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Historie

In Zeiten der Cholera ist Chlor das beste Parfüm

In Zeiten der Cholera ist Chlor das beste Parfüm

Im Spätsommer 1892 wütet die Cholera in Hamburg. Der Senat will die Katastrophe verschweigen, um den Handel nicht zu gefährden. Seehandel und der Hafen-Ausbau haben für den Ersten Bürgermeister Carl Petersen (83) und die Kaufleute höchste Priorität. Das hat Folgen.

Von Björn Vasel Samstag, 05.08.2017, 16:00 Uhr

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Der Profitgier und Pfennigfuchserei der Pfeffersäcke fallen 8605 Menschen zum Opfer, 16 956 erkranken an dem heimtückischen Erreger.

Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde“, erklärt der Mediziner Robert Koch bei seinem Besuch in der Stadt der Kranken. Der Bakteriologe ist erschüttert – und bringt seine Bestürzung am 25. August 1892 in einem Brief an seine Geliebte Hedwig Freiberg in Berlin zum Ausdruck: „Als ich nach Hamburg kam, glaubte ich, ein paar Kranke anzutreffen, von denen man nicht recht wusste, ob sie die Cholera hätten oder nicht. Aber wie anders habe ich es gefunden. Es war mir zu Muth, als wanderte ich über ein Schlachtfeld. Überall Menschen, die noch wenige Stunden vorher vor Gesundheit strotzend lebensfroh in den Tag hinein gelebt hatten, und nun in langen Reihen dalagen von unsichtbaren Geschossen dahingestreckt … . Kein Jammern hört man, nur hier und da ein Seufzer oder das Röcheln der Sterbenden.“

Robert Koch war der Cholera-Experte seiner Zeit. Bereits 1884 war ihm während einer Cholera-Epidemie in Kalkutta in Indien der Nachweis des Bakteriums Vibrio cholerae gelungen. Seinen Ratschlag, den heimtückischen Erreger der Infektionskrankheit durch die Filtration des Trinkwassers zu bändigen und damit die Zahl der Neuerkrankungen zu begrenzen, ignorierten die Hamburger zu lange. Als sie 1892 mit dem Bau einer ersten Sandfilteranlage für das Trinkwasser beginnen, wütet die Cholera bereits in Hamburg.

Hamburg war Ende des 19. Jahrhunderts nach London, Liverpool und New York der viertgrößte Hafen der Welt, 8000 Seeschiffe liefen die Freie und Hansestadt im Jahr 1890 an. Ein Fünftel der deutschen Industrie- und Agrarerzeugnisse exportierte das Reich über Hamburg. Doch die Elbmetropole mit ihren fast 600 000 Einwohnern ist im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur eine blühende Hafenstadt, sondern auch eine der schmutzigsten Städte in Europa. In den Fleeten und in der Elbe treibt der Schiet. Abwässer werden nicht geklärt. Mist aus Schweine- und Hühnerställen landet auf der Straße, 12 000 Pferde verschmutzen die Straßen.

Die Mehrheit lebt unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, viele in einer der 42 000 feuchten Kellerwohnungen, in der es von Ratten und Wanzen wimmelt. „Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat, am Hafen, an der Steinstraße, in der Spitalerstraße oder an der Niedernstraße“, schreibt Koch. In der Stadt gibt es lediglich drei öffentliche Badeanstalten – und 4945 Plumpsklos. Weil es keine Filteranlage gibt, kommen regelmäßig Aale und tote Mäuse aus der Leitung. Zwei Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Todeslisten werden zeigen: Cholera war im Wesentlichen eine „Arbeiterkrankheit“.

Der Tod zieht nicht überraschend in die Stadt ein. Im Frühsommer wütet die Cholera im fernen Afghanistan, über Russland und Polen breitet sich der Erreger weiter westwärts aus. Ganz Europa stöhnt unter einer Hitzewelle. Im August herrschen Temperaturen um die 30 Grad Celsius, die Elbe ist 22 Grad warm. Mit den Auswanderern aus dem Zarenreich, 100 000 schiffen sich im Jahr 1892 in Hamburg nach Amerika aus, kommt Vibrio cholerae in Hamburg an.

Dieser Bilderbogen aus der Illustrierten Welt über die Cholera-Epidemie in Hamburg von 1892 erschien ein Jahr später.

Mitte Juli schließt Preußen die Grenzen zum Zarenreich, in plombierten Zügen kommen die Migranten an der Elbe an, doch kaum einer wird an den Bahnhöfen untersucht. Sie ziehen in Baracken und ins Gängeviertel, wo sie auf ihre Überfahrt warten. Ihr Schiet landet in der Elbe, hier kann sich der Erreger dank der hohen Temperaturen explosionsartig vermehren und gelangt über das ungefilterte Trinkwasser wieder in die Haushalte.

