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HSV-Relegations-Krimi: Gerettet, aber schwer gezeichnet

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Am Ende des Abends offenbarte Labbadia das Fazit seiner sieben Wochen in Hamburg: „Abstiegskampf ist Scheiße.“  

Von Wolfgang Stephan Dienstag, 02.06.2015, 17:03 Uhr

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So sehen Sieger normalerweise nicht aus: Eher demütig betrat Bruno Labbadia am Abend seines Triumphes den überfüllten Presseraum in Karlsruhe. Nichts deutete mehr auf den Derwisch hin, der eine Stunde zuvor von niemanden einzufangen war, der einfach nur über den Platz sprintete und völlig losgelöst alle und jeden umarmte, den er greifen konnte. Am Ende des Abends offenbarte Labbadia das Fazit seiner sieben Wochen in Hamburg: „Abstiegskampf ist Scheiße.“

Wer sonst, außer Bruno Labbadia taugt nach diesen nervenaufreibenden Wochen zum Helden? Wobei der Retter am späten Abend geerdet blieb. Doch gleich nach dem Schlusspfiff hatte sich alle Anspannung der letzten Wochen und vor allem der letzten 25 Minuten entladen. Brüllend und mit wedelnden Armen fegte er über den Rasen im Wildpark, nachdem er seinen langjährigen Assistenten Eddy Sözer gebusselt hatte, küsste er René Adler und stürzte sich brüllend auf den Vorstandschef Dietmar Beiersdorfer. Mit Rafael van der Vaart ging er jubelnd zu Boden, danach umarmte er alle die, die er einfangen konnte. „Das war ein richtig geiles Gefühl. Man muss dabei ja auch sagen, dass da sechs, sieben Spieler dabei waren, die gar keinen Vertrag für die neue Saison mehr hatten.“

Solch eine Intensität des Lebens gebe es nur im Fußball, meinte Labbadia: „Das war eine Zeit, die werden wir ewig nicht vergessen.“ Vom Triumpf zu später Stunde war nichts mehr zu spüren. „Ich habe die Mannschaft sechs Spieltage vor Schluss als Tabellenletzter übernommen und ich musste damit rechnen, dass nach zwei Niederlagen schon alles vorbei sein wird“, sagte Labbadia, der am Ende seiner erfolgreichen Mission auch nicht vergaß, „dass wir viel Glück hatten, ohne Glück kann man in so einer Situation nicht bestehen.“ Für das Glück des Bruno Labbadia war an diesem Abend unfreiwillig Manuel Gräfe zuständig. Sein Freistoß-Pfiff in der 90. Minute war eine Fehlentscheidung. Karlsruhes Jonas Meffert war beim Schuss von Slobodan Rajkovic weder aktiv mit der Hand zum Ball gegangen, noch hatte er die Körperfläche vergrößert, als ihm der Ball an den Arm sprang.

Nicht wie erwartet Rafael van der Vaart, sondern Marcelo Diaz nahm Anlauf und zirkelte das Spielgerät in den Winkel. Das Tor hielt den HSV am Leben, dabei hatten selbst die Spieler nicht mehr alle an die Rettung geglaubt: „Ich muss ehrlich gestehen, dass in den letzten Minuten vermehrt negative Gedanken kamen“, gab Torhüter René Adler zu, der seine Top-Leistung ganz am Ende mit dem gehaltenen Elfmeter von Rouwen Hennings krönte.
Dass die Hamburger in der Verlängerung die Führung erzielten, entsprang einer Idee ihres Trainers, der beim Alles-oder-Nichts-Spiel vor dem Ausgleich nicht mit Maxi Beister einen weiteren Stürmer eingewechselt hatte, sondern seinen brasilianischen Innenverteidiger aufs Feld schickte. Als zusätzlichen Stürmer. „Den Plan, ihn zu bringen, wenn wir die Brechstange auspacken müssen, hatten wir in der Woche gefasst“, meinte Labbadia zu seinem Schachzug, der als aufgegangen gewertet werden muss, denn Cléber war maßgeblich an der Ballstafette beteiligt, die schließlich Nicolai Müller in der 115. Minute veredelte.

