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Energiekrise

Bund senkt Stromsteuer – Entlastung für die Stader Chemie-Industrie?

Nachtaufnahme von Bützflethersand: Die Anlagen auf dem Werksgelände des Chemieproduzenten der Dow und Olin sind beleuchtet.

Nachtaufnahme von Bützflethersand: Die Anlagen auf dem Werksgelände des Chemieproduzenten der Dow und Olin sind beleuchtet. Foto: Martin Elsen

Monatelang hat die Regierung darum gerungen, wie der Strom für die Industrie günstiger werden kann. Jetzt gibt es eine Einigung. Wie viel Hilfe kommt tatsächlich an? Fragen und Antworten.

Von Theresa Münch und Martina Herzog, dpa Donnerstag, 09.11.2023, 18:00 Uhr

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Berlin. Nach monatelanger Diskussion verständigt sich die Ampel-Koalition auf Strompreis-Entlastungen für das produzierende Gewerbe. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der die Details mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vereinbart hat, findet starke Worte: „Die Bundesregierung entlastet das produzierende Gewerbe massiv bei den Stromkosten“, erklärt er am Donnerstag. „Wir senken die Stromsteuer radikal.“ Hinzu kommen weitere Maßnahmen.

Allein im nächsten Jahr bedeute das eine Unterstützung von bis zu zwölf Milliarden Euro. Doch wirklich neu ist längst nicht alles an dem Paket - und Kritiker fürchten um den Klimaschutz und die Energiewende.

Was ist eigentlich das Problem?

Unternehmen aus allen Branchen klagen über hohe Strompreise. Verschärft hat sich das seit dem Ukraine-Krieg und der darauf folgenden Energiepreiskrise. Zuletzt dachten große Konzerne mit hohem Strombedarf laut darüber nach, Produktionsstandorte in Länder mit niedrigeren Preisen zu verlagern.

Tatsächlich ist der Strompreis in Deutschland höher als in vielen anderen Ländern. Das liegt an Steuern und dem CO2-Preis, aber auch daran, dass Deutschland kaum Öl- und Gasvorkommen hat und Erneuerbare weniger abwerfen als anderswo. Nach Daten der internationalen Energieagentur zahlt die Industrie in Deutschland fast dreimal so viel pro Megawattstunde wie in den USA oder Kanada. In der EU liegt Deutschland im Mittelfeld.

Hohe Kosten: Die Sorgen der Stader Chemieindustrie

Zuvor hatten die Industrieverbände und Gewerkschaften wochenlang auf Entlastungen gepocht. Hilferufe kamen im Verbund auch aus der Stader Industrie auf Bützflethersand. Ihr Ziel: die Rettung der energieintensiven Unternehmen, deren Strom- und Gasrechnungen kaum mehr bezahlbar sind. Die Dow in Stade ist nach der Deutschen Bahn der größte Stromverbraucher Deutschlands.

Betriebsräte äußerten Sorgen um die Arbeitsplätze. Betriebe räumten eine Drosselung der Produktion ein oder verschoben wegen der unsicheren Kostenlage wichtige Investitionen.

Unternehmen der chemischen Industrie wie Olin ständen im internationalen Wettbewerb, müssten massiv in die Transformation zur Klimaneutralität investieren, sind den Regulierungen der EU-Chemikalienstrategie unterworfen und hätten hohe Energiekosten zu bewältigen, hatte Holger Bär, Chef von Olin Europa, im TAGEBLATT erklärt.

Die Gewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IG BCE) zählt in der Stader Ortsgruppe 2000 Mitglieder, die meisten arbeiten auf Bützflethersand bei den Unternehmen von Dow, AOS, Olin, Trinseo, IFF (Ex-Dupont) und Air Liquide. Mit diesen 12.000 Beschäftigten spielt der Chemie-Park als Jobgarant und als Gewerbesteuerzahler eine große Rolle in der Wirtschaftskraft der Region.

Was will die Bundesregierung konkret dagegen tun?

Das Strompreispaket hat mehrere Teile. Neben einem bereits beschlossenen Zuschuss zu den Netzentgelten, die Teil des Strompreises sind, soll die Stromsteuer für alle Unternehmen des produzierenden Gewerbes auf den in der EU zulässigen Mindestwert gesenkt werden. Sie fällt damit vom derzeitigen reduzierten Satz von 1,537 Cent pro Kilowattstunde auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde. Davon profitieren nicht nur Großkonzerne, sondern auch der Mittelstand. Der bisherige Spitzenausgleich, über den energieintensive Unternehmen sich einen Großteil ihrer abgeführten Stromsteuer zurückerstatten lassen können, soll im Gegenzug auslaufen.