Der Arzt Dr. Hugo Simon aus dem preußischen Altona äußert bereits in der Nacht auf den 15. August bei einem Patienten den Verdacht auf Cholera. Der Kanalarbeiter namens Sahling litt an heftigen Anfällen von Erbrechen und Durchfall. Er hatte an einem Auslass auf dem Kleinen Grasbrook gearbeitet und war „schlagartig“ auf dem Heimweg von der Arbeit erkrankt. Simons Vorgesetzter will die Diagnose ohne einen Nachweis des Erregers nicht anerkennen. „Brechdurchfall“ wird auf dem Totenschein eingetragen.

Weitere Fälle treten auf. In der Nacht zum 17. August kommt Maurer Köhler mit ähnlichen Symptomen in das Allgemeine Krankenhaus Eppendorf. Er stirbt. Bei der bakteriologischen Untersuchung seines Stuhls entdecken sie beim Blick durch das Mikroskop „auffallend große Stäbchen“ – den Erreger. Der Leiter des Krankenhauses, Professor Theodor Rumpf, entschließt sich zu einer Autopsie. Er traut sich aber nicht, seinen Verdacht zu äußern. Der für die weitere Untersuchung zuständige Arzt ist ein Gegner von Robert Kochs Ansichten. Physikus Dr. Erman glaubt nicht, dass sich Asiatische Cholera über Wasser verbreiten kann. Die Zahl der Toten steigt, aus Altona treffen Meldungen ein, die Zeitungen berichten. Erst als der Arzt und Koch-Anhänger Dr. Eugen Fraenkel aus seinem Urlaub zurückkehrt und sich Ermans Petrischalen vornimmt, wird der Erreger nachgewiesen.

Trotzdem: Eine offizielle Warnung gibt es am 22. August nicht. Die Geschäfte im Hafen sollen nicht gestört werden, ein Drittel der Beschäftigten arbeitet im Bereich Schifffahrt und -bau sowie Handel. Fakt ist: Längst ist der zuständige Senator Gerhard Hachmann im Bilde, denn der Präses des Medizinal-Kollegiums hatte ihn informiert. Doch die Senatoren sprechen weiter lediglich von einem „Verdacht“.

Dem US-Konsul Charles Burke versichert Hachmann sogar, in Hamburg gebe es gar keine Cholera. Auswandererschiffe laufen zunächst weiter nach New York aus. Auf der Fahrt sterben die „armen Kinder“ der Passagiere „wie die Fliegen“. Die Nachricht von der Cholera kommt schneller in den USA an als die Schiffe. Es herrscht Angst. Bewaffnete Austernfischer werden am 11. September auf „Fire Island“ verhindern, dass die Kabinenpassagiere des Dampfers „Normannia“ von Bord gehen.

Erst am 23. August meldet die Hansestadt, nachdem Rumpf ein Telegramm verfasst hatte und der Verdacht damit aktenkundig wurde, dem kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin den Ausbruch der Epidemie. Tags darauf bestätigt Koch als Vertreter der Reichsregierung vor Ort den Ausbruch. Hätte Hamburg bereits am 18. August gehandelt und die Bürger mit Verhaltensregeln, etwa das Trinkwasser abzukochen, versorgt, wäre die Epidemie wohl nicht so verheerend ausgefallen. Aufgrund der Hitze pumpen die Wasserwerke mehr Wasser in die Häuser.

Am 23. August wird der Erreger in allen Stadtteilen nachgewiesen. Obst, Gemüse und Fisch, gewaschen mit dem verunreinigten Wasser, wird zum Überträger. In fortschrittlicheren Städten wie Bremen und Altona waren die Behörden gerüstet, bei Ausbruch der Krankheit wurden die Bürger aufgeklärt. Bremen steckt die Auswanderer in Bremerhaven in Quarantäne, ab dem 11. August gibt’s Tipps für die Bürger: Abkochen, Händewaschen, Desinfektion und Verzicht auf Obst. Seit 1859 reinigt eine Sandfilteranlage bei Blankenese das Trinkwasser für das preußische Altona. In einem Hamburger Wohnblock am Schulterblatt, versorgt durch das saubere Wasser aus Altona, stirbt, keiner der 345 Bewohner.

