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Ein Stader berichtet

Vor 40 Jahren: Die Entführung der „Landshut“

Genießen ihren Ruhestand: Helga und Rhett Waida.

Genießen ihren Ruhestand: Helga und Rhett Waida.

Mogadischu, 17. Oktober 1977: 86 Passagiere und vier Besatzungsmitglieder werden nach 106 Stunden Todesangst in dem entführten Lufthansa-Flieger „Landshut“ von ihren arabischen Kidnappern befreit. Jubel auch im Kreis Stade. Das ist jetzt 40 Jahre her.

Samstag, 07.10.2017, 15:00 Uhr

September 1977, Köln, 17.25 Uhr. Der „deutsche Herbst“ beginnt. Nach den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und am Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, wird mit dem Arbeitgeberverbands-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer einer der höchsten Repräsentanten der Gesellschaft zum Opfer von Baader-Meinhof-Terroristen. Ununterbrochen Krisensitzungen, Beratungen. Die Entführer, das „Kommando Siegfried Hausner“ fordern von der Bundesregierung die Freilassung von zehn Gesinnungs-Genossen der roten Armee-Fraktion. Der Staat rotiert, die Verfassung wird teilweise außer Kraft gesetzt. Hausdurchsuchungen, Telefon-Überwachungen, Anwälte werden abgehört. Die Bundesrepublik gerät für Tage und Wochen außer Fassung, der Krisenstab unter Helmut Schmidt wird zum politischen Führungsgremium im Kampf gegen den Terrorismus. Die Rettung von Hanns-Martin Schleyer war ein Ziel, das andere musste höher gesteckt werden: die Verteidigung der Demokratie.

Doch plötzlich kam es noch schlimmer: Am 13. Oktober, 39 Tage nach der Schleyer-Entführung, gibt es um 14.38 Uhr den ersten Hinweis: Von der Flugsicherung wird eine Routenabweichung der Lufthansa-Boeing 737 „Landshut“ gemeldet, die sich mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern an Bord auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt befindet. Wenige Minuten später wird in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn Alarm gegeben, um 15.45 Uhr herrscht Gewissheit: Die Maschine ist in der Hand von Terroristen, sie landet wenig später in Rom. An Bord dabei: Rhett Waida (29), sein dreijähriger Sohn Steffen und der Altländer Pädagoge Hartwig Faby (27). Was war passiert?

„Für Rhett Waida und Hartwig Faby beginnt eine über fünftägige Odyssee an Bord der „Landshut“. Ihre Lage konnten sie realistisch einschätzen. Rhett Waida heute: „Es war völlig klar. Die hatten uns entführt, mit Waffen eingeschüchtert, also mussten wir gehorchen.“ Die beiden Freunde wurden in dem allgemeinen Chaos getrennt. Der dreijährige Steffen (er hatte am zweiten Entführungstag Geburtstag) hat im Flugzeug zu keiner Zeit Probleme verursacht. Rhett Waida: „Der saß neben mir, hat gespielt, geschlafen und geredet.“ Heute weiß der in Stade lebende Sohn davon überhaupt nichts mehr. „Niemand kann sich an ein Erlebnis mit drei Jahren erinnern“, sagt Helga Waida, die damals in Stade um ihre Familie bangen musste. Die einzige Erinnerung von Steffen: Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte ihm später einmal ein Kettcar aus dem Bundeskanzleramt geschickt.

Während Hartwig Faby sich nie ausführlich zu der Entführung äußern mochte, ging der umtriebige Gastronom Rhett Waida ganz offen mit seiner Gefühlslage um. Als damaliger Wirt des Stader Ratskellers lud Waida gleich nach der Befreiung zu einer Pressekonferenz in den Ratskeller ein. 200 Journalisten kamen. „Danach war erst einmal Ruhe“, erinnert sich Waida, der heute als Pensionär mit seiner Frau in Stade sein Leben genießt.

Rhett Waida hat heute Mühe, sich an Einzelheiten zu erinnern. Vieles sei weg. Klar, der Name Jürgen Schumann ist präsent. Kennengelernt haben sie ihn nicht näher. Der feige Mord an dem Flugkapitän allerdings war nicht zu überhören. Als der Pilot mit dem Einverständnis der Entführer die „Landshut“ nach der Landung auf einer Sandpiste in Aden besichtigt hatte, musste er sich in der Maschine vor den Passgieren niederknien. Die Kugel des Terroristen traf ihn mitten im Gesicht. „Dass Frau Schumann mit uns nach der Befreiung nach Frankfurt kam und mitten in der emotionalen Wiedersehensfeier stand, hatte mich damals sehr berührt“, erinnert sich Helga Waida, die ständig per Telefon über die Lage in der „Landshut“ informiert wurde. Dass das Bild ihres kleinen Steffen am Tag seines Geburtstages im TAGEBLATT erschien, fand die Mutter „schlimm“, dass sie von der Lufthansa nach den Blutgruppen ihrer Liebsten gefragt wurde, „furchtbar“.