„Ich habe diese Saison einen brutalen Rucksack herumgeschleppt, der ist innerhalb von Sekunden abgefallen“, bekannte der aus Mainz gekommene Stürmer, der bis dato keinesfalls die Erwartungen erfüllt hatte. Müller: „Ich hoffe, das war jetzt der Startschuss für mich.“ Der Startschuss für die Nacht gaben die HSV-Spieler noch vor dem Stadion im Mannschaftsbus, der kräftig geschunkelt wurde. Gegen halb zwölf ging es mit dem Gefährt und DJ Lewis Holtby nach Mannheim, mit einem kleinen Charterflieger für Mannschaft, Betreuer und Vorstand nach Hannover und tief in der Nacht mit dem Bus nach Hamburg - direkt ins Szenelokal „Zwick“, das eigens für die HSV-Helden noch offen gehalten wurde. Letzte Station war am Morgen „Erikas Eck“ im Schanzenviertel, wo Bruno Labbadia und Dietmar Beiersdorfer zum Absacker auftauchten. Der Vorstandschef hatte noch am Spielfeldrand versprochen: „Das Denkmal für Bruno baue ich mit eigenen Händen.“
Die Fotos der beiden Protagonisten taugen als Stimmungsbericht zur Lage des HSV nach dem Relegations-Krimi: Gerettet, aber schwer gezeichnet.

Ab Mittwoch haben die HSV-Spieler offiziell Urlaub bis zum 29. Juni, danach geht es vom 4. bis 11. Juli in das Trainingslager in Graubünden in der Schweiz. Am 8./9. August wird die erste Pokalrunde gespielt, bevor eine Woche später die Bundesliga wieder startet.

Mit welchem Personal Bruno Labbadia planen will und kann, ist noch völlig offen. Fest steht, dass aus der erfolgreichen Relegationsmannschaft Rafael van der Vaart und Ivo Ilicevic keine neuen Verträge mehr bekommen. Das gilt auch für den verletzten Marcel Jansen. Mit Heiko Westermann, Gojko Kacar und Slobodan Rajkovic soll noch einmal geredet werden, das Ergebnis ist offen. Dass alle drei Vielverdiener bleiben werden, gilt als unwahrscheinlich. Gehen soll auch Valon Behrami, der zwar noch einen Vertrag hat, aber in der Mannschaft umstritten ist.

Zurück kommen die ausgeliehenen Kerem Demirbay (Kaiserslautern) und Jonathan Tah (Düsseldorf). Sie sind erwünscht, im Gegensatz zu den ebenfalls zurückkehrenden Lasse Sobiech (Pauli) und Jacques Zoua (Kayseri Erciyesspor/Türkei), die abgegeben werden sollen. Als weiteren Zugang wird seit Tagen über die Verpflichtung eines Top-Talentes gemunkelt, ein Name ist aber noch nicht bekannt.

Sportchef Peter Knäbel soll den Spieleretat von zuletzt 52 Millionen Euro um zehn Millionen Euro senken.

