Der mit den Robben spricht

Rolf Blädel geht auf Helgoland in seine 30. Robbensaison. Jedes Jahr zählt er im Winter die Neugeborenen auf der Düne. Foto: Maffiotte
Wie ein Mörder hat sich Rolf Blädel gefühlt. Jeden Tag ist er mit einer Waffe im Holster zur Helgoländer Düne gefahren. Hat das Magazin mehrmals leer geschossen, um die vom Staupe-Virus infizierten Robben von ihrem Leid zu befreien. Als Robbenfreund blutete ihm das Herz.
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Von Lili Maffiotte
Eine Wahl hatt der 66-Jährige nicht: Der Seehundjäger musste und durfte die Tiere töten, um den Bestand langfristig zu retten. Die Staupe ist eine Seuche. Meldepflichtig. Jedes befallene Tier muss verbrannt werden. 1988 gab es viele tote Robben auf der Insel. Damals tauchte der Virus zum ersten Mal auf. Fast 18 000 Tiere starben insgesamt an der Krankheit. Heute sieht das auf der Insel ganz anders aus: Der Robbenbestand hat sich erholt, auch in diesem Winter feiert Helgoland sogar wieder einen Geburten-Rekord.
Es war die Seuche, die Blädel damals zum Seehundjäger gemacht hat. Denn die Verzweiflung auf der Insel war groß, als die ersten toten Tiere an den Strand gespült worden sind. „Ich habe sie eingesammelt.“ Für jedes tote Tier, so zuvor die Abmachung mit dem Bürgermeister, sollte er eine Flasche Schnaps bekommen. Keiner ahnte, wie viele es letztendlich werden sollten. „Ich habe 75 tote Robben gefunden“, erzählt Blädel.
Doch Schnaps wollte er nicht. „Ich wollte die amtliche Bestellung zum Seehundjäger“, hat er dem Bürgermeister gesagt. Und der besorgte ihm den Bundesjagdschein vom Umweltministerium. „Die Staupe“, sagt er, „ist die fürchterlichste Art zu verrecken“. Allein 2002 sind auf Helgoland 475 Robben gestorben. Insgesamt waren es etwa 21 700 Tiere an der Nord- und Ostsee zwischen Dänemark, Deutschland und den Niederlanden. Fast die Hälfte der gesamten Population.
Mit einem Geburtsgewicht von 12 bis 15 Kilogramm kommen die Kegelrobben zur Welt. Foto: Jensen/dpa
Den Job als Seehundjäger teilt er sich mit dem Dünenchef, der an Ort und Stelle nach den Tieren schaut. Dass sich der Bestand nach der letzten Seuche 2012 so gut erholt hat, lässt seine Augen strahlen. „Ich werde oft als Robbenpapa bezeichnet. Ich sehe mich eher als Robbenfreund“, sagt er. Und lacht. Das macht er nicht oft. „Als Polizist darf ich nicht freundlich schauen“‘, sagt er – und das natürlich freundlich, „sonst hätte ich mir einen anderen Job suchen müssen.“
Auch als Rentner hat er sich seinen undurchschaubaren Blick bewahrt. Der wirkt ein wenig grummelig. Ohne Emotion – er hat das perfekte Pokerface. Dass er kein „richtiger“ Helgoländer ist, stört ihn weniger als die Insulaner selbst. Als Wasserschutzpolizist trat er vor 39 Jahren seinen Dienst an. „Ich bin seit dem 11. Juni 1979 auf Helgoland. Um 10.30 Uhr bin ich hier angekommen und habe noch keinen einzigen Tag bereut.“ In Husum ist er geboren, in Friedrichstadt aufgewachsen. „Ich war bei der Schutzpolizei, wollte aber unbedingt auf eine Nordfriesische Insel.“ Welche, war ihm egal. Heute, sagt er, möchte er nie wieder weg. „Ich hab hier doch alles.“ Nur keine Badehose. Er war auf Helgoland noch nie schwimmen.
Heute läuft er mit türkisfarbenen Gehhilfen, Rucksack und seiner tief ins Gesicht gezogenen Elbseglermütze durch den Dünensand. Das abgebrochene Stück der Hochseeinsel mitten in der Nordsee ist wie sein zweites Zuhause. Der Ort, wo er immer wieder „viele alte Bekannte trifft“. Als Robbenfreund mag er alle Tiere, aber die Kegelrobben sind ihm noch ein bisschen lieber. „Sie sind ganz einfach wunderschön mit ihrem dunkelrot-braun leuchtenden Fell.“
Dass der Bestand seit Jahren auf Helgoland konstant ist, freut ihn. Die Zahl der Geburten steigt sogar stetig. Rekorde werden immer wieder eingestellt. Auch in dieser Wintersaison: Bis zum 15. Januar zählte Blädel 426 Robbenbabys. Im vergangenen Winter waren es 317 Geburten. Der Seehundexperte lacht: „Na ja, kein Wunder. Die Weibchen kommen aus der ganzen Nord- und Ostsee immer wieder auf die Düne zurück. Schließlich haben wir hier die besten Bullen.“
Und so hat er immer viel zu tun, wenn die Heuler zwischen November und Februar auf der Düne zur Welt kommen. Denn die Neugeborenen werden täglich gezählt. „Man erkennt sie an der Fellfärbung.“ Die Babys haben in den ersten zwei bis drei Tagen noch einen grün-gelben Schimmer im weißen Fell. Der stammt vom Fruchtwasser. Daran erkenne man die Babys.
