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Das ist der Straßenköter unter den Theatern

Die Intendanten Thomas Collien (links) und Ulrich Waller im St. Pauli Theater , mit 175 Jahren eines der ältesten Theater in Deutschland. Foto Wendt/dpa

Die Intendanten Thomas Collien (links) und Ulrich Waller im St. Pauli Theater , mit 175 Jahren eines der ältesten Theater in Deutschland. Foto Wendt/dpa

Am 30. Mai 1841 hob sich der erste Vorhang im Urania-Theater an der Reeperbahn. Als St. Pauli Theater feiert Hamburgs älteste Privatbühne jetzt 175. Geburtstag. Seit 2003 führen Ulrich Waller und Thomas Collien das Haus gemeinsam.

Freitag, 27.05.2016, 19:54 Uhr

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Herr Waller, Herr Collien, Ihr St. Pauli Theater wird 175 Jahre alt. Was macht Hamburgs ältestes Theater aus?
Waller:
Das Theater stand öfter am Abgrund, es ist mehrfach pleite gegangen, hat mehrfach den Namen gewechselt und alles Mögliche ausprobiert. Es ist so etwas wie der Straßenköter unter den Theatern.

Ist die Geschichte Lust oder Last?
Collien:
Auf jeden Fall mehr Lust. Es ist aber auch eine finanzielle Last, das nicht ganz einfache Gebäude mit 175 Jahren auf dem Buckel in einem bespielbaren Zustand zu halten.

Wem gehört die Immobilie?
Collien:
Die habe ich vor acht Jahren von der Stadt gekauft. Wir haben seither mehrere Millionen Euro in den Erhalt investiert.

Und jetzt steht die nächste Sanierung an...?
Collien:
Richtig. Wir sanieren in der Sommerpause den Zuschauerraum, Bühne, Hinterbühne und Treppenhäuser.

Was kostet das, und wer zahlt?
Collien:
Rund 1,8 Millionen Euro. 300 000 Euro gibt die Stadt, 650 000 der Bund.

Geht der besondere Charme bei der Modernisierung verloren?
Collien:
Auf keinen Fall. Es geht nur um Sanierung und technische Ergänzungen, etwa Notbeleuchtung und feuerpolizeiliche Einbauten. Nichts Historisches wird zerstört. Das ginge auch gar nicht, weil das gesamte Haus unter Denkmalschutz steht.

Was ist im Spielbetrieb die größte Herausforderung mit dem Gebäude?
Waller:
Die Bühne ist so klein, dass man nicht von allen Plätzen aus sehen kann, was an den Rändern passiert. Aber man hat durch die Enge auch das Gefühl wie im Stadion des FC St. Pauli. Man kann den Schauspielerinnen unter die Röcke schauen und den Jungs in die Büx. Das lieben auch die Schauspieler.

Inwiefern ist die lange Geschichte als ein Volkstheater der kleinen Leute für Sie Verpflichtung?
Waller:
Es ist unser Konzept, hier modernes Volkstheater zu machen. Die Mischung unseres Spielplans bezieht sich auf viele Wurzeln des Hauses.

Als da wären?
Waller:
Es stehen immer wieder Hamburger Themen im Fokus, etwa die Trilogie mit Stücken von Franz Wittenbrink zum Kiez. Wir haben zwei Hamburg-Musicals gemacht, dazu den „Lord von Barmbeck“ oder auch Stücke, die einfach gut auf den Kiez passen, wie die „Dreigroschenoper“.
Collien: Die Verantwortung aus unserer Geschichte ist, dass wir es in den vergangenen 13 Jahren geschafft haben, das Haus auch finanziell so aufzustellen, dass es wieder ein produzierendes Theater geworden ist.

Wie steht das Haus wirtschaftlich da?
Collien:
Wir machen kein Hehl draus: Es war seit 1841 ein Kampf, hier zu überleben, und so ist es noch heute. Es ist finanziell schwierig.

Warum?
Collien
: Das liegt vor allem an der geringen Größe und am fehlenden Platz für räumliche Erweiterungen. Wir haben nicht einmal ein Foyer. Nicht ganz einfach ist auch die Konkurrenz staatlicher Häuser und anderer Privattheater in Hamburg.

Gibt’s Geld von der Stadt?
Collien:
Seit einigen Jahren erhalten wir eine Förderung der Stadt in Höhe von 470 000 Euro pro Jahr.

Reicht das?
Collien:
Damit kommen wir hinten und vorne nicht zurecht. Wir versuchen gerade, eine Erhöhung der Fördersumme zu erreichen, damit es zumindest für Lohnerhöhungen der Mitarbeiter reicht.

Wer gleicht in schlechten Jahren das Defizit aus?
Collien:
Das machen Uli Waller und ich sowie ein super organisierter Förderkreis. Das reicht dann meistens für eine schwarze Null. Aber es ist ein Kraftakt.

Was treibt Sie an, mit privatem Geld Löcher zu stopfen?
Collien:
Die Verliebtheit in dieses Haus.