Rene Adler: Trotz seiner Top-Leistungen am Ende war das eine schlechte Saison für den ehemaligen Nationaltorwart, der von Ex-Trainer Mirko Slomka aussortiert wurde. Tendenz: Adler wird ein Rückhalt.
Jaroslav Drobny: Nach seinem Platzverweis in Hoffenheim kam Adler zurück, danach verletzte sich die bisherige Nummer eins an der Schulter. Wird lange fehlen. Tendenz: Allenfalls die Nummer zwei.
Dennis Diekmeier: Wieder mit einer durchwachsenen Saison. Mit 25 Jahren taugt er nicht mehr als ewiges Talent. Tendenz: Bleibt er verletzungsfrei, ist er als Rechtsverteidiger gesetzt.
Mathias Ostrzolek:  Brauchte lange, um sich als Linksverteidiger zu etablieren. Die Erwartungen hat er keinesfalls erfüllt. Tendenz: Sein Stammplatz wackelt.
Johan Djourou: Der Schweizer ist keinesfalls eine Bank in der Innenverteidigung, mal Welt-, mal Kreisklasse. Tendenz: Muss auch um seinen Stammplatz fürchten.
Slobodan Rajkovic: Bewies am Ende, dass er zu Unrecht aussortiert wurde. Sein Förderer Frank Arnesen will ihn zu Saloniki holen. Tendenz: Angesichts etlicher Alternativen wird er Tschüss sagen.
Cléber: Der Brasilianer hat wie fast alle seine Vorgänger nicht nur mit dem Schnee in Deutschland seine Probleme. Tendenz: Er taugt zum Stammspieler.
Heiko Westermann: Das Herz sagt Ja zu einem neuen Vertrag, den er angesichts seiner Verdienste verdient hätte. Aber angesichts seiner Fehler verdient er ihn nicht. Tendenz: Das Herz wird siegen.
Marcel Jansen: Schade, er hätte sich einen besseren Abgang verdienen sollen. Tendenz: Tschüss.
Valon Behrami: Sollte der „Aggressiv-Leader“ werden, wurde es auch, aber weniger bei den Gegnern als vielmehr bei den Kameraden. Tendenz: Tschüss.
Petr Jiracek: Seine Leistungen spiegeln die Leistungen des Teams wider: Mal so, mal so. Meistens so. Tendenz: Wenn ihn keiner haben will, muss er bleiben.
Gojko Kacar: Sein Name steht für eine verfehlte Personalpolitik der Hamburger in den vergangenen drei Jahren. Aussortiert und abgeschoben und dann der Garant im Abstiegskampf. Tendenz: Hat eine neue Chance mehr als verdient.
Marcelo Diaz: Kam im Winter, wurde gefeiert, dann riss er sich das Innenband. Alleine sein Mut am Montagabend macht Hoffnung. Tendenz: Er wird noch viel Freude machen.
Lewis Holtby: Immer bemüht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Insgesamt enttäuschend. Tendenz: Es wird nicht besser.
Rafael van der Vaart: Er hinterlässt eine große Lücke – aber nur bei der einen Boulevardzeitung. Tendenz: Tschüss.
Nicolai Müller: Kam als angehender Nationalspieler. Nach seinen Leistungen kann er allenfalls für Liechtenstein auflaufen. Tendenz: Ein Siegtor macht noch keinen Frühling.
Ivo Ilicevic: Wäre er immer so viel gelaufen wie in der Relegation, wäre sein Gesamteindruck in vier Jahren mit nur sieben Treffern sehr viel besser. Tendenz: Tschüss.
Ivica Olic: Ist sein Tor im Relegations-Hinspiel seine zwei Millionen Euro Ablöse wert? Bewies in seiner HSV-Rückrunde, dass zum Fußball mehr gehört, als nur immer irgendwohin zu laufen. Tendenz: Wird wohl weiter im HSV-Trikot rennen.
Pierre-Michel Lasogga: Der Bär kostete 8,5 Millionen Euro Ablöse, stürzte aber nicht nur wegen seines Gewichtes rapide ab. Er kann es besser, das hatte er in der Vorsaison bewiesen. Tendenz: Wird bleiben, weil er wieder besser wird.
Maximilian Beister: Ungewöhnlich, dass einer eineinhalb Jahre nach seiner Kreuzbandverletzung noch nicht wieder fit ist. Tendenz: Wenn das Knie in Ordnung ist, bringt ihn Labbadia wieder auf Kurs.
Artjoms Rudnevs: Den Durchbruch schaffte er wieder nicht. Tendenz: Tschüss wäre schön.
Mohamed Gouaida: Im Jugendwahn von Joe Zinnbauer nach oben gespült, dann verschwunden. Tendenz: Hat eine Chance verdient.
Ashton Götz: Im Jugendwahn von Joe Zinnbauer nach oben gespült, dann verschwunden. Tendenz: Hat eine Chance verdient.
Zoltan Stieber: Galt bei der neuen Führung als ungeliebte Neuverpflichtung. Dafür hat er eine gute Saison gespielt. Tendenz: Bruno wird es richten.

„Weißte noch, damals im Wildpark?“ – es gibt solche Spiele, die bleiben unvergesslich. Das Wunder von Bern 1954, Bayerns Champions-Niederlage gegen Manchester 1999, das Drama um Schalke 2001, das historische 7:1 bei der WM in Belo Horizonte gegen Brasilien und jetzt das Tor im Wildpark.
Zugegeben, der Vergleich ist kühn, aber für Hamburg war dieser Treffer von Marcelo Diaz in der Nachspielzeit ein denkwürdiges Tor, das in die Annalen des HSV eingehen wird. Weil es dem Dino die Existenz sicherte und den Hamburger die Chance gibt, erneut zu beweisen, dass sie irgendwie doch in die Bundesliga gehören. Das Tor geht aber auch in die Geschichte ein, weil es ein gestohlener Treffer war, denn eigentlich sollte Rafael van der Vaart schießen, der sich den Ball bereits zurechtgelegt hatte. Johan Djourou könnte als Zeuge der Anklage auftreten, denn er bestätigt, gehört zu haben, was Marcelo Diaz zuvor mit Blickrichtung van der Vaart gesagt hatte: „Du schießt“. Eine glatte Lüge. Noch bevor der Kapitän anlaufen konnte, nahm der Chilene Maß und traf. „Der hat mir den Ball geklaut“, reklamierte der Kapitän nach dem Spiel und niemand wusste, ob er das wirklich ernst meinte. Es wird wohl ein unaufgeklärter Diebstahl bleiben, obwohl es 27 984 direkte Tatzeugen gibt. Aber an der Strafverfolgung ist vermutlich niemand mehr interessiert und ein Geständnis liegt bisher auch nicht vor. Aber was sollte Marcelo Diaz auch sagen, ohne sic selbst zu belasten, fragt
Ihr Wolfgang Stephan

 

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