Der Landkreis Stade greift zum Pfefferspray

Pfefferspray. Foto Roessler/dpa
Die Flüchtlingsströme werden Deutschland verändern. Beleg dafür, dass der Wandel vielen Angst bereitet, ist der Absatz bei allem, das der Selbstverteidigung dienlich sein kann: Pfeffersprays, CS-Gas, Schreckschusspistolen. Auch im Landkreis Stade.
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Der Verkauf von Pfeffersprays ist in Deutschland seit dem Herbst um 600 Prozent gestiegen. In Hamburg ist das Reizgas vielerorts vergriffen. Hersteller kommen kaum noch mit der Produktion hinterher. Und auch in Stade sind die Mittel zur Selbstverteidigung gefragt wie nie. Einer, der das bestätigen kann, ist Helmut Kremser. „Wir beobachten einen erheblichen Zuwachs bei den legalen Abwehrmitteln – allen voran bei Frauen“, sagt der Waffenhändler aus Stade. Aber warum Pfefferspray – von Gesetzes wegen nur für die Tierabwehr zugelassen? Kremser: „Man sagt, das legale, aber schwächere CS-Gas wirkt nicht bei Betrunkenen. Schlagstöcke sind verboten, große Messer ebenfalls. Und Schreckschusspistolen eignen sich so gut wie gar nicht für die Selbstverteidigung.“
Nach dem Nationalen Waffenregister besaßen im November 275 000 Menschen einen Kleinen Waffenschein. Er berechtigt dazu, Schreckschuss-, Signal- oder Reizwaffen außerhalb des „befriedeten Umfelds“ zu tragen, sprich der Wohnung oder dem Grundstück. Volljährige ohne Vorstrafen und Drogen- oder Alkoholsucht können den „kleinen Bruder“ der Waffenbesitzkarte beantragen. Im internationalen Vergleich ist diese Zahl klein. Es ist ein anderer Faktor, der Fachleuten Magengrummeln bereitet: die hohe Zahl an Neuanträgen.
Der Landkreis Stade stellt als eine von vier Waffenbehörden in der Region in der Regel 25 Kleine Waffenscheine jährlich aus. Allein im Januar 2016 waren es schon sieben. Weitere 15 Anträge warten auf die Bearbeitung. „Sofern sich diese Entwicklung fortsetzt, wird die Zahl im Vergleich zu den Vorjahren erheblich steigen“, prophezeit der Landkreis-Sprecher Christian Schmidt.
Anders in der Samtgemeinde Harsefeld und in der Hansestadt Stade: „Ich kann keine Veränderungen feststellen“, sagt Meike Windfuhr, zuständig für Waffenangelegenheiten in Harsefeld. Windfuhr: „Es scheint eher ein städtisches Problem zu sein.“ Im Dezember habe es vier neue Anträge gegeben, seit dem Jahreswechsel dagegen nur einen. „Aus unserer Sicht sind aus den neuesten Zahlen keine besonderen Entwicklungen ersichtlich“, sagt Gerd Beckmann, Ordnungsamtsleiter bei der Hansestadt Stade. Es handele sich vermutlich um „Schwankungen im normalem Rahmen“, so Beckmann.
Sein Pendant in Buxtehude, Dorren Eichhorn, bekräftigt den Bundestrend: „Es beantragen immer mehr den Kleinen Waffenschein.“ Aktuell gingen in einer Woche so viele Anträge ein wie üblicherweise im ganzen Monat. Unter den Antragstellern seien auffällig viele Frauen. 2015 wurden 21 Waffenscheine durch die Kommune erteilt. Allein in den ersten Wochen in 2016 habe Eichhorn bereits zehn Anträge erhalten.
Laut Polizei steigt die Zahl auch in Hamburg seit November 2015 eklatant; nochmals stärker seit dem Jahreswechsel. Noch drastischer: Die Anfragen in der Stadt Pinneberg nördlich von Hamburg stehen bereits nach vier Wochen auf dem Niveau des gesamten Vorjahres.
Bei den „richtigen“ Waffen wird es einen solchen Boom jedenfalls nicht kurzfristig geben können. Denn: Käufer müssen immer ein sogenanntes Bedürfnis nachweisen. Nur wenige Personengruppen wie Jäger und Sportschützen können überhaupt bedürftig sein. Jäger müssen eine streng kontrollierte Ausbildung durchlaufen, Schützen ihre langjährige Erfahrung in Büchern dokumentieren.
Experten sehen zwei zentrale Gründe für den Zuwachs bei den frei verkäuflichen Abwehrmitteln. Erstens: die Flüchtlingsproblematik. Und damit verbunden eine „diffuse Angst vor dem Fremden“, wie auch Ex-Bischöfin Margot Käßmann festhielt. Durch die Vorfälle der Silvesternacht, bei denen mutmaßlich Flüchtlinge Frauen in deutschen Großstädten sexuell belästigt haben, hat diese Angst an Nährboden gewonnen.
