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450 Flüchtlinge in der Stader Notunterkunft

Lagebesprechung vor Ort: Mitarbeiter des Landkreises, vom Deutschen Roten Kreuz und der Johanniter-Unfall-Hilfe begutachten die BBS-Turnhalle an der Glückstädter Straße. Foto Stephan

Lagebesprechung vor Ort: Mitarbeiter des Landkreises, vom Deutschen Roten Kreuz und der Johanniter-Unfall-Hilfe begutachten die BBS-Turnhalle an der Glückstädter Straße. Foto Stephan

Seit Donnerstag ist die Flüchtlingsproblematik im Kreis Stade richtig angekommen. Auf dringende Bitte des Landes muss der Landkreis Stade innerhalb von fünf Tagen 450 Flüchtlinge aufnehmen, die ab heute in zwei Turnhallen der berufsbildenden Schulen in Stade untergebracht werden. 

Von Wolfgang Stephan Donnerstag, 15.10.2015, 19:21 Uhr

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Die Flüchtlinge kommen in drei Etappen direkt aus Bayern. Vor Ort wusste am Donnerstag niemand, aus welchem Land die Menschen kommen, in welchem Zustand sie sind und ob auch Kinder mit dabei sind – was wahrscheinlich ist.

Alles musste ganz schnell gehen: Am Mittwochabend kam das Fax aus dem Innenministerium an den Landkreis: Ein Amtshilfeersuchen mit der dringenden Bitte um Aufnahme von 450 Flüchtlingen. Landrat Michael Roesberg trommelte am Morgen die Bürgermeister aus den Städten und Kommunen zusammen und beriet mit ihnen die jetzt erstmals prekäre Lage.

Nach den bisher vorliegenden Zahlen müssen die Kommunen im Landkreis bis zum Jahresende weitere 1200 Flüchtlinge aufnehmen, unabhängig von diesem Kontingent kommen die 450 Menschen aus Bayern. „Wir helfen dem Land in einer dramatischen Situation und sorgen dafür, dass die Flüchtlinge nicht unter freiem Himmel schlafen müssen“, sagte Roesberg gestern Mittag im Kreishaus dem TAGEBLATT. Dabei verhehlte er nicht seine Kritik: „Klar ist, wir helfen, aber offensichtlich ist das Land derzeit der eigenen Aufgabe nicht gewachsen.“

Der Landkreis richtete am Morgen einen „Entscheidungsstab“ ein und begann gestern Mittag mit der Bereitstellung der einer zentralen Notunterkunft in zwei Turnhallen der Berufsbildenden Schulen in Stade. Roesberg: „Es gibt im Kreis derzeit keine andere Möglichkeit der Unterbringung einer solch großen Zahl von Flüchtlingen.“

Heute nachmittag sollen die ersten 150 Menschen per Bus in der Glückstädterstraße ankommen, am Sonntag und nächsten Mittwoch kommen jeweils weitere 150. Die Flüchtlinge werden in Stade nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik das erste Mal registriert und einem Gesundheitscheck unterzogen. Sie sollen nach einem Amtshilfeersuchen der Landesregierung fünf Wochen in Stade bleiben und dann in reguläre Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes verlegt werden, deren Kapazitäten zurzeit völlig ausgeschöpft sind.

Unter Hochdruck arbeiten deshalb Hilfsorganisationen wie Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) daran, in den kreiseigenen Turnhallen an der Glückstädter Straße Betten und Verpflegungsmöglichkeiten bereitzustellen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landkreises Stade bereiten die übrige Versorgung der Flüchtlinge vor.

Die Kommunen, so Roesberg, treffen angesichts der täglich rund 1000 neu in Niedersachsen eintreffenden Flüchtlinge Vorsorge für die Unterbringung. Nach dem immer noch gültigen Verteilungsschlüssel der Landesaufnahmebehörde sei bis Ende Januar regulär mit weiteren 1200 Flüchtlingen und Asylbewerbern im Landkreis Stade zu rechnen, die auf die Städte und Gemeinde verteilt werden müssten. Bis zum Jahresende werden rund 3000 Asylbewerber im Kreis Stade leben. Für das nächste Jahr rechnet Michael Roesberg mit bis zu 5000 Menschen, die auf Zeit untergebracht werden müssen – geschätzt nach der derzeitigen Weltlage.

