Die Cyborg-Gemeinde wächst auch in Deutschland

Das Implantat der Größe eines Reiskorns. Fotos digiwell
Die Stelle an seiner linken Hand zwischen Zeigefinger und Daumen fällt auf den ersten Blick nicht auf. Doch Patrick Kramer hat sich genau dort einen Chip in seine Hand gesetzt. Mit ihm kann er nicht nur seine Haustür oder sein Auto öffnen.
Premium-Zugriff auf tageblatt.de für nur 0,99 €
Jetzt sichern!
Auf diesem Chip befinden sich auch im Notfall wichtige medizinische Informationen. Wäre Patrick Kramer eine Kuh auf einer Wiese, wäre es das Normalste auf Erden, dass er einen Chip in sich trägt, der Informationen über ihn bereithält. „Bei Tieren gibt es sie schon seit 30 Jahren“, erklärt der Hamburger. So lässt sich jede Kuh ihrem Bauern zuordnen. Der Tierarzt kann darüber Daten, wie Krankheitsbilder oder Auffälligkeiten abrufen. Was in der Tiermedizin schon geläufig ist, ist am Menschen immer noch unüblich. Erst seit rund elf Jahren lassen sich Menschen smarte Implantate spritzen. Patrick Kramer hat seine Körper-Upgrades seit dreieinhalb Jahren. Mittlerweile hat er drei Chips unter seiner Haut. Er gehört damit zum Kreis von rund 60 000 Cyborgs weltweit. Das sind Menschen, deren Körper dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden.
Patrick Kramer sieht sich nicht als Nerd. Der Familienvater von zwei Kindern lebt mit seiner Familie in Hamburg-Bergstedt im Norden Hamburgs. Jahrelang arbeitete er als Unternehmensberater, unter anderem bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers und dem US-amerikanischen IT- und Beratungsunternehmen IBM. Sein Leben änderte sich, als er 2016 zur weltweit größten Messe für Informationstechnik, der Cebit, eingeladen wurde. „Es war total krass. Plötzlich wurde ich zum Cebit-Highlight auserkoren, ich wusste zunächst gar nicht, was das ist“, erzählt er. Es bedeutete vor allem eins: Aufmerksamkeit. Kramers Stand wurde überrollt — von rund hundert Medienvertretern aus der ganzen Welt. Al Jazeera berichtete über ihn, genau wie die deutsche Tagesschau. In dreieinhalb Tagen setzte er 140 Implantate. Seinen Job hat er daraufhin gekündigt. Seitdem geht er unter die Haut.
Mit seinem Start-Up „Digiwell“ ist er einer der führende Anbieter von sogenannten Biohacking und „Human Augmentation“-Artikeln in Europa. Als Einziger hat der 47-Jährige eigener Kenntnis zufolge von der deutschen Marktaufsichtsbehörde die Genehmigung smarte Implantate in Europa zu vertreiben. Das DIY-Set mit aufgezogener Spritze samt Chip gibt es in seinem Webshop ganz einfach zu bestellen. Drei Sekunden braucht Patrick Kramer, dann ist der Fremdkörper unter der Haut. Wer es nicht vom Chef persönlich gespritzt bekommt, dem empfiehlt der Unternehmer einen Besuch im Piercingstudio. Der in einem Bioglas eingeschlossene Microchip von der Größe eines Reiskorns wird mittels einer vorinstallierten Spritze zwischen Daumen und Zeigefinger platziert. Mittlerweile hat Kramer neben solcher RFID-Implantaten der x-Serie auch Flex-Implantate. Sie bestehen aus flexiblem Biopolymer, sind flach wie eine Briefmarke, biegsam und bieten eine verbesserte Leistung und Reichweite gegenüber den zylindrischen Implantaten.
Einem 15-Jährigen spritzte der Biohacker nach einem langen Gespräch und dem Einverständnis der Eltern den mobilen Datenträger, seine eigenen Kinder (drei und sechs Jahre) sind erst einmal Tabu. „Das sollen sie selbst entscheiden können, wenn sie groß sind.“ Generell ist die Einverständniserklärung immer Pflicht. „Ich entscheide individuell, ob ich es mache. Letztendlich setze ich nur eine Spritze. Was derjenige daraus macht, kann er individuell entscheiden. Das macht auch den Reiz aus.“ Die Anwendungsgebiete – und damit auch seine Nutzer – sind vielfältig. Es ist der Rechtsanwalt, der Ordner mit einem Schloss unter Verschluss halten will, der Parkinson-Patient, der durch den Chip ohne großen Aufwand wieder seine Haustür öffnen kann oder der Alzheimer-Patient, der alle wichtigen Daten hinterlegen kann, falls er sie selber vergisst. Die digitale Transformation ist aber auch Marketing und Kommunikationstool. Einige nutzen den Chip, um ihre Visitenkarten auszutauschen, weiß Kramer. „Es hat nichts mit dem gläsernen Menschen zu tun.“ Die Chips senden nicht, und lassen sich so auch nicht tracken. Programmiert und gelesen werden sie am einfachsten über eine Smartphone-App. „Auch für mich gilt: Technik nicht zu jedem Preis. Aber Dinge, die mein Leben vereinfachen und sicherer machen, finde ich interessant“, so Kramer. „Ich habe durch den Chip keine Nachteile, ganz im Gegenteil“, meint der Unternehmer. Seit eineinhalb Jahren hat Patrick Kramer keinen Haustürschlüssel mehr. Genau wie seine Frau. Seit Jahren schließt er sein Auto und seine Haustür mit seiner Hand auf, und entsperrt so auch seinen PC. Das schlüssellose Leben empfindet er als entspannt. „Es ist nicht nur Lifestyle oder Bequemlichkeit. Ich habe eine digitale Schnittstelle im Körper und die kann Leben retten.“ Mit seinem Chip kann er nicht nur Türen öffnen, auf ihm befinden sich auch im Notfall wichtige medizinische Informationen. „Drei Dinge haben die meisten Menschen immer dabei: Schlüssel, Portemonnaie und Handy. Unser erster Schritt war es, den Schlüssel zu ersetzen“, so Kramer. Mit allem anderen will er in den kommenden Jahren nachziehen. „Viele Szenarien sind vorstellbar. Irgendwann werden wir unsere Handy-Nachrichten lediglich mit unserem Gehirn schreiben“, prophezeit er. Doch bis dahin kann es noch einige Jahre dauern.
Eines will der 47-Jährige dann auch noch klar stellen, weil so viele nachfragen. „Nein, aufgrund der Chips piepe ich nicht an der Sicherheitskontrolle am Flugzeug.“