Rhett Waida kann sich heute nur noch schemenhaft an die Situation im Flugzeug erinnern. Zur psychischen Anspannung kam die Hitze, die Hektik der Entführer und immer wieder die Ungewissheit. Erfüllt die Bundesregierung die Forderung der Kidnapper? Das nämlich haben alle Passagiere gehofft.

Ex-Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski, den das TAGEBLATT zehn Jahre später zu den Waidas ins Alte Land eingeladen hatte: „Ich kann das verstehen, dass die Geiseln sich mit den Entführern solidarisierten, denn die wissen doch überhaupt nicht, was draußen in ihrem Sinne geschieht.“ Dem damaligen und mittlerweile verstorbenen Staatsminister „Ben Wisch“ kam eine Schlüsselrolle in diesen Tagen zu. Er folgte der entführten Lufthansa-Maschine über die Stationen Rom, Zypern, Dubai, Aden nach Mogadischu, der Hauptstadt Somalias. Rhett Waida: „Wir wussten überhaupt nicht, was passiert und ob überhaupt jemand Anteil an unserer Entführung nimmt.“ Dabei wurde es gleich nach der Ankunft in Mogadischu dramatisch: Der heiser sprechende und erschöpft wirkende Anführer der Luftpiraten griff sich das Mikrofon. Im Flugzeug herrschte absolute Stille.

Rhett Waida: „Todesangst hatten wir schon, wenngleich wir in dieser Situation überhaupt keine klaren Gedanken fassen konnten.“ Auch später nicht, als das Ultimatum verlängert wurde und die Entführer jubelnd die Nachricht verkündeten.

„Die Bundesregierung ist zum Austausch bereit, die Maschine mit den RAF-Leuten ist auf dem Weg nach Mogadischu.“ Doch statt der RAF kam die GSG 9. Vom Sturm auf die Maschine haben die Passagiere nicht viel mitbekommen. Die mit schwarz-gefärbten Gesichtern eingestiegenen GSG-9-Leute hatten in Sekundenschnelle die Terroristen unschädlich gemacht: Drei wurden erschossen, der Vierte schwer verletzt, alle 86 Passagiere und die verbliebenen Besatzungsmitglieder konnten unverletzt befreit werden. Erst im Flughafen-Gebäude haben die beiden Freunde aus Stade die Situation kapiert. Rhett Waida: „Lachen und Weinen war gleichzeitig angesagt.“ So war’s dann auch bei der Ankunft in Frankfurt. Küsse, Tränen und Umarmungen. Helga Waida: „Um halb eins in der Nacht kam damals der Anruf. Wie immer war ein Herr Emmerich von der Lufthansa am Hörer. ‚Sie leben‘. Wir haben beide geheult“, erinnert sich Helga Waida, die am Morgen nach Frankfurt geflogen war, um die Lieben zu begrüßen.

Haben die 106 Stunden an Bord der „Landshut“ ihr Leben verändert? „Auf keinen Fall“, sagen die Waidas unisono, die vor drei Jahren das Stadissimo in Stade an den Nachfolger übergeben haben. Die Erinnerungen an die dramatische Entführung seien immer dann gekommen, wenn andere danach gefragt hatten. Immer an den Jahrestagen, da ging es dann auch in Talkshows ins Fernsehen. „Aber seit zehn Jahren ist Ruhe“, bilanziert der 68-Jährige. Abgehakt, vergessen. Selbst wenn er später wieder geflogen war, habe er nie Angst verspürt. „Auch gut“, kommentiert Waida jetzt die von einem brasilianischen Flieger-Friedhof zurück nach Deutschland gebrachte „Landshut“.

Rhett Waida gehörte nicht zu den Passagieren, die ihren Zorn und die Enttäuschung über die Lufthansa medienwirksam äußerten. Dabei hätte er allen Grund gehabt, denn auch er sollte einen „Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten“ ausfüllen, um eine kleine Entschädigung zu bekommen: Name, Datum, Täter (verwandt oder verschwägert), Tatort, Tathergang.

Deutsche Gründlichkeit, vor allem mit diesem Satz im Formular: „Worin sehen Sie den Anlass für das zur Schädigung führende Ereignis?“

Als Deutscher Herbst wird die Zeit und ihre politische Atmosphäre in der Bundesrepublik Deutschland im September und Oktober 1977 bezeichnet, die geprägt war durch Anschläge der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF). Am 7. April 1977 wurden in Karlsruhe vom Kommando Ulrike Meinhof der Generalbundesanwalt Siegfried Buback mit zwei Bediensteten in ihrem Auto erschossen. Die Täter wurden bis heute nicht zweifelsfrei identifiziert. Am 30. Juli 1977 wurde der Vorstandssprecher der Dresdner Bank AG, Jürgen Ponto, ermordet. Die Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer und die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs „Landshut“ markierten die Höhepunkte dieses Deutschen Herbstes, der als eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik gilt.

Als Reaktion auf die erfolgreiche Stürmung des Flugzeuges „Landshut“ wurde Hanns Martin Schleyer von seinen Entführern erschossen. Seine Leiche wurde am Abend des 19. Oktober 1977 im Elsass gefunden.

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