Hans-Jürgen Gerlach: Der cholerische „Doc“

„Wie Ceausescu“: Unumstritten war Hans-Jürgen Gerlach in der Handball-Szene nie. Foto: Metzger
Hans-Jürgen Gerlach war eine der schillerndsten und umstrittensten Figuren des deutschen Frauen-Handballs. Einst führte der „Doc“ den TV Lützellinden an die europäische Spitze und erlangte Bekanntheit durch seine Wutausbrüche – auch in der Halle Nord.
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Von Thomas Hain
Am heutigen Donnerstag feiert „Doc“ Gerlach seinen 70. Geburtstag.
Ob er jetzt auf dem Höhepunkt seiner Karriere nicht aufhören wolle, wurde er in der Stunde seines größten sportlichen Triumphs gefragt. „Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken“, antwortete Hans-Jürgen Gerlach und lächelte. Keine Zeit – das zieht sich wie ein roter Faden durch ein bewegtes Leben, das am Donnerstag vor 70 Jahren in Wetzlar begann.
An jenem 11. Mai 1991, einem sonnigen Samstag in der Wiener Südstadt, war für den „Doc“, wie Freunde und auch Feinde den promovierten Mediziner nennen, natürlich nicht Schluss. Doch der Gewinn des Europapokals der Landesmeister mit den Frauen des TV Lützellinden bedeutete die Krönung für den leidenschaftlichen Trainer. In elf Jahren hatte er seine Mannschaft von der Regionalliga zum Wertvollsten, das es im Welthandball für Vereinsteams zu gewinnen gibt, geführt.
15 nationale und internationale Titel stehen in der Erfolgsgeschichte. Aber auch ein ganz bitteres Ende des Lebenswerks. Sieben deutschen Meisterschaften, fünf DHB-Pokalsiegen und drei Europacup-Triumphen folgte der wirtschaftliche und damit auch der sportliche Niedergang. Ein Jahr nach dem Zwangsabstieg aus der Bundesliga in die Regionalliga kam 2005 – trotz des sportlich geschafften Aufstiegs – das endgültige Aus.
Aber Einzelkämpfer Gerlach machte weiter. Dem TV Lützellinden bescherte er den letzten Titel: die deutsche Meisterschaft der weiblichen A-Jugend. Den einst verhassten Nachbarn TV Mainzlar rettete er vor dem Abstieg aus der zweiten Liga, ehe auch dort die Lichter ausgingen. Den TV Lützellinden gibt es nicht mehr. Den Trainer Gerlach auch nicht.
Der „Doc“ behandelt BSV-Spielerin Melanie Schliecker bei einer Bundesligapartie in der Halle Nord. Foto: Kordländer
Ein Engagement des ehemaligen Frauen-Erfolgscoachs beim Männer-Oberligisten TuS Holzheim – mit Ex-Fußball-Boss Theo Zwanziger als Beirats-Chef vereinbart – endete, bevor es richtig begonnen hatte. Ein Zwölf-und-mehr-Stunden-Tag in der Praxis und die 70 Kilometer Autofahrt Richtung Limburg gingen einfach nicht. Keine Zeit – das alte Problem. Dabei hätte der Biebertaler dort „zum ersten Mal im Leben mit dem Handball Geld verdienen können“, wie er einem befreundeten Trainerkollegen augenzwinkernd steckte.
Jahrzehntelang war es genau andersherum gegangen. Der Mann, der zuweilen erschreckend an Dr. Jekyll und Mr. Hyde aus der gleichnamigen Psycho-Novelle von Robert Louis Stevenson erinnert, war nicht nur Trainer, Manager und Mannschaftsarzt, sondern fast immer auch Mäzen.
Er, der Sponsor des eigenen Teams, der stets Jugendarbeit propagierte, aber in seiner Personalplanung lieber auf Nummer sicher ging und Stars aus aller Herren Länder verpflichtete. Meistens auf eigene Rechnung.
Unumstritten war der erfolgsbesessene Coach nie ob seiner aufbrausenden, zuweilen cholerischen Art im Training und am Spielfeldrand. „Wie Ceausescu“, verglich ihn eine rumänische Spielerin einmal wütend mit dem Ex-Diktator ihres Heimatlandes. Sie sagte aber auch: „Ohne ihn hätten wir nie so viel Erfolg gehabt.“ „Er war genial, auch wenn er uns damals angekotzt hat“, erinnert sich die ehemalige Nationaltorhüterin Sandra Polchow. Der Jubilar dürfte beides als Kompliment betrachten.
Seinen Sport verfolgt der jetzt 70-Jährige inzwischen aus der Distanz. „Ich gucke es mir an. Es ist eine ganz andere Welt geworden“, sagt der „Doc“ mit Wehmut in der Stimme. „Das ist alles schon ein bisschen deprimierend.“ Aber Handball ist und war nie alles in seinem Leben. Da gibt es nach wie vor die Medizin und die Musik. Alle drei Passionen sind in dem Wappen vereint, das sich der Orthopäde, Erfolgscoach und Pianist eigens zu seinem 65. Geburtstag entwerfen ließ. An den Ruhestand verschwendet der geschiedene Vater zweier erwachsener Kinder und stolze Opa keinen Gedanken. In seiner Praxis in Heuchelheim herrscht weiter Hochbetrieb. Die Patienten schätzen sein umfassendes Fachwissen seit Jahrzehnten.
Im Oktober 2015 war der Doktor, der so vielen Menschen über die normale ärztliche Dienstleistung hinaus geholfen hat, selbst plötzlich gesundheitlich schwer angeschlagen. Eine hartnäckige Hirnhautentzündung, offenbar übertragen durch einen Patienten, warf ihn aus der Bahn. Aber einer wie Gerlach steht wieder auf. „Die Arbeit macht einfach Spaß“, sagt der „Doc“. „Ich sehe noch so viel und muss helfen.“
Um Rentner zu sein, hat dieser Mann einfach keine Zeit.

Der „Doc“ behandelt BSV-Spielerin Melanie Schliecker bei einer Bundesligapartie in der Halle Nord.Foto Kordländer