Die sogenannte Strompreiskompensation, die rund 350 Unternehmen von Kosten durch den EU-Emissionshandel entlastet, soll für fünf Jahre verlängert und zudem ausgeweitet werden, indem der bisherige Selbstbehalt gestrichen wird. Eine Extra-Entlastung für rund 90 besonders stromintensive Unternehmen („Super-Cap“) soll ebenfalls ausgeweitet werden.

Wie fallen die Reaktionen aus?

Die IG Metall wies darauf hin, dass das Paket kaum zusätzliche Entlastungen bringt. „Ein Teil des Pakets verlängert schlicht bestehende Maßnahmen wie Strompreiskompensation und Super-Cap oder gleicht bereits beschlossene Verschlechterungen wieder aus“, so die Gewerkschaft. „So kompensiert die geplante Reduzierung der Stromsteuer den Wegfall des Spitzenausgleichs. Mit diesen Maßnahmen werden keine Verbesserungen erzielt, aber weitere Verschlechterungen verhindert.“

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil bezeichnete die Pläne als Schritt in die richtige Richtung. Vor allem nicht energieintensive kleinere und mittlere Unternehmen könnten von dem Strompreispaket profitieren, nach ersten Berechnungen mit einer Entlastung von 1,5 Cent pro Kilowattstunde, teilte der SPD-Politiker mit.

„Im Hinblick auf die energieintensive Industrie stellen sich dagegen auf den ersten Blick noch deutliche Fragezeichen“, sagte Weil. Derzeit seien Teile der energieintensiven Industrie wegen der hohen Energiepreise nicht wettbewerbsfähig. „Das zu ändern, ist die Messlatte“, sagte Weil, der seit Monaten für einen staatlich unterstützten Industrie- oder Brückenstrompreis kämpft.

Wirtschaftsminister Olaf Lies sagte, es sei gut, dass der Bund auch den Mittelstand und das Handwerk bedenke. „Ein großer Teil der Wirtschaft profitiert davon“, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. Allerdings sei unklar, wie viele energieintensiven Unternehmen die vom Bund geplanten Maßnahmen nutzen werden. „Für die Energieintensiven hängt die Zukunft von der Frage der Bezahlbarkeit der Energie ab“, betonte Lies. Wenn es gelinge, auch diese Branchen zu entlasten, sei er zufrieden. „Ansonsten muss man nachjustieren.“

Die Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN) reagierten deutlich kritischer. „Unterm Strich verbessert das Strompreispaket nicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft“, sagte UVN-Hauptgeschäftsführer Volker Müller. Für rund 2000 energieintensive Unternehmen ändere sich nahezu nichts.

Was bedeutet das für den Strompreis?

Für die am stärksten entlasteten Unternehmen aus dem produzierenden Gewerbe rechnet man im Wirtschaftsministerium für das kommende Jahr mit einem Strompreis von sechs Cent pro Kilowattstunde. Das könnte zum Beispiel Unternehmen der Stahl- und Zementindustrie betreffen. Die Industriegewerkschaft IGBCE zweifelt allerdings an dieser Prognose.

Wer geht leer aus?

Das Paket der Bundesregierung richtet sich gezielt an das produzierende Gewerbe - nicht an Handel, Dienstleistungsbranche oder gar Verbraucher. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks warnte, viele energieintensive Branchen fielen damit durchs Raster. Zum Beispiel gehörten Textilreinigungen und Betriebe des Kfz-Handwerks formal nicht zum produzierenden Gewerbe. Der Branchenverband der Energie- und Wasserwirtschaft argumentierte ähnlich: „Es wäre konsequenter gewesen, die Stromsteuer-Senkung nicht allein auf das produzierende Gewerbe zu beschränken“, erklärte er. „So würden auch umweltfreundliche Technologien wie beispielsweise die Elektromobilität wettbewerbsfähiger gegenüber fossilen Energieträgern wie Heizöl, Benzin oder Diesel.“

Wie soll das Paket finanziert werden?