Und wieder ein Rekord: Auf Helgoland sind in diesem Winter 426 Kegelrobben geboren worden. Foto RBL
„Die wenigsten werden von der Mutter verlassen“, sagt Blädel. Die geht nur ins Wasser, um sich abzukühlen. Nach gut drei Wochen sind die Kleinen dann auf sich gestellt. Bis dahin haben sie die Muttermilch mit einem Fettanteil von 50 Prozent bekommen. Nehmen gut ein bis eineinhalb Kilo täglich zu. Nach drei Wochen sind sie wahre Speckpakete.
Im Ernstfall klingelt beim früheren Inselpolizisten das Handy. Dann schnappt er sich das Rad und schaut nach dem Rechten. Wurde ein Heuler von der Mutter getrennt, springt Blädel als Seehundpapa in die Bresche und kümmert sich um den Transport aufs Festland. „Sie kommen nach Friedrichskoog in die Aufzuchtstation.“ Entweder mit dem Flieger oder per Schiff. „Wenn das nicht auf Anhieb klappt, dann kommen die Kleinen für eine Nacht in den Kriegsbunker unter der Insel, dort ist es schön kühl.“ Hört sich fies an, ist es aber nicht. „Wir haben noch nie ein Baby verloren.“
Der Seehundjäger hat Respekt vor den Tieren. Aber keine Angst. Dafür aber ein Geheimrezept – er spricht mit den Robben: „Ich spiele Weihnachtsmann.“ Muss er mal näher ran, dann beruhigt er sie mit einem sonoren „Hohoho“. Hat bisher immer geklappt. Reicht das nicht, dann setzt er seine Ansprache fort. Und die Robben scheinen zu verstehen, dass er ihnen nur Gutes will.
Deshalb führt er auch noch immer Touristen über die Düne, auf der er bis heute täglich ist. Mittlerweile gibt es einen Steg mit zwei Aussichtsplattformen. Zum Schutz der Robben. Und der Dünenbesucher. 30 Meter Abstand empfiehlt er. Ein Seehundbulle bringt gut 300 Kilo auf die Waage. Kein Grund, beruhigt zu sein. So ein Bulle bringt es auf Geschwindigkeiten bis zu 20 Kilometern in der Stunde.
„Robben“, sagt er, „sind nicht aggressiv. Die Mütter verteidigen nur ihre Jungen.“ Und das mit 34 guten Argumenten: So viele kegelförmige Zähne haben ausgewachsene Robben, was ihnen auch den Namen eingebracht hat – und nicht ihre Kopfform. Doch die Sache mit dem Steg hat Tücken: Die Robben wissen auch, was gut ist. „Holz ist wärmer als nasser Sand.“ Und sollte sich ein Tier zum Ausruhen dort hinlegen, dann ist der Weg dicht. „So viel zu dieser Idee.“ Robben ruhen sich auch mal auf der Landebahn des Dünen-Flughafens aus: „In so einem Fall müssen die Piloten halt die zweite Piste ansteuern.“
Sein Wissen über Robben gibt Blädel gern weiter. „Ich bleibe nicht gern eine Antwort schuldig.“ Viel nachlesen muss er nicht: Kein Wunder, er geht in seine 30. Robbensaison. Gleichwohl vermenschlicht er die Tiere nicht, auch wenn er mit ihnen spricht. Er gibt ihnen keine Namen, obwohl er viele Robben wiedererkennt. Der Spagat zwischen Sachlichkeit und Liebe hält sich bei ihm die Waage. Seine Faszination für die Kegelrobben ist aber zweifelsohne da. Auch wenn sie nicht in seinem Gesicht abzulesen ist. Aber man kann sie hören. Erzählt er von seinen schönsten Momenten, wird seine Stimme warm.
Sein schönstes Erlebnis? Die Begegnung mit einem Kegelrobbenweibchen. Sie robbte die Düne runter. Direkt auf ihn zu. „Das allein war außergewöhnlich.“ Das Tier legte den Kopf auf seine Schuhe. „Da habe ich erst gesehen, dass sie sich in einem Plastikgurt verfangen hatte.“ Er zog sein Messer und schnitt sie frei. „Dann hat sie zu mir hochgesehen. Als wollte sie Danke sagen.“ Seine Begeisterung für diesen besonderen Moment zeigt er wieder nicht. Dafür verändert sich noch einmal seine Stimme. Sie wird fast liebevoll.