonja Beyermann und Carola Jantke haben ein Ohr für die Bewohner und ihre individuellen Bedürfnisse. Foto: Weselmann

Als Dreijährige an Kinderlähmung erkrankt, ist die Seniorin aus Guderhandviertel seit langem auf Pflege angewiesen. Der Kopf ist klar, nur der Körper hält mit dem sprühenden Gemüt nicht mit. Viele Jahre wurde sie von der Schwiegertochter versorgt. „Ich habe ihr gesagt, wenn es irgendwann zu viel wird, gehe ich ins Heim“, erzählt Döring.

Sie ist glücklich über den Platz im Seniorenheim Bergfried: „Hier ist mein Zuhause.“ Und das hat sie sich schön eingerichtet. Es gibt ein Regal voll Bücher, vor dem Fenster stehen Topfpflanzen und von einem Foto auf der Kommode strahlt die Enkeltochter.

Im Morgengrauen gibt es die erste Rollkur

Hingucker sind die Motive an den Wänden ihres neuen Reichs. Sigrid Döring ist begeistert vom Diamond Painting. Wenn sie nicht gerade liest, bastelt sie Bilder aus Glitzersteinen. Und dazu befiehlt sie ihrer Alexa, einem virtuellen Sprachassistenten, gerne Schlagermusik.

Das Pflegepersonal weiß um die Gepflogenheiten jedes einzelnen Bewohners. Auf der letzten großen Runde legen Carola Jantke und Sonja Beyermann deshalb immer einen längeren Stopp bei Sigrid Döring ein. Die freut sich über nächtlichen Klönschnack und bekommt ihre „Rollkur“ - so ihr Wort fürs tägliche Waschen - nämlich schon im Morgengrauen. Das gibt ihr die Chance, sich selbstständig bis zu Frühstück und Dialyse fertig zu machen.

Essen nach Bedarf: Einigen Bewohnern bringt Andre Wedemeyer bei seiner nächtlichen Runde noch eine kleine Zwischenmahlzeit.

Essen nach Bedarf: Einigen Bewohnern bringt Andre Wedemeyer bei seiner nächtlichen Runde noch eine kleine Zwischenmahlzeit. Foto: Weselmann

Um kurz vor 4 Uhr klingelt in Jantkes Kitteltasche das Telefon: „Carola bei der Arbeit“, meldet sie sich. Der 29-jährige Kollege Andre Wedemeyer, der Station 3 und 4 abklappert, ruft nach Hilfe. In manchen Fällen reichen zwei Hände nicht, und Unterstützung ist sofort unterwegs.

Im Wäschelager wartet Arbeit: Die gelbe Markierung auf dem Boden teilt den Raum in dreckige und saubere Seite.

Im Wäschelager wartet Arbeit: Die gelbe Markierung auf dem Boden teilt den Raum in dreckige und saubere Seite. Foto: Weselmann

Die Nacht draußen am Bergfried ist still, aber im Seniorenheim ist zwischen 3 und 4 Uhr schon einiges los.

Die Nacht draußen am Bergfried ist still, aber im Seniorenheim ist zwischen 3 und 4 Uhr schon einiges los. Foto: Weselmann

Copyright © 2025 TAGEBLATT | Weiterverwendung und -verbreitung nur mit Genehmigung.

Weitere Artikel