Das Geld soll aus drei verschiedenen Töpfen kommen. Die 2,75 Milliarden für die Senkung der Stromsteuer müssen aus dem normalen Bundeshaushalt finanziert werden. Damit kommt die Bundesregierung gerade noch rechtzeitig, denn nächsten Donnerstag zurrt der Haushaltsausschuss im Bundestag den Etat für 2024 fest. Finanzminister Lindner sieht zwar eigentlich wenig Spielraum. Die jüngste Steuerschätzung brachte aber 2,3 zusätzliche Milliarden, außerdem darf der Bund wegen der schwachen Konjunktur etwas mehr Schulden machen als bisher geplant. Deshalb sei es machbar. „Alle Maßnahmen sind im Rahmen der Schuldenbremse finanziert“, betonte Lindner.

Die Änderung bei der Strompreiskompensation betrifft den Klima- und Transformationsfonds, der neben dem Bundeshaushalt besonders für Klimaschutz-Ausgaben existiert. Er gilt eigentlich als längst überzeichnet, weil die Bundesregierung immer neue Programme in den Fonds schiebt. Doch für gewöhnlich fließen längst nicht alle vorgesehenen Mittel ab. Der Zuschuss zu den Netzentgelten kommt aus einem weiteren Neben-Fonds, dem gut gefüllten Wirtschaftsstabilisierungsfonds.

Ist das alles schon beschlossen?

Nein, bisher ist es nur eine Einigung von Kanzleramt, Wirtschafts- und Finanzministerium. Die Senkung der Stromsteuer muss vom Finanzministerium jetzt in ein Gesetz gegossen werden, das dann in den Bundestag geht. Viel Zeit für das übliche parlamentarische Verfahren gibt es nicht, denn die Entlastung soll schon 2024 greifen.

Warum sollten Unternehmen jetzt noch Energie sparen?

Diese Fragen wirft die Umweltschutzorganisation Greenpeace auf. „Die heute beschlossenen Maßnahmen untergraben Anreize, den Energieverbrauch und Emissionen zu senken“, bemängelte Energieexperte Bastian Neuwirth. „Um den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft voranzutreiben, sollte sie lieber gezielt Unternehmen dabei unterstützen, auf energieeffiziente Produktionsverfahren mit erneuerbaren Energien umzusteigen.“

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher sprach von einem schwerwiegenden Fehler. „Die Entscheidung der Bundesregierung wird Deindustrialisierung in Deutschland beschleunigen und nicht verlangsamen. Es werden dadurch alte Strukturen zementiert, neue Ideen und Innovation werden gebremst und mehr gute Arbeitsplätze werden verloren gehen.“ Das Erreichen der Klimaziele für 2030 werde noch unwahrscheinlicher.

Der Bundesverband Erneuerbare Energie kritisierte die Fortsetzung der Strompreiskompensation. „Unternehmen, die sich bisher nicht für den Umstieg auf Erneuerbare Energien engagiert haben, werden zusätzlich entlastet. Unternehmen, die den Umstieg auf Erneuerbare bereits vollzogen haben oder derzeit vollziehen, gehen leer aus. Das sendet ein völlig falsches Zeichen.“

Um das Thema wurde in Politik und Wirtschaft monatelang gestritten. Wer hat sich durchgesetzt?

Auf den ersten Blick hat sich Lindner durchgesetzt, der eine Senkung der Stromsteuer zur Entlastung der Industrie ins Gespräch brachte - ausdrücklich in Abgrenzung zu Habecks Idee eines mit Staatsgeld subventionierten Strompreises für die energieintensive Industrie. Auch Scholz hatte stets wenig Lust auf einen solchen Industriestrompreis erkennen lassen.

Auf den zweiten Blick ist die Sache weniger klar. Dass es überhaupt zu Entlastungen für Teile der Industrie kommt, dürfte am Ende dem Drängen Habecks zu verdanken sein, irgendwann auch flankiert von der SPD-Fraktion.

Zusätzliche Hilfen für 350 Konzerne

350 Konzerne, die besonders im internationalen Wettbewerb stehen und unter den hohen Strompreisen leiden, sollen zusätzliche Hilfen erhalten. Die bestehende Strompreiskompensation soll für fünf Jahre verlängert und ausgeweitet werden.

Eine weitere Entlastung hatte das Bundeskabinett vor Kurzem beschlossen: So will die Bundesregierung einen Zuschuss zur anteiligen Finanzierung der Übertragungsnetzkosten von bis zu 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Das soll am Ende auch den Strompreis dämpfen. Netzentgelte sind Gebühren für die Nutzung von Strom- und Gasnetzen, die an die Verbraucher weitergegeben werden. Alle Entlastungen sollen sich allein im kommenden Jahr auf einen zweistelligen Milliardenbetrag summieren.