In Hamburg ist das Sterben nicht mehr aufzuhalten: Dass es am Trinkwasser liegt, muss Koch den Hamburgern am 25. August noch beibringen. Reichskanzler Caprivi rüffelt den Bürgermeister Johann G. Mönckeberg wegen der Verzögerung der amtlichen Bekanntgabe. Auch der liberale Hamburger General-Anzeiger kritisiert die „Verschleppungs- und Verdeckungspolitik“.

Der Senat hätte es besser wissen müssen: Zuletzt hatte die Cholera die Stadt im Jahr 1873 heimgesucht. 17 Jahre lang verschleppten Senat, Finanzdeputation und Bürgerschaft die Finanzierung einer Sandfilteranlage für Trinkwasser, lieber geben sie das Geld für den Hafen (Speicherstadt und Südufer) und das neue Rathaus aus. Als die Cholera ausbricht, arbeiten erst 14 Arbeiter auf der Baustelle an der Wasserentnahmestelle in Rothenburgsort. Die Welt schaut auf Hamburg: Die „Times“ wirft dem Senat „beklagenswerte Apathie und Geheimnistuerei“ vor. 160 000 Menschen sterben in Europa, davon 8605 in Hamburg. In St. Petersburg kostet die Cholera lediglich 505 Menschen das Leben, in Bremen sechs.

Der Senat tritt am 24. August zusammen. An Maßnahmen denken Hachmann & Co. immer noch nicht, doch Koch setzt sich durch. Als der Krankenhaus-Leiter Rumpf ihm die Zahl der Toten nennt, ruft Koch aus: „Der erste Mensch in Hamburg, der die Wahrheit sagt.“ Jetzt wird gehandelt. Koch diktiert, was zu tun ist: Sauberes Wasser wird mit Brauerei-Wagen in die Stadt gebracht, Brunnen werden gebohrt. Plakate warnen die Bevölkerung vor nicht abgekochtem Wasser. Die Bäder und Schulen werden geschlossen, Tanzveranstaltungen und Obstverkauf verboten. Desinfektionstrupps ziehen los.

In der Stadt gibt es bei Ausbruch der Cholera lediglich vier Krankenwagen, Möbel- und Leichenwagen werden requiriert. Die Fahrt nach Eppendorf dauert bis zu drei Stunden, viele Kranke sterben auf dem Weg. 68 Wasserwagen fahren durch die Stadt, 21 Desinfektionsanstalten werden eingerichtet. „Chlor ist jetzt das beste Parfum“, schreibt eine Frau in ihr Tagebuch. Tote liegen zwölf Stunden in den Häusern, bevor sie abgeholt werden. Der Wiener Journalist Karl Wagner hilft als Krankenträger: Die Hälfte seiner Patienten stirbt, die Polizisten zwingen Kranke auf die Wagen. Tag und Nacht werden Massengräber in Ohlsdorf ausgehoben. In den Krankenhäusern herrscht Chaos. Patienten erhalten Kochsalzlösungen. Nur Opium und Morphium lindern den Schmerz. Quacksalber treten auf, raten zum Verzehr von Salzheringen, Elektrotherapie und täglich drei Esslöffel Worchestershire-Sauce.

Angst herrscht in der Stadt. Wer kann, verlässt sie. 40 000 fliehen. Doch an der Börse laufen die Geschäfte weiter, während die Cafés leer sind. Der Branntweinkonsum steigt. Kaufleute werben für Cholera-Bitter als Abwehr-Getränk. Andere suchen Zuflucht im Glauben, die Kirchen sind voll. Auch Antisemiten haben Hochkonjunktur. Für einige Prediger ist Cholera ein Zeichen für „todkranke Welt“. Der Seehandel kommt zum Erliegen, viele Staaten verbieten die Wareneinfuhr. Erst 1893 geht es wieder bergauf.

Letztlich führt die Epidemie zu Reformen. Armenviertel wie das Gängeviertel werden abgerissen, ein Wohnstättengesetz wird erlassen. Das Filtrierwerk der Wasserwerke wird 1893 fertig und Hamburg bekommt am Bullerdeich die erste Müllverbrennungsanlage im Reich. Über eine Verfassungsreform gibt es mehr Demokratie. Verwaltung und Gesundheitswesen werden modernisiert. 1906 ersetzen die Auswandererhallen auf der Veddel die alten Baracken am Amerikakai. Erster Hafenarzt wird 1893 der Koch-Schüler Bernhard Nocht. Die Epidemie von 1892 „läutete die Totenglocke des alten Systems“, bringt es der Historiker Richard J. Evans in seinem Standardwerk „Tod in Hamburg“ (1990) auf den Punkt.

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