Wie Kremser berichtet, gäben Käufer von Pfeffersprays oft an, dass sie sich im Zuge dieser Übergriffe bewaffneten. Das Interesse an Mitteln zur Selbstverteidigung ist für deren Verkäufer nicht nur ein Segen: Sie sind seit Herbst zu Profiteuren einer kaum greifbaren Angst vor dem Namenlosen geworden. „Den Zusammenhang zwischen den Verkaufszahlen und der Flüchtlingsfrage möchte ich lieber nicht analysieren“, sagt der Waffenexperte aus Stade.
Der zweite Grund für die Bewaffnung ist die steigende Zahl an Einbrüchen. Von 2013 (260 Fälle) auf 2014 (366 Fälle) gab es allein im Landkreis Stade etwa 100 Einbrüche mehr, wie die Kriminalitätsstatistik zeigt. Vorläufige Zahlen für 2015 deuten nicht auf Besserung hin. Auch in Hamburg hat es im vorigen Jahr fast 9000 Einbrüche gegeben: ein Plus von 17 Prozent. „Es mag sein, dass das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen abnimmt“, sagt Svenja Wigger, Beauftragte für Kriminalprävention bei der Polizeiinspektion Stade. Und: „Mit jedem Einbruch sinkt das Sicherheitsgefühl weiter.“ Allem Anschein nach klafft eine Lücke zwischen der Angst der Menschen und den von der Polizei registrierten Delikten. Subjektives Sicherheitsempfinden – objektive Gefährdung: Wer soll da den Durchblick behalten? „Einige Leute haben das Reizgas gegen Einbrecher griffbereit auf dem Nachttisch stehen“, sagt der Polizei-Sprecher Rainer Bohmbach.
Heiko Gerken, Chef vom Buxtehuder Sicherheitsdienst (BSD), rät davon ab, Mittel wie Pfefferspray mitzuführen. Zu groß sei das Risiko, im Notfall durch ungeübte und vermutlich panische Verwendung noch größeren Schaden anzurichten. Bei Fehlgebrauch bekomme der Anwender das brennende Mittel schnell selbst in die Augen – vor allem in geschlossenen Räumen. Gerkens Tipp für mehr Sicherheit: Insbesondere Frauen sollten abends, zum Beispiel auf dem Weg nach Hamburg, möglichst immer in Gruppen unterwegs sein.
Auch die Polizei steht der momentanen Aufrüstung äußerst skeptisch gegenüber. Es bestehe die Gefahr von Fehleinschätzungen in der Notwehr. Manche Situation, in der sich Personen in Bedrängnis glaubten, stelle sich später als harmlos heraus.
Insgesamt sei der Polizei im Landkreis wenig über den Missbrauch von Abwehrmitteln bekannt: „Ein Problem ist das bei uns eigentlich nicht“, sagt Bohmbach, gibt aber zu bedenken, dass deren Einsatz schlecht statistisch auszuwerten und die Dunkelziffer womöglich größer sei. Eine Häufung im Zuge steigender Absatzzahlen sei nicht festzuhalten. Bohmbach: „Die Leute kaufen diese Dinge doch nicht, um sie wirklich einzusetzen.“
Spätestens seit Silvester gibt es bei den Selbstverteidigungskursen einen regelrechten Ansturm. Auch im Landkreis Stade: Jan Springer gibt in seiner Sportschule in Stade-Ottenbeck immer sonntags Abwehrschulungen speziell für Frauen. An seinem Klientel habe sich grundsätzlich nichts geändert. Das zierliche Mädchen sei genauso dabei wie die Familienmutter und die breit gebaute Rentnerin. Aber: „Wir sind ganz klar Profiteure der sexuellen Übergriffe. Das Geschäft boomt derzeit richtig“, sagt der vielfache Kampfsportmeister.
Bis zu 30 Frauen nähmen an den Sitzungen teil, in denen unter anderem das richtige Verhalten in Eins-zu-Eins-Situationen geschult wird. Es klingt fast schon banal: Auch in Gefahrsituationen laut zu schreien und enthemmt zuzuschlagen, soll gelernt sein. Schwerpunktmäßig gehe es jedoch um psychologische Ratschläge und Deeskalation als das erste Mittel zur Selbstverteidigung. Jan Springer: „Jedem muss klar sein, dass ein solcher Kursus nur bedingt Schutz bieten kann.“


»Wir beobachten seit Monaten einen erheblichen Zuwachs bei legalen Abwehrmitteln. « Helmut Kremser, Waffenhändler- und Lobbyist aus Stade.

»Die Leute kaufen diese Dinge wie Pfefferspray doch nicht, um sie wirklich einzusetzen.« Rainer Bohmbach, Polizei-Sprecher im Landkreis Stade.