Eine Jugend in Neu Wulmstorf zur Kriegszeit

Heinz Schmidt berichtet Reporterin Franziska Felsch bei TAGEBLATT-on-Tour von seinen Erinnerungen an seine Jugend zur Kriegszeit in Neu Wulmstorf. Er hat sie in einem kleinen Heft aufgeschrieben. Michaelis
Heinz Schmidt ließ es sich nicht nehmen, trotz Schietwetters den TAGEBLATT-on-tour-Stand zu besuchen.
Premium-Zugriff auf tageblatt.de für nur 0,99 €
Jetzt sichern!
Der gebürtige Neu Wulmstorfer wollte nicht etwa Kritik loswerden, im Gegenteil, das TAGEBLATT-Team bekam etwas geschenkt: Ein kleines Heft mit dem Titel „Kindheit & Jugend in Neu Wulmstorf.“ Der 85-Jährige hat darin auf gut 30 Seiten seine Erinnerungen aufgeschrieben, von seiner Geburt 1930 bis zum Kriegsausbruch 1945.
Vor zwei Jahren keimte in ihm die Idee, über die Vorkriegs- und Kriegszeit zu berichten. In Vosshusen, dem alten Neu Wulmstorf, geboren, geht der Hobbychronist auf die Besiedlungsgeschichte des damals winzig kleinen Ortes ein, aus dem auch sein Vater und seine Großeltern stammen. Ein Großvater fuhr zur See, die Oma müttlicherseits verdiente ihr Geld als Schneiderin, aber offenbar so wenig, dass sie ihre drei Kinder in ein Waisenhaus geben musste, als ihr Mann auf See blieb. Die Großeltern väterlicherseits hatten eine Hofstelle, der Vater diente im Ersten Weltkrieg als Soldat und später zurück in der Heimat bei der Deutschen Reichsbahn als Gleisbauarbeiter. Hauptsächlich ranken sich seine Jugenderinnerungen um einen strengen Vater und eine gütige Mutter. Als Sohn eines Eisenbahners blieb wenig Zeit zum Spielen, nach den Schularbeiten warteten Pflichten in Haus und Hof.
Heinz Schmidt wuchs wie viele andere damals auch, in äußerst bescheidenen Verhältnissen auf. Er erzählt von „Beamtenkühen“ – wie die drei Ziegen der Familie genannt wurden, vom Kühehüten im Moor und den „Kartoffelferien“, als alle bei der Knollenernte mithalfen. Seine Gedanken zu Einkommen und Wertschöpfung lesen sich wie folgt: „Kaum jemand im Ort verdiente durch Lohn und Gehalt mehr als 150 Reichsmark im Monat.
Ein halbes Pfund Butter kostete 1,80 Reichsmark, ein Ei 5 Pfennig, eine Flasche Brause 20 Pfennig und gehörte ebenso wie Brötchen vom Bäcker zu den Luxusartikeln. Nach heutigen Bewertungsmaßstäben wären nahezu alle Familien potenzielle Sozialhilfeempfänger, denn es galt viele Münder zu stopfen. Kindergeld gab es nicht, nur die Reichsbahn zahlte 8 Reichsmark pro Kind im Monat.“ Das Schulgeld für den Besuch des Stader Gymnasiums betrug damals 18 Reichsmark im Monat.
In der Niederschrift spart der Verfasser die nationalsozialistische Zeit nicht aus. Die NSDAP hatte um die 20 Mitglieder, sein Vater, seit 1937 Parteigenosse, hatte das Amt eines Blockwarts inne, obwohl das eher ein Titel als eine politische Funktion war, wie der Verfasser bemerkt, der wie die Jungs aus seinem Dorf zur „Führerschaft des Fähnleins Elstorf“ gehörte.
Selbstkritisch bekennt er, dass Neu Wulmstorf „sehr wohl in das nationalsozialistische Machtgefüge“ eingebunden war, eine Opposition war nicht erkennbar, allerdings hätte die Nazi-Akzeptanz mit den militärischen Niederlagen ab 1943 merklich abgenommen. Dramatisch sollen die Verluste ab 1942 gewesen sein: Jeder dritte, zumindest jeder zweite aus dem Dorf eingezogene Soldat kehrte nicht mehr zurück. Auch aus der eigenen Familie fielen drei Vettern.
Der ehemalige Beamte im Bundesgrenzschutz und spätere Oberregierungsrat erinnert sich trotzdem gern an seine Schulzeit, weniger gern an die Kriegs- und Nachkriegsjahre, an die Flüchtlingstrecks, die Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge, die an seinem Elternhaus vorbeizogen. Dennoch, mit heute verglichen, gefiel ihm das damalige Neu Wulmstorf besser. Jeder kannte jeden. In dem etwa 300-Seelen-Dorf verschloss niemand die Türen seines Hauses, das sei nicht nötig gewesen.
Die Gemeinde habe heute zwar durchaus Lebensqualität, strahle aber keine Liebenswürdigkeit mehr aus. Das Notwendige sei vorhanden, Ärzte, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Arbeit, Vereine, Parteien, doch dem Diplom-Volkswirt, der mit einer geborenen Klindworth verheiratet ist und daher dem Vorstand der Klindworth-Stiftung angehört, wünscht sich mehr Engagement für das Gemeinwohl. Der in vielen Ehrenämtern tätige Senior sieht das allerdings nicht allzu pessimistisch, er schaut positiv in die Zukunft seines Heimatortes, dem er mit dieser Niederschrift letztlich auch ein persönliches Denkmal gesetzt hat.