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Heinz Rudolf Kunze im Interview

„Wie soll man sich auch auskennen in einem Moment, wenn ein Irrer im Weißen Haus sitzt, der in eine Zwangsjacke gehört.“ Heinz Rudolf Kunze war und ist immer auch ein politisch denkender Mensch.

„Wie soll man sich auch auskennen in einem Moment, wenn ein Irrer im Weißen Haus sitzt, der in eine Zwangsjacke gehört.“ Heinz Rudolf Kunze war und ist immer auch ein politisch denkender Mensch.

Sein Name ist mit einem Song verbunden: „Dein ist mein ganzes Herz“. Doch Heinz Rudolf Kunze hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seinen Gassenhauer nicht besonders gelungen findet. Im Interview spricht er über typische Kunze-Hörer, das Altern und die Neue Deutsche Welle.

Von Karsten von Borstel Donnerstag, 16.03.2017, 14:55 Uhr

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TAGEBLATT: Herr Kunze, Sie haben 1984 Ihr Lied „Bestandsaufnahme“ veröffentlicht. Darin singen Sie: „Sind sie denn wirklich schon so abgrundtief gesunken, dass sie es nötig haben, hier zu konzertier’n?“. Diese Frage könnte ich Ihnen mit Blick auf das Konzert am Sonnabend in Drochtersen doch auch stellen.

Heinz Rudolf Kunze: (lacht) Sie müssen sich vorstellen, das Lied habe ich mit Anfang 20 als Student geschrieben, der davon träumte, groß rauszukommen. Das war doppelt ironisch gebrochen, sich Gedanken über Kapellen zu machen, die schon auf dem absteigenden Ast sind. Ich wollte ganz groß in die weite Welt hinaus. Gerade diese Zeile hat einen wahren Kern, insofern als ich oft von Journalisten und Fans gefragt werde, warum ich mich in solch ein Kaff verirre. Und dann denke ich immer: Warum machen die Leute ihre Orte so klein? Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter, sondern die modernen Medien haben ihr Gutes. Es gibt keinen Informationsunterschied mehr zwischen der sogenannten Provinz und der sogenannten Metropole. Die Leute können eher froh sein, dass ich den Weg auf mich nehme.

Ich gehe mal davon aus, dass Ihr Gassenhauer nicht fehlen wird: „Dein ist mein ganzes Herz“. Wenn Sie das Lied heute, mehr als 30 Jahre nach dem Erfolg, singen: Ist das Pflicht oder Kür?

Ach, wie oft ich das schon beantworten musste. Was denkt Klaus Meine, wenn er jeden Abend die Lippen spitzt, um „Wind of Change“ zu pfeifen? Die Antwort kann ja nur lauten: Es ist eine Dienstleistung. Die Menschen kennen das Lied und bringen es mit mir in Verbindung. Und dann haben die meisten auch noch gute Erinnerungen daran, vielleicht ihren ersten oder zweiten Partner dazu kennengelernt. Es wäre schon sehr Miles-Davis-mäßig mit dem Rücken zum Publikum trompetet, wenn man das Lied dann nicht bringen würde.

Aber Sie haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass es nicht gerade ihr Lieblingsstück ist.

Ich bin der Meinung, mindestens 400 bessere geschrieben zu haben. Ich habe gedacht, der Titel wird absolut in die Hose gehen. Aber ich hatte das große Glück, dass Conny Plank, der größte deutsche Rockproduzent aller Zeiten, hochgeachtet von internationalen Künstlern und Erfinder von Kraftwerk, gesagt hat: Glaub mir, Junge, sing das Lied. Auch heute kann ich mir den Erfolg nicht erklären, aber die Leute mögen ihn halt. „Dein ist mein ganzes Herz“ hat mein Publikum verzehnfacht. Ich hoffe, dadurch konnte ich auch Menschen mit meinen eigentlich wichtigen Liedern in Berührung bringen.

Wenn es denn einen gibt: Wie sieht der typische Kunze-Hörer heute aus?

Es ist keine Gruppe, die man direkt an ihrem Äußeren oder an einer Uniform wie einer Rockerkluft erkennen kann. Meinem Eindruck nach sind das sehr gemischte Leute. Es sind auch mal Jüngere dabei, aber das ist sicher nicht die Mehrheit. Das überrascht mich auch nicht wirklich. Ein Teenie-Publikum hatte ich noch nie. Als ich mit Mitte Zwanzig angefangen habe, waren meine Hörer auch schon 18, 19 Jahre alt. Und das Gros des Publikums altert mit einem zusammen.

Und was ist mit Anhängern der AfD und Wutbürgern? Im Stück „Willkommen liebe Mörder“ singen Sie: „Willkommen liebe Mörder / Fühlt euch wie zu Hause / Empörung nicht die Spur / Ihr habt halt eine andere Umbringekultur.“ Rechtspopulisten haben das für sich ausgelegt.