Die CDU-Landtagsabgeordneten Kai Seefried und Helmut Dammann-Tamke sehen die jetzt durch die rot-grüne Landesregierung veranlasste Amtshilfe als Konsequenz aus monatelanger Passivität der Landesregierung und falscher Rücksichtnahme der SPD auf den grünen Koalitionspartner und erwarten jetzt, dass die Niedersächsische Landesregierung heute im Bundesrat den Verschärfungen im Asylrecht in Deutschland zustimmen wird.

Mehr als 1,4 Millionen Asylsuchende könnten nach Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen von Anfang 2015 bis Ende 2016 über das Mittelmeer nach Europa kommen. Das geht aus einem stark noch oben korrigierten Hilfsappell des Flüchtlingswerks an die Geberländer hervor. Darin bittet die Organisation um 114 Millionen Euro allein für ihre Hilfseinsätze im Mittelmeerraum – gut vier Mal mehr als in der ersten Fassung. Das Flüchtlingswerk rechnet bis Ende des Jahres mit insgesamt rund 700 000 Mittelmeer-Flüchtlingen. Wo kommen die Menschen her?

Syrien

In Deutschland kommt jeder fünfte Flüchtling aus Syrien. In dem Land herrscht seit 2011 Bürgerkrieg. Der Herrscher Baschar al-Assad lässt seine Armee gegen die Rebellen kämpfen, die sich auch untereinander bekriegen, was die Lage umso schwieriger macht. Assad will aber auf keinen Fall seine Macht aufgeben. Über drei Millionen Menschen sind bisher aus Syrien geflohen. Ein großer Teil ist in Auffanglagern in den Nachbarstaaten, wie Jordanien oder Libanon, untergebracht.

Eritrea

Acht Prozent der Anträge auf Asyl sind von eritreischen Staatsbürgern. Eritrea ist eine Militärdiktatur, wo Menschenrechte nichts gelten. Folter ist üblich, regelmäßig werden Menschen ohne Gerichtsbeschluss hingerichtet. 400 000 Eritreer sind deswegen auf der Flucht. Viele Flüchtlinge versuchen, sich mit Booten über Lampedusa abzusetzen.

Afghanistan

Fünf Prozent der Anträge auf Asyl werden von afghanischen Bürgern gestellt. Der Krieg in Afghanistan ist beendet, doch es herrscht immer noch große Unruhe. Es ist eine lange Geschichte: Angefangen haben den Krieg die USA im Jahr 2001, um den Terrorismus und Al-Qaida zu bekämpfen. Die radikalen, streng muslimischen Taliban wurden gestürzt, aber die neue Regierung schafft es nicht, Frieden in das Land zu bringen. Soldaten aus über 40 verschiedenen Ländern sind im Einsatz, um dort für Frieden zu sorgen.

Irak

Viele Flüchtlinge kommen aus dem Irak, ein Land, das auch durch den Sturz des Diktators Saddam Hussein 2003 nicht zur Ruhe gekommen ist. Terroranschläge gehören zur Tagesordnung. Die international als Terroristen eingeschätzte Gruppe „Islamischer Staat“ (IS) hat in einigen Regionen die Macht blutig erzwungen. Im vergangenen Jahr wurden im Irak mehr als 10 000 Zivilisten getötet.

Balkan

Nach wie vor kommen viele Flüchtlinge aus den Balkanstaaten. Sie haben so gut wie keine Chance auf Asyl. So wurden im ersten Halbjahr 2015 nur 0,3 Prozent der Flüchtlinge aus dem Kosovo und Albanien sowie 0,1 Prozent der Serben und 0,3 Prozent der Mazedonier ein Schutzanspruch zuerkannt. Serbien, Mazedonien und jetzt auch Kosovo und Albanien gelten laut Gesetz als „sichere Herkunftsländer“.

Am Donnerstagmittag um 12 Uhr veröffentlichte der Landkreis eine Pressemitteilung, in der Landrat Michael Roesberg darüber informierte, dass in Stade eine Notunterkunft für Flüchtlinge geschaffen werden müsse. 450 Asylsuchende müssen nun innerhalb von sechs Tagen in den beiden Turnhallen der Berufsbildenden Schulen in der Glückstädter Straße untergebracht werden.

