Offene Fragen zu tödlichem Polizeieinsatz in Bützflether Flüchtlingsunterkunft
Freunde und Weggefährten trauern um den 19-jährigen Afghanen, sie haben Kerzen und Fotos aufgestellt. Foto: Beneke
Im Fall des am 17. August bei einem Polizeieinsatz in einer Flüchtlingsunterkunft in Bützfleth erschossenen 19-jährigen Afghanen führen Mitarbeiter des niedersächsischen Flüchtlingsrats vor Ort Gespräche und recherchieren in seinem Umfeld.
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„Wir wollen die Staatsanwaltschaft nicht ersetzen, aber schon genau gucken, wie sie ihre Arbeit macht“, sagt Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen. Die aktuelle Einschätzung des Flüchtlingsrats: Nach dem tödlichen Polizeieinsatz haben den Flüchtlingsrat sehr bald Anrufe aus dem Umfeld des jungen Mannes erreicht, berichtet Weber. Mitarbeiter haben inzwischen viele Gespräche vor Ort geführt. Einer von ihnen ist Sebastian Rose. Wie er berichtet, gibt es für ihn weiter viele offene Fragen. Zu den Freunden des Afghanen hätten auch viele junge Leute gehört, die wie er als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kamen und erst seit Kurzem als erwachsen gelten. Sie seien in großer Trauer um ihren Freund und zeigten sich verzweifelt darüber, dass durch die Berichterstattung ein falscher Eindruck von ihm entstanden sein könnte. Tenor der Gespräche: Ihr Freund war gut integriert, nicht gefährlich und keineswegs ein Schläger. Er habe einfach unter psychischen Problemen gelitten.
Als Jugendlicher war er im Alter von 16 Jahren aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Von mehreren Gesprächspartnern sei er den Flüchtlingsrat-Mitarbeitern als jemand beschrieben worden, der sich für andere einsetzte, aktiv war, gut deutsch gesprochen hat und ein wichtiger Mensch für viele andere war. Nach seinem Schulbesuch begann er eine Lehre als Tischler, bis zu seiner psychischen Erkrankung, wegen der er sich auch in Behandlung befand. Für den Flüchtlingsrat ist noch immer nicht nachvollziehbar, wieso der Polizeieinsatz eskalierte und der 19-Jährige erschossen wurde. Nach wie vor sei auch der Ablauf unklar. „Wir werden in den nächsten Tagen weitere Gespräche führen“, sagt Rose. Der Flüchtlingsrat zeigt sich außerdem schockiert über rassistische und menschenverachtende Kommentare und Hetze, die ihn in den Wochen seit dem tragischen Tod erreicht haben.
Die Stimmung vor Ort: Eine Flüchtlingshelferin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, aber mit den jungen Leuten vor Ort in Stade schon lange in Kontakt steht, berichtet dem TAGEBLATT, dass in Stade eine große Trauerfeier für den jungen Flüchtling geplant war. Sie musste kurzfristig abgesagt werden: Der Betreiber des Saals machte unerwartet einen Rückzieher, weil er Konflikte im Umfeld der Trauerfeier fürchtete. Die Ehrenamtliche betont, dass die Freunde des Afghanen noch immer voller Angst seien und dringend besser betreut und begleitet werden müssten. Es sei sehr unglücklich, dass sie mit 18 Jahren plötzlich als erwachsen gelten und dann nicht mehr im Rahmen der Jugendhilfe unterstützt würden.
Videos zum Fall erregen Aufsehen: Der WDR hat auf seinem Facebook-Kanal WDRforyou ein Video auf Deutsch und Farsi veröffentlicht, das inzwischen mehr als 62.000 Aufrufe verzeichnet. Darin berichten zwei Journalisten und sprechen mit einem Freund des Erschossenen. Seine Bützflether Freunde haben auch einen in Schweden lebenden Youtuber kontaktiert, um mit ihrer Version der Geschehnisse Gehör zu finden. Der Flüchtlingsrat bemüht sich zurzeit, dieses Video von Farsi ins Deutsche zu übersetzen.
Der aktuelle Stand der Ermittlungen: Wie der Flüchtlingsrat bestätigt, hat der Onkel des Verstorbenen einen Anwalt eingeschaltet. Auf die Ermittlungen habe das aber keinerlei Einfluss, sagt Kai Thomas Breas, Sprecher der Stader Staatsanwaltschaft. Die Polizeiinspektion Cuxhaven werde noch einige Wochen ermitteln. Erst danach werde entschieden, ob klare Notwehr vorlag, ob das Verfahren eingestellt wird oder der Fall vor Gericht geht.
Bürgerinitiative Menschenwürde fordert lückenlose Klärung
Die Bürgerinitiative (BI) Menschenwürde im Landkreis Stade äußert sich zu dem Fall und fordert, dass alle in diesem Zusammenhang aufgetauchten Fragen in dem juristischen Verfahren lückenlos geklärt werden. „Es geht darum, dass die Rechtsstaatlichkeit in diesem Verfahren sichergestellt wird, insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Geflüchtete aus Staaten kommen, in denen Willkür vonseiten des Staatsapparats und seiner Polizei sehr verbreitet sind“, schreibt Ingrid Smerdka-Arhelger im Namen der BI.
Der Fragenkatalog umfasst zwölf Fragen Kurz zusammengefasst: Die BI will wissen, ob es zutrifft, dass die Polizei nicht wegen Gewalttätigkeit des 19-jährigen Afghanen von den Mitbewohnern gerufen wurde. Sie fragt, in welcher Weise seine Traumatisierung und psychische Erkrankung beim Einsatz berücksichtigt wurde und weshalb es bei mindestens vier Polizisten in einem kleinen Raum nicht möglich war, ihn physisch zu überwältigen. Die BI fragt, wie groß und wie schwer die Hantel war, die er bei sich trug, und will wissen, weshalb aus unmittelbarer Nähe nicht in Körperteile geschossen wurde, deren Verletzung nicht lebensbedrohlich ist.
Die BI fragt, ob es zutrifft, dass der Notarzt nicht sofort zum Schwerverletzten gelassen wurde, und ob der junge Mann nach seinem 18. Geburtstag wegen seiner psychischen Erkrankung gemäß Jugendhilfegesetz weiter betreut wurde, wie es das Gesetz vorsieht. Sie will auch wissen, ob weitere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet haben, als Erwachsene behandelt werden, und welche Risiken der Landkreis hier bereit sei, einzugehen. Nicht zuletzt fragt die BI, was die Polizei tun will, um das Vertrauen der Jugendlichen und Jungerwachsenen in die deutsche Polizei wiederherzustellen.
Die Pressemitteilung der BI Menschenwürde im Wortlaut:
Angesichts des tödlichen Polizeieinsatzes in einer Flüchtlingsunterkunft in Stade fordert die BI Menschenwürde im Landkreis Stade, dass alle in diesem Zusammenhang aufgetauchten Fragen in dem juristischen Verfahren lückenlos geklärt werden. Es geht darum, dass die Rechtsstaatlichkeit in diesem Verfahren sichergestellt wird, insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele nach Deutschland Geflüchtete aus Staaten kommen, in denen Willkür von Seiten des Staatsapparates und seiner Polizei sehr verbreitet sind.
Angesichts der uns vorliegenden Informationen stellen sich folgende Fragen zum Tod von A.*
Ingrid Smerdka-Arhelger
Stellvertr. Vorsitzende der BI Menschenwürde im LK Stade
http://www.bi-menschenwuerde.de/
*Das TAGEBLATT verzichtet aus Opferschutzgründen auf die Nennung des vollständigen Namens.