Sargträger: Eine Tradition droht auszusterben

Das Besondere ist, dass die Brauerknechte den Sarg auf einer Bahre schultern . So lasse sich das Gewicht besser verteilen, sagen sie. Foto: Brauerknechtsgilde
Sargträger gibt es vielerorts im Landkreis Stade, jedoch droht die Tradition auszusterben. Die 1604 gegründete Stader Brauerknechtsgilde etwa beklagt einen „Nachwuchsmangel“. Dennoch schafft es das knappe Dutzend Männer, jedes Jahr bis zu 250 Beerdigungen zu begleiten.
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Die Marien Kirche in Grünendeich öffnet sich. Acht Männer in schwarzen Umhängen treten aus dem Nieselregen in Zweierreihen hinein und biegen ab zum Altar. Zwischen den Bankreihen hindurch, vorbei an den Trauergästen, hin zum Sarg. Hier versammeln sich die Männer, vier auf jeder Seite. Sie setzen den Dreispitz auf, verbeugen sich und heben den Sarg behutsam an. Sie haben die tragende Rolle.
Die Männer der Stader Brauerknechtsgilde tragen den Verstorbenen an einem verregneten Dienstagmittag zu Grabe und halten damit eine mehr als 400 Jahre alte Tradition am Leben. Und doch drohen vielerorts im Landkreis Stade die Sargträger auszusterben. Zwar gibt es viele zuverlässige Trägergemeinschaften, allerdings sind diese nicht mehr stark aufgestellt. Sie beklagen einen „Nachwuchsmangel“ – so auch die Brauerknechte.
„Wir haben eine dünne Personaldecke“, sagt Geschäftsführer Joachim Preiß. Derzeit gebe es neun aktive Sargträger und eine Aushilfe, allesamt Rentner zwischen 71 und 83 Jahren. Sie betonen, dass es ihnen nicht ums Geld geht, sie sind sogenannte Minijobber. Was sie motiviert, ist vor allem, dass es eine ehrenvolle Aufgabe sei.
Die Gilde ist nach der Pestepidemie, die die Stadt Stade heimsuchte, entstanden, weil niemand mehr die Pesttoten begraben wollte. Der Sage nach bat Gertrud, die Tochter eines Braumeisters ihren Geliebten, den Brauer Peter Männken, diese Arbeit zu machen. Denn die Brauerknechte galten wegen der eingeatmeten Dämpfe beim Brauen und wegen ihres Bierkonsums als immun gegen die Pest. Die Brauerknechte willigten ein und Peter durfte seine Gertrud heiraten. So ist die Sage überliefert.
Eine halbe Stunde bevor die Tür sich öffnet, versammeln sich die acht Brauerknechte auf dem Parkplatz gegenüber der Kirche mit ihrem hölzernen Glockenturm. Sie stehen dort in der Tracht, die aus den Schriften im Stader Stadtarchiv überliefert ist: Dreispitz auf dem Kopf, Halsbinde, auch Bäffchen genannt, schwarzer Umhang mit weiß abgesetztem Kragen, Dreiviertelhose, lange Strümpfe, Schnallenschuhe und weiße Handschuhe. Die Brauerknechte führen die Tradition fort.
Eine Tradition, die aussterben könnte. „Es will keiner mehr machen“, sagt Preiß. Es gibt vermutlich mehrere Gründe: Der Trend weg vom Sarg- hin zur Urnenbestattung und der Zeitaufwand. Vorbehalte, es sei aus der Zeit gefallen, die emotionale Belastung und das Tabu-Thema Tod.
Drinnen hat der Trauergottesdienst begonnen, draußen teilt Joachim Preiß den Brauerknechten die nächsten Beerdigungen mit: „Dienstag, 13 Uhr. Kannst du da, Horst?“ Horst Rose schlägt seinen Kalender auf, trägt den Termin mit Kugelschreiber ein. Die Brauerknechte werden bis zu 250 Mal im Jahr beauftragt. In dieser Woche zum Beispiel haben sie fünf Einsätze in Stade und im Alten Land, die meisten um die Mittagszeit. „Als Sargträger sollte man flexibel sein“, sagt Preiß. Daher sind es fast immer Rentner, die Särge tragen. Jeder Bestatter und Hinterbliebene kann die Gilde beauftragen.