Bis Donnerstagnachmittag muss alles bereit sein. Eine große Aufgabe für die Hilfsorganisationen, die mit der Errichtung der Notunterkunft beauftragt wurden und seit Donnerstag unter Hochdruck arbeiten. Am Nachmittag gegen 16 Uhr lief die Einsatzplanung der Hilfsorganisationen des DRK, den Johannitern, den Maltersern und der DRLG an. Unter der Leitung von Ulrich Neumann und Frank Burfeindt wurden alle Vorgänge bis ins kleinste Detail besprochen, Gelände und Hallen wurden inspiziert. Um 18 Uhr begannen dann knapp 100 Helfer mit dem Aufbau der Feldbetten, der Essensausgabe und der weiteren Einrichtung. Beide Hallen sollen nach dem Aufbau jeweils für 250 Flüchtlinge gerüstet sein. Duschen sind genügend vorhanden, bei den Toiletten sieht es weniger gut aus. Deshalb hat der Landkreis zwei Toilettencontainer bestellt, die zusätzlich neben den Hallen aufgestellt werden.

Das Gelände rund um die Notunterkunft wurde mit einem durchgehenden Bauzaun eingezäunt, um den Hilfskräften einen besseren Einblick darüber zu geben, wer das Gelände verlässt und wer es betritt. In der alten Sporthalle, die direkt an der Glückstädter Straße liegt, sollen überwiegend männliche, alleinreisende Flüchtlinge untergebracht werden. In der hinteren Halle, die an den Sportplatz grenzt, sollen Familien und insbesondere Frauen und Kinder untergebracht werden. Da vor ihrer Ankunft am frühen Donnerstagabend so gut wie nichts über die Flüchtlinge bekannt ist, muss mit kulturellen und religiösen Unterschieden gerechnet werden. Hier können sich die Begebenheiten der Sporthallen auszahlen. Es besteht in beiden Hallen die Möglichkeit, Trennwände herunterzulassen und die Halle zu dritteln und so bestimmte Gruppen voneinander abtrennen zu können. Auf die Intimsphäre der Flüchtlinge soll – soweit möglich – Rücksicht genommen werden. Wie die Maßnahmen dafür in der Praxis aussehen, könne jedoch erst entschieden werden, wenn die Flüchtlinge vor Ort seien, so Einsatzleiter Frank Burfeindt.

Am Freitag voraussichtlich gegen 17 Uhr kommen die ersten 150 Flüchtlinge mit Bussen in Stade an. Bevor sie in die Notunterkunft kommen, werden die Asylsuchenden am Kreishaus am Sande in Empfang genommen und erstmalig in Deutschland registriert, da dies an den Grenzen aktuell kaum noch durchgeführt wird. Nach der Registrierung findet gesundheitliche Untersuchung statt. Vom Kreishaus werden die Flüchtlinge danach in Gruppen zu den Turnhallen gebracht. Dort angekommen werden die Flüchtlinge von den Einsatzkräften aufgenommen und für die Einordnung auf dem Gelände erneut registriert. Beide Hallen werden für den Sportunterricht und die Vereine gesperrt. Bis Mitte November sollen die Sporthallen nun erst einmal für die Notunterkunft geblockt bleiben. Viele Helfer hegten am Donnerstag bereits aufgrund von Erfahrungen aus anderen Notunterkünften Zweifel daran, ob diese Zeitspanne einzuhalten sei.

Spendenaufruf

Der DRK Kreisverband Stade hat auf seiner Facebook-Seite einen Spendenaufruf gestartet. Da viele Flüchtlinge oft mit wenig Kleidung nach Deutschland kommen, werden vor allem warme Kleidung, Winterjacken und Schuhe benötigt. Aber auch Kinderspielzeug und Kinderwagen werden benötigt. Die Annahmestelle des DRK (Am Hofacker 14, Tor 5, 21682 Stade) hat ab heute von 8 bis 16 Uhr geöffnet, auch am Sonnabend und Sonntag.

Bei Fragen kann im Servicecenter unter 0 41 41/ 8 03 30 angerufen werden.

https://www.facebook.com/drk.kreisverband.stade

 

 

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