Wie verliebt ist das Publikum in das Theater?
Waller:
Wir haben keine Abonnenten. Deshalb muss sich jede Aufführung ihr Publikum neu suchen. In dieser Spielzeit merken wir, dass die Menschen nach der Flüchtlingswelle extrem verunsichert waren, was sich im Besucherverhalten niedergeschlagen hat. Das beruhigt sich aber gerade wieder.

Dennoch: Das St. Pauli Theater lebt. Was ist das Erfolgsrezept?
Collien:
Man braucht einen robusten Spielplan, ohne Schwellenangst, mit Stücken, in denen auch mal was ausprobiert wird.

Welche Art Stücke laufen besonders gut?
Waller:
Viel hängt von den Schauspielernamen ab. Wenn wir ein Stück mit Herbert Knaup machen, dann wissen wir, den wollen die Leute sehen. Das gilt auch für Hannelore Hoger, Volker Lechtenbrink und andere.
Collien: Verkaufsschlager sind auch die Stücke von Yasmina Reza und Florian Zeller. Das ist sehr clever gemachte Unterhaltung mit einem gewissen Anspruch, den es so im Boulevard nicht gibt.

Welches Stück war das best besuchte in der Ära Waller/Collien seit 2003?
Collien:
Die „Dreigroschenoper“. Das haben wir von 2004 bis 2006 mehr als 100 Mal gespielt. In der Besetzung mit Ulrich Tukur, Christian Redl, Eva Mattes und anderen. Das war ein echtes Allstar-Team.

Was kommt dem nahe?
Waller:
Die Reza-Stücke „Gott des Gemetzels“ und „Kunst“ sind fast immer voll. Auch das Hamburg-Musical „Linie S1“ ist 120 Mal gelaufen.
Collien: Und die Wittenbrink-Abende mit Kiezbezug waren alle sehr erfolgreich. „Nachttankstelle“ spielen wir seit mehr als acht Jahren.

Wollen Sie an der programmatischen Ausrichtung etwas ändern?
Collien:
Wir müssen gucken, dass wir etwas fürs jüngere Publikum entwickeln. Auch Gentrifizierung und Migration werden im Programm auftauchen.

Das heißt konkret?
Waller:
Wir haben in der kommenden Spielzeit drei Stücke im Programm, die die Themen Migration und Integration auf sehr humorvolle Weise mit neuen Erzählformen behandeln. Wir wollen raus aus den verbitterten Debatten und das viel diskutierte Thema wieder etwas entspannter betrachten. Den Auftakt macht Mitte September ein Liederabend von Wittenbrink mit dem Titel: „Willkommen, ein deutscher Abend“. Es geht um die Frage, was wir Deutschen den Flüchtlingen eigentlich vermitteln wollen.

Welches sind die anderen Migrationsstücke?
Waller:
Wir zeigen eine Theaterfassung des Films „Monsieur Claude und seine Töchter“, in dem ein Mann seine vier Töchter verheiratet – und alle Männer stammen aus anderen Kulturen. Das ist extrem komisch. Und wir zeigen das Stück „Amara Terra mia“. Darin geht es um die ersten Migranten, die nach Deutschland gekommen sind, nämlich die Italiener. Wir fragen: Wie hat eigentlich die Integration von denen geklappt oder eben nicht geklappt?

Auf welches Kiezstück können sich die Hamburger freuen?
Waller:
Am Ende der nächsten Spielzeit machen wir einen Klassiker: „Große Freiheit Nr. 7“ mit Volker Lechtenbrink als Barkassenkapitän Kröger.

Bitte eine Anekdote aus 175 Jahren...
Collien:
Es gibt eine wunderbare Geschichte aus der Zeit, als Henry Vahl hier „Meister Annecker“ gespielt hat. Er hatte Probleme, sich Text zu merken, deshalb wurde ihm über einen Ohrhörer souffliert. Plötzlich hatte Henry Vahl wegen einer Funkstörung die Frequenz der Davidwache im Ohr. Mitten im Stück hat er dann völlig zusammenhanglos zum Publikum gesagt: „Peter 13, bitte kommen.“

Herr Collien, Herr Waller, bitte vervollständigen Sie folgende Satzanfänge: An den Hamburgern mag ich besonders...
Waller:
...ihre Direktheit und Neugier.

An den Hamburgern mag ich gar nicht...
Waller:
…, dass sie immer alle nach Sylt fahren. Ich bin kein Hamburger, deshalb darf ich das sagen.
Collien: Ich verrate doch nicht meine eigene Zunft. Ich bin gebürtiger Hamburger.

Die Davidwache als Nachbarn zu haben, bedeutet für mich...
Collien:
…das sicherste Theater der Welt zu sein.
Waller: Übrigens: Als die Isolierung noch nicht so gut war, haben wir im Theater manchmal die Gefangenen in der Zelle randalieren hören.

St. Pauli ist für mich …
Waller:
… inzwischen ein Stück Heimat.
Collien: … die Hauptschlagader von Hamburg.

Mit Udo Lindenberg verbindet mich…
Waller:
… eine Komplizenschaft.