Weil zum Strompreispaket: Fragezeichen bleiben

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil hält den Plan für einen Schritt in die richtige Richtung. Vor allem nicht energieintensive kleinere und mittlere Unternehmen könnten von dem Strompreispaket profitieren, nach ersten Berechnungen mit einer Entlastung von 1,5 Cent pro Kilowattstunde, teilte der SPD-Politiker am Donnerstag mit.

„Im Hinblick auf die energieintensive Industrie stellen sich dagegen auf den ersten Blick noch deutliche Fragezeichen“, sagte Weil. Derzeit seien Teile der energieintensiven Industrie wegen der hohen Energiepreise nicht wettbewerbsfähig. „Das zu ändern, ist die Messlatte“, sagte Weil, der seit Monaten für einen staatlich unterstützten Industrie- oder Brückenstrompreis kämpft.

IG Metall: Strompreispaket greift zu kurz

In der Industrie kommt das Paket der Bundesregierung weitgehend gut an. Der Branchenverband BDI begrüßte die Entlastung in der Breite - und besonders für die energieintensiven Unternehmen. Leider sei ihr Kreis mit 350 Betrieben aber sehr eng gewählt, „wodurch viele Unternehmen und auch Zukunftstechnologien außen vor bleiben“. Das Handwerk warnte, wichtige energieintensive Branchen fielen durch das Raster, weil sie formal nicht zum produzierenden Gewerbe gehörten - etwa Textilreinigungen und Autowerkstätten.

Die IG Metall kritisierte das Strompreispaket als nicht ausreichend. „Das jetzt vorgestellte Paket greift zu kurz und kann darum allenfalls ein Anfang sein“, sagte der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Kerner. Ein Teil des Pakets verlängere schlicht bestehende Maßnahmen wie Strompreiskompensation oder gleiche bereits beschlossene Verschlechterungen wieder aus. „Mit diesen Maßnahmen werden keine Verbesserungen erzielt, aber weitere Verschlechterungen verhindert“, sagte Kerner.

Lediglich die geplanten Subventionen der Netzentgelte bringe eine wirkliche Entlastung. „Die reicht aber nicht, um die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrien zu retten.“

Bundesregierung fürchtet Abwanderung von Unternehmen

Immer mehr große Industriekonzerne denken gerade laut darüber nach, ihre Produktion in Länder mit niedrigeren Strompreisen zu verlagern. Das könnte Deutschland Arbeitsplätze kosten. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat deshalb bereits im Mai vorgeschlagen, den Strompreis für die Industrie durch staatliche Subventionen künstlich zu drücken.

Das sollte vorübergehend bis 2030 passieren - bis die Erneuerbaren Energien so stark ausgebaut sind, dass die Strompreise von alleine sinken. Kostenpunkt: rund 25 bis 30 Milliarden Euro.

Wenig Gegenliebe für Habecks Konzept

Die Pläne des Grünen-Politikers wurden jedoch scharf kritisiert, weil nur rund 2500 besonders energieintensive Unternehmen von den günstigen Preisen profitieren sollten. Der Mittelstand, viele Handwerker und kleinere Firmen würden leer ausgehen. Außerdem bestehe die Gefahr, eine Industrie staatlich zu unterstützen, die gar nicht zukunftsfähig wäre. Die „Wirtschaftsweise“ Monika Schnitzer sagte, das drohe den dringend nötigen Strukturwandel zu bremsen.

Ähnlich äußerten sich auch andere Ökonomen, die etwa bezweifelten, dass Strom auch mit einem erheblichen Ausbau Erneuerbarer Energien je wirklich günstig wird.

Bundeskanzler Olaf Scholz gab zu bedenken, der Ausbau von Wind- und Solarenergie dürfe nicht ins Stocken geraten. Außerdem gehe es um Unternehmen, die viel Gewinn machten. Finanzminister Christian Lindner (FDP) betonte: „Es steht keine Finanzierung in der Größenordnung zur Verfügung.“ Er brachte die Reduzierung der Stromsteuer ins Gespräch - und zwar für alle „von der Bafög-Empfängerin bis zum Rentner, vom Handwerksbetrieb bis zum produzierenden Gewerbe“. (dpa/tip)

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