Die Brauerknechte überqueren die Straße und stehen nun auf dem Friedhof vor der Kirche. Das ausgehobene Grab ist nur wenige Meter entfernt.
- Wo geht’s mit dem Sarg entlang?, fragt einer der Brauerknechte.
- „Wir gehen den ganz normalen Weg, hinter dem Grabstein entlang“, sagt Preiß, „und die Schützen gehen vorneweg.“
- Und wie schwer ist der Sarg?, fragt ein anderer.
- „Nicht so schwer“, sagt Preiß, das weiß er von Pastor Uwe Junge, mit dem er vor dem Trauergottesdienst kurz gesprochen hat.
Wer der Verstorbene war, damit beschäftigen sich die Brauerknechte nicht. Ihre Aufgabe ist das Tragen. Und dabei spielt das Gewicht des Sargs samt dem Verstorbenen eine wichtige Rolle. 140 bis 160 Kilogramm könnten da schon mal zusammenkommen, sagt Preiß, bis zu 20 Kilo pro Mann. „Wer in der Lage ist, eine Kiste Selter aus dem Auto ins Haus zu tragen, kann auch bei uns mitmachen“, sagt Preiß. Eine „normale körperliche Konstitution“ genüge.
Das Besondere bei den Brauerknechten ist, dass sie den Sarg auf einer Bahre schultern und zur Grabstelle tragen. So lasse sich das Gewicht besser verteilen und auch optisch gebe das ein gutes Bild ab, sagt Preiß. In Grünendeich jedoch werden sie den Sarg an den Griffen tragen. Zum einen sei die Tür sehr schmal, sagt Preiß, zum anderen der Weg zur Grabstelle sehr kurz.
Die Brauerknechte stellen sich in Zweierreihen vor der Eingangstür der Kirche auf. Hinten stünden jene, die das Kopfende tragen – der schwerste Part, sagt Preiß. Er selber steht vorne, wird später am Fußende mit anpacken. So hat jeder seinen Stammplatz und weiß, was zu tun ist. „Wir sind ein eingespieltes Team“, sagt Preiß. Die Tür öffnet sich.
Wenn er sich an seine erste Beerdigung als Brauerknecht vor zehn Jahren erinnert, dann sagt er, dass er ein mulmiges Gefühl gehabt habe. „Aber ich war gleichzeitig auch hochkonzentriert“, sagt Preiß, denn: „Fehler sind unverzeihlich.“
Inzwischen hat Preiß Routine, und doch ist jede Beerdigung anders. Mal stehe ein Rollator im Weg, mal laufe ein Kind vor ihnen herum. Mal sei die Trauer besonders groß, gerade dann, wenn ein junger Mensch verstorben sei oder ein früherer Brauerknecht beigesetzt werde, sagt Preiß. Einige der Brauerknechte hätten auch schon einen Kindersarg getragen.
Wie denkt man über den Tod, wenn man nahezu täglich damit konfrontiert ist? „Der Tod ist in meiner Familie selbstverständlich geworden“, sagt Preiß, „ich denke, dass er zum Leben dazugehört.“ Bei der Frage, ob sie sich schon mit ihrem eigenen Tod befasst haben, nicken einige der Brauerknechte. Manche haben schon einen Grabplatz, manche einen Sarg und einer hat gar seine Trauerfeier vorbereitet.
Mit dem Sarg zwängen sich die acht Männer durch die schmale Tür der Kirche in Grünendeich. Die Trauergemeinde folgt ihnen. Am Grab setzen die Brauerknechte den Sarg ab, ziehen die Handschuhe aus und lassen ihn an Seilen in die Erde hinab. Keiner verzieht eine Miene. Die Männer treten weg, nehmen den Dreispitz ab und stellen sich in einer Reihe auf. Wenig später, nach dem Vaterunser, ist ihr Arbeitstag beendet.
Wer Interesse hat, Sargträger bei den Stader Brauerknechten zu werden, kann sich melden bei Geschäftsführer Joachim Preiß unter 0 41 44/ 51 32 oder beim Vorsitzenden Jürgen Möller unter 0 41 41 / 6 44 98.

Die Stader Brauerknechte vor ihrem Einsatz in Grünendeich: Hartmut Schmitz, Horst Rose, Joachim Preiß, Erich Klein (hinten, von links) Jürgen Möller, Wilfried Körner, Rudolf Klenke und Udo Adler (vorne, von links). Foto: Scholz