Das St. Pauli Theater feiert in diesen Tagen seinen 175. Geburtstag. Schon einmal hatte das älteste Privattheater Deutschlands zur Feier des hundertjährigen Bestehens im Jahr 1941 geladen. Damals erschien auch eine Festschrift (mit Grußworten von Emmy Göring und Heinrich George), die bis heute einen maßgeblichen Anteil an der Geschichte des Hauses hat. Denn zwar war das Theater 1941 in der Hand von Anna Simon, Frau des verstorbenen Siegfried Simon, des ehemaligen Chefs des Flora-Theaters am Schulterblatt. Doch immer noch trug das Theater den Namen von Ernst Drucker, der das Theater von 1884 bis 1918 erfolgreich führte und etablierte. Doch durch die Festschrift fiel der Nazi-Regierung plötzlich auf, dass der ehemalige Inhaber Ernst Drucker jüdischer Abstammung war. Die Festschrift wurde eingestampft und das Haus noch vor der Feier kurzerhand in „St. Pauli Theater“ umbenannt. Der Name hielt bis heute. Doch vor fünf Jahren bekam das Theater an der legendären Davidwache seinen neuen alten Namen zurück. Seit 2011 ergänzt der Zusatz „ehemals Ernst Drucker Theater“, auch an der Fassade, dass „das Theater weiß, wo es herkommt“, so Kultursenatorin Barbara Kisseler.

„Was 175 Jahre währt, hat mehr auf dem Buckel als jede deutsche Revolution (wenn man den Bauernkrieg einmal außen vor lässt). Und darum wird die alte Tante Urania-Theater/Actien-Theater/Ernst-Drucker-Theater und schließlich St. Pauli Theater auch jeder weiteren gesellschaftlichen Umwälzung mit Bravour widerstehen“, so Ulrich Tukur. Der Schauspieler ist dem Haus eng verbunden. Als Bankräuber verkleidet, drohte der Schauspieler einst von vielen Plakaten der Stadt: „Für gutes Theater tun wir alles“.

Seit 2003 führt Thomas Collien zusammen mit Regisseur Ulrich Waller das Theater. Waller, der zusammen mit dem Schauspieler Ulrich Tukur acht Jahre lang erfolgreich die Kammerspiele geführt hat, wechselte zu Thomas Collien an den Spielbudenplatz. 1970 hatte die Familie Collien das Haus übernommen. Freddy Quinns Musical „Der Junge von St. Pauli“ wurde uraufgeführt und auch die „Zitronenjette“ weitergespielt. Unter den Nachfolgern Michael und Thomas Collien wandte sich das Theater von den niederdeutschen Stücken ab und mehr der Comedy und internationalen Tanz- und Musikshows zu. Heute bezeichnen sie es als ein modernes Volkstheater.

Das St. Pauli Theater ist nicht nur das älteste Privattheater der Stadt, sondern eines der ältesten Theater Deutschlands überhaupt. Das unter Denkmalschutz stehende Haus und der ebenfalls geschützte Zuschauerraum zeichnen sich durch seine besonders intime Atmosphäre aus. Die Liste der renommierten Eigen- und Co-Produktionen, sowie ausgesuchter Gastspiele, ist lang. Klassische und neue Stücken aus dem Repertoire des anspruchsvollen Unterhaltungstheaters gehören ebenso dazu, wie Musiktheaterproduktionen, die Texte und Stoffe auf die Bühne bringen, die auch die deutschen Wurzeln dieses Genres verfolgen. Im Fokus liegen auch Hamburg-Produktionen. Das Haus zeigt zudem ausgesuchte internationale Musiktheater- und Theatergastspiele.

Das Haus schmückt sich mit den besten Schauspielern, und das obwohl diese sich heute oft nicht mehr fest an ein Theater binden. Es fallen die Namen von Ulrich Tukur, Gustav Peter Wöhler oder Stefan Gwildis in einem Atemzug mit dem Haus. „Nachdem ich seit 1998 wieder regelmäßig in Deutschland auftrete, ist das St. Pauli Theater wie eine Heimat für mich geworden“, erzählt die israelische Schauspielerin und Sängerin Esther Ofarim. Mindestens einmal im Jahr gibt sie hier ein Konzert. „Ich habe schon in vielen Häusern gesungen, aber es gibt kaum ein Theater mit einer solchen Atmosphäre, in dem man so eins wird mit dem Publikum.“

Das St. Pauli-Theater ist wie durch ein Wunder im Zweiten Weltkrieg von Bränden und Bomben verschont geblieben. Nach der aktuellen Spielzeit schließt das Haus erstmals für drei Monate für umfangreiche Sanierungsarbeiten. Es ist an der Zeit. Im Herbst soll es dann auch mit dem gewohnten Repertoire weitergehen. Wenn es nach Gustav Peter Wöhler geht in neuem alten Design: „das schönste Theater Hamburgs“ wie vor 175 Jahren: „ohne Stühle, nur Stehplätze und Biertische und Bänke“.

 

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