Komisch ist das, weil ich bislang noch nichts dergleichen wahrgenommen habe. Die kommen nicht zu meinen Konzerten. Ich habe in meinen Programmen praktisch nach jedem Lied einen gesprochenen Zwischentext kabarettistischer oder satirischer Art. Da peitsche ich diese politische Richtung schon ordentlich aus. Und ich habe noch nie Buh-Rufe deswegen gehört. Die Leute in meinem Publikum haben mit dieser Gesinnung also ganz gewiss nichts zu tun.

Das Lied erschien auf „Deutschland“, Ihrem inzwischen vorletzten Album. Sie sind ja durchaus ein politischer Mensch. Sagen Sie mir: Wie steht es um unser Land?

Oh Gott, das muten Sie mir bitte nicht zu! Ich bin ein genauso ratloser Zeitgenosse wie alle. Mir wird manchmal ganz eng um den Hals, ich bekomme Schluckbeschwerden und Atemnot und Herzrasen, wenn ich mir angucke, wie hilflos und ratlos im „Presseclub“ am Sonntagmittag die professionellen politischen Journalisten im Dunkeln stochern. Niemand kennt sich im Moment aus. Wie soll man sich auch auskennen in einem Moment, wenn ein Irrer im Weißen Haus sitzt, der in eine Zwangsjacke gehört. Und wo in Deutschland die Situation auch sehr angespannt ist, wie in allen europäischen Ländern, und wir kurz vor dem Zerbrechen der EU stehen.

Ist Deutschland denn liebenswert?

Ja, warum nicht? Es ist sicherlich ein schwieriges Heimatland. Es gibt Länder mit weniger auf dem Kerbholz. Aber die deutsche Sprache, die Musik, die Dichtung, die Philosophie, die deutsche Kunst und Kultur, das ist schon etwas, das sich sehen lassen kann. Das ist etwas, womit ich gerne arbeite und womit ich aufgewachsen bin. Es ist ein Land, wie das Lied „Deutschland“ am Ende besagt, an dem sich die, die es besonders liebhaben, wohl gleichzeitig am meisten reiben.

Sie haben 35 Platten veröffentlicht. Wie viel Stoff haben Sie noch in der Hinterhand?

Das ist ein Satz, den ich immer nur mit Bedenken ausspreche, weil ich den Verdacht habe, das glaubt mir keiner, aber es ist wahr: Ich habe noch 4000 Texte auf Halde.

Wie haben sich Ihre Musik und die Texte im Laufe der Zeit verändert?

Ich glaube, niemand in der deutschen Rockmusik hat so viel experimentiert wie ich. Das ist ein kühner Satz, ich weiß. Aber ich bin bereit, den Beweis anzutreten. Zeigen Sie mir einen deutschen Musiker, diesseits von absoluter Avantgarde, der sich ein Zwölfminutenstück wie „Die Peitschen“, das auf einem Akkord herumreitet und atonale und elektronische Ausbrüche hat, getraut hätte.

Stört es Sie dann nicht noch mehr, dass Sie oft auf nur ein Stück reduziert werden? Oder wenn Ihnen einfach der Stempel Neue Deutsche Welle aufgedrückt wird?

Ich finde das Etikett Neue Deutsche Welle nicht ehrverletzend. Ich habe begonnen, als sie anfing, und damals wurde jeder in die Kategorie eingereiht. Wenn man 1981 sein erstes Album rausbringt, dann ist das eben in der Hochzeit der Neuen Deutschen Welle. Ich bin nie darin aufgegangen. Aber ich habe mit ihr geflirtet und zickige Sequenzer-Arrangements gemacht wie alle. Allerdings bin ich nicht an ihr hängengeblieben. Und ja, natürlich finde ich es bedauerlich, wenn man auf ein Lied reduziert wird, aber man muss sich immer wieder klarmachen: Die meisten Menschen räumen der Musik nicht so eine Bedeutung ein wie wir Künstler. Da kann man dankbar sein, wenn der Ottonormalverbraucher wenigstens ein Lied als Hausnummer kennt. Besser eins als gar keins.

Sie sind gerade 60 geworden. Machen Sie sich Gedanken über das Alter?

„Bestandsaufnahme“, das Sie vorhin erwähnten, kommt von meinem allerersten Album. Das war ein Lied über eine tiefe Midlife-Crisis. Der Gedanke über die Vergänglichkeit, über Tod und Sterblichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch meine Arbeit. Das ist ein Kardinalthema für jeden, der ernsthaft schreibt.

Apropos Sterblichkeit: 2016 sind viele große Künstler gestorben: David Bowie, George Michael oder Prince, um nur mal einige zu nennen. Wessen Tod hat sie besonders getroffen?

Natürlich Bowie, über den ich viel gearbeitet habe. Ich habe über ihn geschrieben und eine Hörspiel-Serie gemacht. Er war für mich ein Künstler, der in einem Atemzug mit den Beatles, Bob Dylan oder Leonard Cohen zu nennen ist. Er war eine der größten Figuren, die wir hatten. Und ob Sie es glauben oder nicht: Ich beschäftige mich noch immer sehr mit seinem Tod. Er hatte etwas Symbolisches, denn mit ihm ist endgültig und unwiderruflich das Moderne in der Popmusik gestorben.

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