Zähl Pixel
Archiv

Joan Didion: Alles ändert sich in einem Augenblick

Von zarter Statur und starkem Verstand: Joan Didion , geboren 1934 in Kalifornien.

Von zarter Statur und starkem Verstand: Joan Didion , geboren 1934 in Kalifornien.

Auf die Frage, wie es sich anfühlt und was es aus ihm macht, wenn der Tod plötzlich ins Leben tritt, erfährt der Mensch erst eine Antwort, wenn es so weit ist.

Freitag, 10.03.2017, 14:33 Uhr

Premium-Zugriff auf tageblatt.de für nur 0,99 €
Jetzt sichern!

Von Kirsten Andrae

Selbst ein philosophisch geschulter oder interessierter Mensch erkennt: Dieser spezielle Schmerz, der sich noch von Fall zu Fall unterscheidet, ist nicht wirklich zu beschreiben, kann nicht stellvertretend gespürt werden.

Diese Erfahrung machte auch die amerikanische Autorin Joan Didion: Am Abend des 30. Dezember 2003 kommen sie und ihr Ehemann John Gregory Dunne, ebenfalls ein erfolgreicher Schriftsteller, zurück von einem Besuch im Krankenhaus, in dem ihre erwachsene Tochter liegt. Das Paar isst zu Abend und unterhält sich, als Dunne plötzlich aufhört zu reden. Als seine Frau hochblickt, sieht sie ihren Mann zusammengesackt, seine linke Hand ist in die Höhe gestreckt. Er redet nicht mehr, weil er gestorben ist. „Das Leben ändert sich in einem Augenblick“, diesen Satz schreibt die Witwe danach auf:

„Um mich daran zu erinnern, was mir an dem, was passiert war, das Merkwürdigste schien, hatte ich irgendwann erwogen, jene Worte hinzuzufügen: „der alltägliche Augenblick“. Ich sah sofort, dass es nicht nötig war, das Wort „alltäglich“ hinzuzufügen, denn ich würde es nicht vergessen: das Wort ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Gerade das Alltägliche, das diesem Ereignis vorausgegangen war, hielt mich davon ab zu glauben, es sei wirklich passiert, hielt mich davon ab, es anzunehmen, zu verarbeiten, darüber hinwegzukommen.

Nichts war daran ungewöhnlich, wie ich jetzt weiß: Im Angesicht der Katastrophe konzentrieren wir uns auf die Belanglosigkeit der Umstände, in denen das Undenkbare passiert, den klaren blauen Himmel, aus dem das Flugzeug stürzte; die schnelle Besorgung, die im Straßengraben endete, das Auto in Flammen; die Schaukeln, wo die Kinder spielten wie immer, als die Klapperschlange aus dem Efeu schoss.“

An dem Abend wird schnell klar, was passiert ist: Ein Notarzt erscheint, Joan Didion fährt mit ins Krankenhaus und erfährt dort, dass ihr Mann gestorben ist. Sie vernimmt die Nachricht, sie verständigt die Angehörigen, sie nennt die Dinge beim richtigen Namen. Es wirkt, als hätte sie verstanden. Dennoch: Die Erkenntnis dringt nicht wirklich zu ihr durch, ziemlich genau ein Jahr lang, und das ist es, was dem Buch seinen Titel verliehen hat: „Magisches Denken“.

„Magisches Denken“, eine Art Aberglaube, ist ein in der Psychologie bekanntes Phänomen: Es beschreibt die Annahme, mit Gedanken, Worten oder Handlungen Ereignisse hervorrufen oder verhindern zu können. So gibt Didion die Schuhe ihres Mannes nicht mit anderen Kleidungsstücken in die Altkleidersammlung. Sie glaubt, dass er die Schuhe brauchen wird, wenn er zurückkommt – und dass ihm die Rückkehr nicht möglich ist, sollten seine Schuhe nicht mehr da sein.

Obwohl Didion diesen irrationalen, zwanghaften Gedankenmustern verfällt, ist „Das Jahr magischen Denkens“ keinesfalls inhaltlich vage oder sprachlich schwammig. Im Gegenteil: Ehrlich und akribisch dokumentiert und analysiert die traumatisierte Autorin – zu deren Repertoire sowohl Romane und Sachbücher als auch Drehbücher und Essays zählen – die schmerzhaften Monate nach dem Verlust.

„Das Jahr magischen Denkens“ ist eine offene und intelligente Studie über Krankheit, Tod und Trauer, es gewährt sehr persönliche Einblicke und allgemeingültige Erkenntnisse. Und es erzählt auch davon, wie ein ausgesprochen rationaler Mensch versucht, um jeden Preis die Kontrolle zu behalten – sogar die Kontrolle über den Tod. „Das Jahr magischen Denkens“ gehört zu den Büchern, die es sich mehrfach zu lesen lohnt – und in die uralte Frage, wie es sich wohl anfühlt, wenn der Tod plötzlich ins Leben tritt, bringt es ein kleines bisschen mehr Licht.

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für viele amerikanische Zeitungen und war unter anderem Redakteurin der Vogue. Sie hat fünf Romane und zahlreiche Sachbücher veröffentlicht, darunter „Das Jahr magischen Denkens“. Sie lebt in New York City.

Copyright © 2025 TAGEBLATT | Weiterverwendung und -verbreitung nur mit Genehmigung.